Um 1900 gab es in Deutschland über 1500 Satirezeitschriften, fast alle eher Witzesammlungen im Stil der „Gartenlaube“ als ernsthaft satirische Publikationen. Im Gegensatz zu England, das eine lange Tradition der politischen Satire besaß, waren deutsche Blätter lieber staatshörig und mieden den
Konflikt mit der Zensur.
Der „Simplicissimus“ war ganz anders, von einigen unrühmlichen Perioden…mehrUm 1900 gab es in Deutschland über 1500 Satirezeitschriften, fast alle eher Witzesammlungen im Stil der „Gartenlaube“ als ernsthaft satirische Publikationen. Im Gegensatz zu England, das eine lange Tradition der politischen Satire besaß, waren deutsche Blätter lieber staatshörig und mieden den Konflikt mit der Zensur.
Der „Simplicissimus“ war ganz anders, von einigen unrühmlichen Perioden abgesehen. Der Verleger Albert Langen verpflichtete von der ersten Ausgabe an hochkarätige Künstler und Schriftsteller, die auch heute noch Rang und Namen haben, darunter Olaf Gulbransson, Käthe Kollwitz, Heinrich Zille, Ludwig Thoma, Thomas Mann, Erich Kästner, Hermann Hesse oder Kurt Tucholsky. Die Grafiker kamen zum Teil von der stilprägenden Zeitschrift „Jugend“ und auch in der Folgezeit orientierte man sich an modernen, wenn nicht gar avantgardistischen Strömungen. Auch inhaltlich wurden Maßstäbe gesetzt, mit ständigem Austesten der Langmut (oder Dummheit) der Zensur, bis hin zu Gefängnisaufenthalten für Verleger und Redakteure. Der Simplicissimus verspottete das dumpf-nationale Milieu des Militärs, den mit geistiger Einfalt garnierten Standesdünkel des Adels, die erratische Politik des „Parlaments“, die Großmannssucht Wilhelms II. und viele andere, in der wilhelminischen Zeit sakrosankte Themen.
Auch wenn für die Erstausgabe sensationelle 300 000 Exemplare gedruckt worden sein sollen, war der Simplicissimus kein Blitzerfolg und blieb über lange Strecken defizitär. Er wurde nur durch das erhebliche Privatvermögen Albert Langens am Leben gehalten. In der goldenen Phase, die von 1896 bis etwa 1910 dauerte, lagen die Verkäufe bei wenigen Tausend Exemplaren, was auch der Grund ist, warum diese Ausgaben antiquarisch hoch bezahlt werden.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Mit dem ubiquitären Antisemitismus der Zeit ging der Simplicissimus ambivalent um. Einerseits prangerte er ihn an, andererseits bediente er auch Stereotype. In der Zeit des Ersten Weltkriegs schlug die Redaktion voll in die nationalistische Kerbe und mit der Machtübernahme durch die Nazis wurde die politische Satire zu Gunsten harmloser Scherzchen eingestellt. 1944 war endgültig Schluss. Nicht die Zensur, sondern Papiermangel hatte dem Blatt den Rest gegeben.
Der Auswahlband zeigt in verkleinerter (aber gut lesbarer) Reproduktion satirische Illustrationen aus der Phase von 1896 bis 1933, darunter Ikonen der politischen Karikatur, ohne dabei die Fehltritte zu verheimlichen. Die Herausgeber haben eine nach Themen sortierte Selektion vorgenommen, die nicht nur den Humor der wilhelminischen Zeit einfängt, sondern wirkliche Zeitgeschichte reflektiert. Es wird das gesellschaftliche Klima genauso erkennbar wie die oft irrwitzigen politischen Entwicklungen, die manchmal an unsere Gegenwart erinnern. Die Herausgeber erläutern die jeweiligen Hintergründe, wobei ihr launiger Humor nicht immer den richtigen Ton trifft. Allzu oft wird allzu Offensichtliches noch einmal mit erhobenem Bildungsbürgerfinger ins Hirn des Lesers gedroschen. Ich glaube, da unterschätzen die beiden Herren ihr Publikum ein wenig.
Insgesamt hat mir die Auswahl ausgesprochen gut gefallen. Sie liefert zwischen den Zeilen ungeheuer viel Information zum politischen und geschichtlichen Hintergrund, sowie dem Zustand der Gesellschaft, deren Ansichten und dem, was die Menschen verschiedener Schichten damals umtrieb. Der Humor hat sich selbstverständlich gewandelt, aber man kann sich dennoch gut einfühlen in eine engstirnige, nationalistische und von Standesdünkel geradezu durchsetzte Gesellschaft, die besinnungslos in ihr Unglück taumelt. Der Simplicissimus hat das nicht aufhalten können, auch wenn er über lange Strecken den Parlamentarismus hochhielt. Satire darf, nach Tucholsky, zwar alles, aber leider bewirkt sie letztlich wenig.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)