"Single" ist ein wissenschaftlich und alltäglich häufig verwendeter Begriff, obwohl er höchst unklar definiert wird. Die Arbeit zeigt zunächst unterschiedliche Annäherungen an diesen Begriff auf und hält eine kurze historische Rückschau zu Alleinlebenden und Unverheirateten, um anschließend eine Definition von "Singles als Selbstdeutung" zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu nehmen. In sechs biographischen Typen von Singles und einem Kontrastfall werden die jeweiligen Entwicklungen hin zu einer Identität als Single detailgenau rekonstruiert. Methodisch bedient sich diese Arbeit einer sequenzanalytischen Vorgangsweise zur Fallrekonstruktion; theoretisch ist die Arbeit zwischen Lebenslauf- und Individualisierungstheorien angesiedelt, und geht der Frage nach, inwieweit die Lebensform Single als Zeugnis für das Brüchigwerden der Institution Lebenslauf gewertet werden kann. "(...) Dem Leser bietet sich eine neue, ungewohnte Annäherung an diese schon alltägliche Thematik. Die meist sehr persönlichen Lebensschilderungen der Interviewpartner regen zum Mitfühlen und Mitdenken an." beziehungsweise, 10/11-98
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1998Die gesellige Masse
Allein unter Singles: Jutta Kern bekämpft das Lebenslaufregime
Single werden ist nicht schwer. Das war nicht immer so. Während heute in einzelnen Großstädten die Zahl der Alleinlebenden die der Verheirateten bereits eingeholt hat, war die Entscheidung fürs Single-Dasein noch zwei Generationen zuvor eine seltene Ausnahme. Frauen hatten mehrheitlich keine Berufsausbildung, für Männer stand noch nicht an jeder Ecke ein Waschsalon parat, den sie freilich auch kaum zu benutzen verstanden hätten. Alleinlebende waren in außerstädtischen Milieus stigmatisiert, Junggesellen, wie der Name sagt, vorübergehende Angehörige einer durch die Arbeitswelt vorgeprägten Lebensphase, nach deren Abschluß die Frauen in ihnen den Meister fanden.
Wie hoch der Anteil der Singles heute tatsächlich ist, ist eine Definitionsfrage. Die Entgegensetzung zum Verheirateten ist unscharf, da dabei Singles im engeren Sinne nicht von den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder eines "LAT" (= living apart together, dauerhafte Lebensbeziehung ohne gemeinsamen Haushalt) unterschieden werden. Die Wiener Soziologin Jutta Kern löst dieses Problem, indem sie in ihrer Studie die Selbstdeutung der Betroffenen zum entscheidenden Kriterium macht: Man ist immer so allein, wie man sich fühlt.
Kern hat sechs österreichische Singles zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte befragt und rekonstruiert mittels "objektiver Hermeneutik" aus diesem Interviewmaterial Grundtypen biographischer Deutungsmuster. Kerns Fragestellung zielt auf den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Single-Existenz und der von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim vertretenen Individualisierungsthese, die eine zunehmende gesellschaftliche Tendenz zur Freisetzung aus vorgegebenen Lebensmustern, Sozialformen und Geschlechterrollen diagnostiziert. Die von der Arbeitswelt gefordete Flexibilisierung unterhöhle die herkömmliche Familie, wie man an den steigenden Scheidungszahlen ablesen könne. Der vollmobile und rund um die Uhr verfügbare Single erscheint in dieser Sicht als Agent eines unaufhaltsamen Modernisierungsprozesses, an dessen Ende die totale Arbeitsmarktgesellschaft aus nomadisierenden Alleinlebenden stünde.
Nun hat Individualisierung aber immer zwei Seiten: Auch die bewußte Entscheidung für eine Partnerschaft kann Ausbruch aus "selbstverständlichen" Lebensmustern sein. Für die Generation der Achtundsechziger bedeutete Individualisierung ohnehin erst einmal kompensatorische Gemeinschaftsbildung. Eine Antithese zur Ehe war auch die Kommune. Kerns Fallbeispiele zeigen, daß viele Wege ins Single-Dasein führen können, von denen keineswegs alle parallel zum Highway der Modernisierung verlaufen. Der frühe Tod eines Partners kann ebenso Grund für die Absage an eine feste Bindung sein wie das Trauma einer gescheiterten Beziehung. Dabei ist der erzwungene oder freiwillige Verzicht auf eine dauerhafte Paarbeziehung nicht selten mit einer Rückkehr in die Nähe des Elternhauses verbunden und führt so gerade zu einer Revitalisierung traditionaler Bindungen.
Niklas Luhmann hat in seiner Studie "Liebe als Passion" den Code der romantischen Liebe durch einen hohen Grad an "zwischenmenschlicher Interpenetration" gekennzeichnet, wie der systemtheoretische Kraftausdruck für den Gleichklang zweier Seelen lautet. Daß Singles per definitionem eine solche Beziehung nicht leben, macht sie aber nicht notwendig zu Propagandisten "offener" Beziehungen oder zu nachtschwärmenden Liebesabenteurern. Wer allerdings am "romantischen" Liebesideal mit seinem Exklusivitäts- und Ewigkeitsanspruch festhält und zugleich jeden Versuch seiner Realisierung als Scheitern erfährt, der muß schon aus Gründen des Selbstschutzes auf jegliche Intimbeziehung verzichten. Alleinleben ist dann vor allem Risikominimierung.
Andere wiederum leben in Beziehungsformen "paralleler Monogamie" oder "segmentierter Vergemeinschaftung", in denen unterschiedliche Bedürfnisse mit verschiedenen Partnern befriedigt werden, der Urlaubsbegleiter nicht zugleich Bettgenosse, der Tanzpartner kein Seelentröster ist. Hier trifft die Rede von der Individualisierung wohl tatsächlich ins Schwarze. Jedoch kann Kern mit ihrer qualitativen Methode nichts über die Häufigkeit verschiedener Single-Typen aussagen. Dies erst würde wirklich ermöglichen, die Relevanz von Individualisierungsmodellen zu gewichten.
Beim Verfolgen der ausführlich dokumentierten Fallbeispiele entsteht der merkwürdige Effekt, daß sich das Gefälle zwischen Interviewäußerung und Kommentar mit fortschreitender Lektüre umkehrt. Wenn man anfangs den konfusen und dialektal gefärbten Lebenserzählungen kaum folgen kann und für die begrifflich klare Metasprache der Interpretin dankbar ist, wird man mit der Zeit immer mißtrauischer gegenüber der begrifflichen Vereindeutigung von biographisch-kausaler Ambivalenz. Wo Kern "die Umsetzungskomponente dieser Veränderungsperspektive" vermißt oder die "Abkopplung einzelner Lebensbahnen" zu beobachten meint, scheint sie die zuvor perhorreszierte "Diktatur des Lebenslaufes" gerade wiederzuerrichten.
In der wissenschaftlichen Interpretation bleibt kein Raum für Irrationales oder Zufälliges, die beobachtete Kontinuität der Lebensgeschichte wird per Selektion und Gewichtung von "Faktoren" und "Einflüssen" allererst hergestellt. Jutta Kerns gründliche Arbeit zeugt jedenfalls auch hier von der Widerständigkeit des Individuellen gegen Generalisierungen und beweist, daß der biographiebastelnde homo faber nicht über einen soziologischen Leisten zu schlagen ist, mag dieser auch die verführerische Bezeichnung "Individualisierung" tragen. RICHARD KÄMMERLINGS
Jutta Kern: "Singles". Biographische Konstruktionen abseits der Intim-Dyade. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998. 280 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Allein unter Singles: Jutta Kern bekämpft das Lebenslaufregime
Single werden ist nicht schwer. Das war nicht immer so. Während heute in einzelnen Großstädten die Zahl der Alleinlebenden die der Verheirateten bereits eingeholt hat, war die Entscheidung fürs Single-Dasein noch zwei Generationen zuvor eine seltene Ausnahme. Frauen hatten mehrheitlich keine Berufsausbildung, für Männer stand noch nicht an jeder Ecke ein Waschsalon parat, den sie freilich auch kaum zu benutzen verstanden hätten. Alleinlebende waren in außerstädtischen Milieus stigmatisiert, Junggesellen, wie der Name sagt, vorübergehende Angehörige einer durch die Arbeitswelt vorgeprägten Lebensphase, nach deren Abschluß die Frauen in ihnen den Meister fanden.
Wie hoch der Anteil der Singles heute tatsächlich ist, ist eine Definitionsfrage. Die Entgegensetzung zum Verheirateten ist unscharf, da dabei Singles im engeren Sinne nicht von den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder eines "LAT" (= living apart together, dauerhafte Lebensbeziehung ohne gemeinsamen Haushalt) unterschieden werden. Die Wiener Soziologin Jutta Kern löst dieses Problem, indem sie in ihrer Studie die Selbstdeutung der Betroffenen zum entscheidenden Kriterium macht: Man ist immer so allein, wie man sich fühlt.
Kern hat sechs österreichische Singles zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte befragt und rekonstruiert mittels "objektiver Hermeneutik" aus diesem Interviewmaterial Grundtypen biographischer Deutungsmuster. Kerns Fragestellung zielt auf den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Single-Existenz und der von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim vertretenen Individualisierungsthese, die eine zunehmende gesellschaftliche Tendenz zur Freisetzung aus vorgegebenen Lebensmustern, Sozialformen und Geschlechterrollen diagnostiziert. Die von der Arbeitswelt gefordete Flexibilisierung unterhöhle die herkömmliche Familie, wie man an den steigenden Scheidungszahlen ablesen könne. Der vollmobile und rund um die Uhr verfügbare Single erscheint in dieser Sicht als Agent eines unaufhaltsamen Modernisierungsprozesses, an dessen Ende die totale Arbeitsmarktgesellschaft aus nomadisierenden Alleinlebenden stünde.
Nun hat Individualisierung aber immer zwei Seiten: Auch die bewußte Entscheidung für eine Partnerschaft kann Ausbruch aus "selbstverständlichen" Lebensmustern sein. Für die Generation der Achtundsechziger bedeutete Individualisierung ohnehin erst einmal kompensatorische Gemeinschaftsbildung. Eine Antithese zur Ehe war auch die Kommune. Kerns Fallbeispiele zeigen, daß viele Wege ins Single-Dasein führen können, von denen keineswegs alle parallel zum Highway der Modernisierung verlaufen. Der frühe Tod eines Partners kann ebenso Grund für die Absage an eine feste Bindung sein wie das Trauma einer gescheiterten Beziehung. Dabei ist der erzwungene oder freiwillige Verzicht auf eine dauerhafte Paarbeziehung nicht selten mit einer Rückkehr in die Nähe des Elternhauses verbunden und führt so gerade zu einer Revitalisierung traditionaler Bindungen.
Niklas Luhmann hat in seiner Studie "Liebe als Passion" den Code der romantischen Liebe durch einen hohen Grad an "zwischenmenschlicher Interpenetration" gekennzeichnet, wie der systemtheoretische Kraftausdruck für den Gleichklang zweier Seelen lautet. Daß Singles per definitionem eine solche Beziehung nicht leben, macht sie aber nicht notwendig zu Propagandisten "offener" Beziehungen oder zu nachtschwärmenden Liebesabenteurern. Wer allerdings am "romantischen" Liebesideal mit seinem Exklusivitäts- und Ewigkeitsanspruch festhält und zugleich jeden Versuch seiner Realisierung als Scheitern erfährt, der muß schon aus Gründen des Selbstschutzes auf jegliche Intimbeziehung verzichten. Alleinleben ist dann vor allem Risikominimierung.
Andere wiederum leben in Beziehungsformen "paralleler Monogamie" oder "segmentierter Vergemeinschaftung", in denen unterschiedliche Bedürfnisse mit verschiedenen Partnern befriedigt werden, der Urlaubsbegleiter nicht zugleich Bettgenosse, der Tanzpartner kein Seelentröster ist. Hier trifft die Rede von der Individualisierung wohl tatsächlich ins Schwarze. Jedoch kann Kern mit ihrer qualitativen Methode nichts über die Häufigkeit verschiedener Single-Typen aussagen. Dies erst würde wirklich ermöglichen, die Relevanz von Individualisierungsmodellen zu gewichten.
Beim Verfolgen der ausführlich dokumentierten Fallbeispiele entsteht der merkwürdige Effekt, daß sich das Gefälle zwischen Interviewäußerung und Kommentar mit fortschreitender Lektüre umkehrt. Wenn man anfangs den konfusen und dialektal gefärbten Lebenserzählungen kaum folgen kann und für die begrifflich klare Metasprache der Interpretin dankbar ist, wird man mit der Zeit immer mißtrauischer gegenüber der begrifflichen Vereindeutigung von biographisch-kausaler Ambivalenz. Wo Kern "die Umsetzungskomponente dieser Veränderungsperspektive" vermißt oder die "Abkopplung einzelner Lebensbahnen" zu beobachten meint, scheint sie die zuvor perhorreszierte "Diktatur des Lebenslaufes" gerade wiederzuerrichten.
In der wissenschaftlichen Interpretation bleibt kein Raum für Irrationales oder Zufälliges, die beobachtete Kontinuität der Lebensgeschichte wird per Selektion und Gewichtung von "Faktoren" und "Einflüssen" allererst hergestellt. Jutta Kerns gründliche Arbeit zeugt jedenfalls auch hier von der Widerständigkeit des Individuellen gegen Generalisierungen und beweist, daß der biographiebastelnde homo faber nicht über einen soziologischen Leisten zu schlagen ist, mag dieser auch die verführerische Bezeichnung "Individualisierung" tragen. RICHARD KÄMMERLINGS
Jutta Kern: "Singles". Biographische Konstruktionen abseits der Intim-Dyade. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998. 280 S., br., 58,- DM.
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"Jutta Kerns Untersuchung ist umsichtig, gedanklich klar, differenziert, dennoch sehr einfühlsam. ... Eine ertragreiche und sogar fesselnde, freilich anspruchsvolle Lektüre." (Dialog - Informationen zu Ehe und Familie 2/99)