Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: »Sinkende Sterne« ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst.
Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers.
Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.
Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers.
Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2023Im Vaterland des Schreibens
Thomas Hettches neuer Roman
"Sinkende Sterne" ist Selbstauskunft und
Kartographierung des ureigenen Terrains.
Wer das Werk Thomas Hettches durchpflügt, der stößt dort immer wieder auf Refugien. Schon in Hettches Debüt "Ludwig muss sterben" (1989) erzählte ein Mensch in der Wohnung seines Bruders die Geschichte von dessen vergeblicher Flucht vor dem Tod nach Italien - ein hundertachtzigseitiger Sturz ins Nichts, der aber nur Roman werden konnte, weil er eingehegt war ins Museale eines zurückgelassenen Apartments. "Nox" (1995) - der bis heute vielleicht drastischste Text aus Hettches Feder - ließ dann seinen Erzähler bereits auf der dritten Seite und aus dem Jenseits den Weg seiner Mörderin durch das Berlin in der Wiedervereinigungsnacht rapportieren.
Dass Literatur und Leben nicht nur an den Landschaften hängen, die sie passieren, sondern dass man dem, was geschieht, einen unverrückbaren Ort schaffen muss, an dem es überhaupt denkbar und sagbar werden kann: Das ist ein Kerngedanke dieses Werks, das durch den Gegensatz von historischer wie sozialer Erosion und Statik beherrscht wird. In "Der Fall Arbogast" lag der blinde Fleck, von dem aus die Nachkriegs-BRD neu bespiegelt wurde, in der Zelle des Hans Arbogast, in "Pfaueninsel" (2014) brach sich das Preußentum im von Schinkel erbauten Palmenhaus, "Herzfaden" (2020) wiederum fand seinen Ankerpunkt im klassischsten aller Refugien, nämlich auf dem Dachboden.
Nun also ein neuer Ort: ein Chalet bei Leuk, ehemals im Besitz der Eltern Thomas Hettches, nun verwaist und heimgesucht vom Sohn, der - als Erbe und formell neuer Besitzer der Parzelle - vom Kastellan von Leuk schriftlich aufgeboten wurde. Mit der Rückkehr in das aus der Kindheit noch vertraute Haus beginnt "Sinkende Sterne", Hettches jüngster Roman, und ob sein Erzähler dieses Haus jemals verlassen hat: Wer will es entscheiden? Vorerst erfährt man von einigen Umwälzungen, die das Oberwallis ergriffen haben, vor allen Dingen ein Bergsturz, in dessen Folge sich die Rhone aufgestaut und das Tal überschwemmt hat.
Das trägt natürlich Züge von climate fiction, aber Hettche war immer dafür bekannt, Genres nicht zu bedienen, sondern sie für sich zu nutzen. So auch hier: Man ahnt zwar, was die Katastrophe verursacht haben könnte - zu warme Winter, zu viel Regen, herunterbrechendes Kalkgestein -, aber womöglich liegen die Gründe doch tiefer. Immerhin hat der Bergsturz "auch unsichtbare Veränderungen ausgelöst und mit ihr sei etwas ins Rutschen gekommen, das die Gesellschaft selbst verwandelt habe". Womöglich war der soziale Kollaps weniger das Resultat des ökologischen als vielmehr dessen Ursache.
So findet der in die Fremde Heimgekehrte sich nun in einer zu allem Überfluss auch schlecht beheizten Welt wieder, in der die Uhren rückwärtszulaufen begonnen haben. Nicht allein nimmt die Gemeinschaft der verbliebenen Bergbewohner die Überflutung zum Anlass, alle Verbindungen ins Tal zu kappen und sich zu refeudalisieren. Der politisch-historischen Archaik entspricht auch eine erzählerische: Die Gebirgslandschaft wird wieder zur mythischen Sphäre, Tod und Leben vermischen sich, Gespenster zeigen sich, "arme Seelen", im Notariat, auf dem Berggrat, überall. Die Risse im Gestein reichen tiefer.
Wer in solch eine Landschaft gerufen wird, der wird geprüft. So, wie er daherkommt, weist sie ihn ab: Kein Recht scheint der Erzähler an ihr zu besitzen. Die Kindheitserinnerungen, die er mit ihr verbindet, werden ihm abgesprochen, denn der Kastlan von Leuk hat ihn nur herbestellt, um ihn über seine bevorstehende Enteignung zu informieren. Was wäre dem noch entgegenzusetzen? Das ist die Frage, auf die dieser Text Antworten sucht.
"Sinkende Sterne" ist, wie so mancher seiner Vorgänger, ein poetologischer Roman, der Figuren und Handlungen zum Anlass nimmt, Grundfragen von Hettches Schreiben und der eigenen Werkgeschichte zu reflektieren. So erscheint das Wallis mitsamt seinen alten und neuen Herrschern nicht zuletzt auch als ein allegorisches Reich, in dem der restriktiv-bürokratischen Gestalt des Kastlans (ein ehemaliger Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei, versteht sich) die "Bischöfin" gegenübersteht, ein schwarzer Hermaphrodit mit FFP2-Maske und Haupt einer Kirche, die von der Kunst Beistand bei der Aufgabe erwartet, den Menschen zu bessern.
In der Konkretion wirkt die Szenerie - in Verbindung mit dem Umstand, dass der Erzähler seinen universitären Lehrauftrag infolge eines Mangels an "political correctness" verloren haben will - überzeichnet; ärgerlich ist das freilich vor allem, weil sie die kluge Selbstbefragung zu überdecken droht. Die Überzeugung, dass die Kunst niemandem zu dienen habe, ist nämlich leichter dahergesagt als argumentiert, schon gar nicht von einer Erzählinstanz, deren Name 2005 noch unter einem Manifest des "Relevanten Realismus" zu finden war, in dem vom Gegenwartsroman gefordert wurde, "die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache zu machen".
Es genügt deshalb nicht, Judith-Butler-Phrasen mit Nietzsche zu plätten oder der theoriegewandten Bischöfin ihren "Saint Foucault" zu entheiligen. Der Einspruch gegen die Vereinnahmung der Literatur muss vielmehr in der Literatur selbst gefunden werden. Denn tatsächlich spricht ja einiges für die trügerische Allianz zwischen identitärem und poetischem Engagement, nämlich eben die "Poiesis", die stets in Fertigung begriffene Welt. Man beginnt neu zu lesen, Homer, 1001 Nacht, und stößt dabei auf die eigentümliche Koinzidenz von okzidentaler und orientaler Vorstellungskraft. Odysseus wie Sindbad: Beide verwandeln sich im Angesicht der Gefahr in einen "Niemand", beide entidentifizieren sich, um zu überleben.
Gerade hierin aber erkennt der Erzähler das der Literatur eigene Privileg: "die List, Niemand zu sein". "Niemand zu sein", das bedeutet eben gerade nicht, "alles" oder überhaupt "etwas" sein oder werden zu können. "Niemand zu sein", das bedeutet - und hier kommt man dem Titel des Romans überhaupt erst näher - sich selbst zu verlieren.
Schreiben, das ist ein langsames Versinken, ist Zerfall. Mögen andere ein literarisches Leben für den Triumph der Konstruktionscharaktere halten, so erscheint es bei Hettche als Schwäche, als "fragiles System", dem die Taumelbewegungen der Natur einen sichtbaren Ausdruck verleihen. In diesem allmählichen Schwinden der Kräfte etwas anderes erkennen zu wollen als das Schreckliche, das es eben ist, ihm gar mit Moral zu begegnen, das wäre falsch. Wer sinkt, der sinkt und verdient dafür weder Bewunderung noch Mitleid.
Wenn Männer tatsächlich "sinkende Sterne" sind, wie Isabelle Huppert gesagt haben soll, dann befähigt sie ihr Sinken gerade nicht dazu, etwas anderes oder überhaupt: anders sein zu können. Und so bleibt auch der Mann, der diesen Roman durchlebt, wie beim Schreiben jedes seiner vorherigen Romane hilflos, schambehaftet, gefangen im Strudel von "Gewalt, Sehnsucht und Schuld". Was bleibt, ist die Verzeichnung der Widersprüche, die sich nicht wieder zu Identitäten fügen können. Und ein kluger Satz: Das Gemachte ist nicht das Wahre.
Man kann sich bisweilen in diesen Reflexionssträngen verlieren, denn sie sollen sich ja auch nicht schließen. Irgendwann wehen sie einen dann wieder zurück in die Landschaft und zu jenem Dichter, der sie bewohnt hat und in ihr begraben ist: zu Rilke. Auch dieser ein Sindbad-Leser, auch dieser ein einzig der Kunst Verschriebener, der denjenigen, die er enttäuscht und verletzt, keine andere Medizin weiß als die schöpferische Existenz. Die Lehre der sinkenden Sterne mäandert so durch die Generationen und Künste; aus dem Sohn von Rilkes verstoßener Gefährtin Elisabeth Dorothea Spiro wird der Maler Balthus, den man wiederum am Ende des Romans im Zwiegespräch mit David Bowie wiederfindet.
Man hat dieses Gespräch schon einmal gelesen, nämlich bei Hettche selbst, in einem kurzen, "Mitsou" betitelten Text aus dem Jahr 1994 - und so entpuppt sich die Leuker Phantasmagorie letztlich als ein Kreisen in der eigenen Schrift, ein Irren durch alte blaue Schreibhefte, inmitten derer der Erzähler sich schließlich wiederfindet. Was Erleben und was literarische Erfindung war, das verschwimmt ihm im Rausch des Opioids, das er der Hinterlassenschaft der väterlichen Apotheke entnommen hat - und das auf den tiefsten Grund dieses Buches weist.
Aller Abstraktion und Abschweifung zum Trotz nämlich breitet sich Hettches erzählendes Delirium nicht über irgendeiner "Lücke in der Schöpfung" aus, sondern über einer ganz bestimmten: über dem Tod des Vaters. Geschrieben, halluziniert, analysiert wird hier auf Schmerzmittelbasis; der Schmerz aber gründet in der Erkenntnis, dass der Welt, die dieser Roman bewohnt, etwas abhandengekommen ist. Spuren finden sich noch: altes Werkzeug, Medikamente, Buchstaben. Die unerträgliche Beobachtung, dass die Arve ein Anagramm sein könnte, wenn ihr nicht das "T" fehlen würde, das man selbst im eigenen Namen mit herumschleppt. Das Haus, der Denkraum, aus dem man verwiesen ist und den man dennoch weiter bewohnen möchte. Kein Zweifel: "Sinkende Sterne" kartiert das Vaterland. Vor allem anderen ist es ein Buch großer Trauer. Selten las sich Thomas Hettches Prosa so zerbrechlich, so verletzt. PHILIPP THEISOHN
Thomas Hettche: "Sinkende Sterne". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 224 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Hettches neuer Roman
"Sinkende Sterne" ist Selbstauskunft und
Kartographierung des ureigenen Terrains.
Wer das Werk Thomas Hettches durchpflügt, der stößt dort immer wieder auf Refugien. Schon in Hettches Debüt "Ludwig muss sterben" (1989) erzählte ein Mensch in der Wohnung seines Bruders die Geschichte von dessen vergeblicher Flucht vor dem Tod nach Italien - ein hundertachtzigseitiger Sturz ins Nichts, der aber nur Roman werden konnte, weil er eingehegt war ins Museale eines zurückgelassenen Apartments. "Nox" (1995) - der bis heute vielleicht drastischste Text aus Hettches Feder - ließ dann seinen Erzähler bereits auf der dritten Seite und aus dem Jenseits den Weg seiner Mörderin durch das Berlin in der Wiedervereinigungsnacht rapportieren.
Dass Literatur und Leben nicht nur an den Landschaften hängen, die sie passieren, sondern dass man dem, was geschieht, einen unverrückbaren Ort schaffen muss, an dem es überhaupt denkbar und sagbar werden kann: Das ist ein Kerngedanke dieses Werks, das durch den Gegensatz von historischer wie sozialer Erosion und Statik beherrscht wird. In "Der Fall Arbogast" lag der blinde Fleck, von dem aus die Nachkriegs-BRD neu bespiegelt wurde, in der Zelle des Hans Arbogast, in "Pfaueninsel" (2014) brach sich das Preußentum im von Schinkel erbauten Palmenhaus, "Herzfaden" (2020) wiederum fand seinen Ankerpunkt im klassischsten aller Refugien, nämlich auf dem Dachboden.
Nun also ein neuer Ort: ein Chalet bei Leuk, ehemals im Besitz der Eltern Thomas Hettches, nun verwaist und heimgesucht vom Sohn, der - als Erbe und formell neuer Besitzer der Parzelle - vom Kastellan von Leuk schriftlich aufgeboten wurde. Mit der Rückkehr in das aus der Kindheit noch vertraute Haus beginnt "Sinkende Sterne", Hettches jüngster Roman, und ob sein Erzähler dieses Haus jemals verlassen hat: Wer will es entscheiden? Vorerst erfährt man von einigen Umwälzungen, die das Oberwallis ergriffen haben, vor allen Dingen ein Bergsturz, in dessen Folge sich die Rhone aufgestaut und das Tal überschwemmt hat.
Das trägt natürlich Züge von climate fiction, aber Hettche war immer dafür bekannt, Genres nicht zu bedienen, sondern sie für sich zu nutzen. So auch hier: Man ahnt zwar, was die Katastrophe verursacht haben könnte - zu warme Winter, zu viel Regen, herunterbrechendes Kalkgestein -, aber womöglich liegen die Gründe doch tiefer. Immerhin hat der Bergsturz "auch unsichtbare Veränderungen ausgelöst und mit ihr sei etwas ins Rutschen gekommen, das die Gesellschaft selbst verwandelt habe". Womöglich war der soziale Kollaps weniger das Resultat des ökologischen als vielmehr dessen Ursache.
So findet der in die Fremde Heimgekehrte sich nun in einer zu allem Überfluss auch schlecht beheizten Welt wieder, in der die Uhren rückwärtszulaufen begonnen haben. Nicht allein nimmt die Gemeinschaft der verbliebenen Bergbewohner die Überflutung zum Anlass, alle Verbindungen ins Tal zu kappen und sich zu refeudalisieren. Der politisch-historischen Archaik entspricht auch eine erzählerische: Die Gebirgslandschaft wird wieder zur mythischen Sphäre, Tod und Leben vermischen sich, Gespenster zeigen sich, "arme Seelen", im Notariat, auf dem Berggrat, überall. Die Risse im Gestein reichen tiefer.
Wer in solch eine Landschaft gerufen wird, der wird geprüft. So, wie er daherkommt, weist sie ihn ab: Kein Recht scheint der Erzähler an ihr zu besitzen. Die Kindheitserinnerungen, die er mit ihr verbindet, werden ihm abgesprochen, denn der Kastlan von Leuk hat ihn nur herbestellt, um ihn über seine bevorstehende Enteignung zu informieren. Was wäre dem noch entgegenzusetzen? Das ist die Frage, auf die dieser Text Antworten sucht.
"Sinkende Sterne" ist, wie so mancher seiner Vorgänger, ein poetologischer Roman, der Figuren und Handlungen zum Anlass nimmt, Grundfragen von Hettches Schreiben und der eigenen Werkgeschichte zu reflektieren. So erscheint das Wallis mitsamt seinen alten und neuen Herrschern nicht zuletzt auch als ein allegorisches Reich, in dem der restriktiv-bürokratischen Gestalt des Kastlans (ein ehemaliger Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei, versteht sich) die "Bischöfin" gegenübersteht, ein schwarzer Hermaphrodit mit FFP2-Maske und Haupt einer Kirche, die von der Kunst Beistand bei der Aufgabe erwartet, den Menschen zu bessern.
In der Konkretion wirkt die Szenerie - in Verbindung mit dem Umstand, dass der Erzähler seinen universitären Lehrauftrag infolge eines Mangels an "political correctness" verloren haben will - überzeichnet; ärgerlich ist das freilich vor allem, weil sie die kluge Selbstbefragung zu überdecken droht. Die Überzeugung, dass die Kunst niemandem zu dienen habe, ist nämlich leichter dahergesagt als argumentiert, schon gar nicht von einer Erzählinstanz, deren Name 2005 noch unter einem Manifest des "Relevanten Realismus" zu finden war, in dem vom Gegenwartsroman gefordert wurde, "die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache zu machen".
Es genügt deshalb nicht, Judith-Butler-Phrasen mit Nietzsche zu plätten oder der theoriegewandten Bischöfin ihren "Saint Foucault" zu entheiligen. Der Einspruch gegen die Vereinnahmung der Literatur muss vielmehr in der Literatur selbst gefunden werden. Denn tatsächlich spricht ja einiges für die trügerische Allianz zwischen identitärem und poetischem Engagement, nämlich eben die "Poiesis", die stets in Fertigung begriffene Welt. Man beginnt neu zu lesen, Homer, 1001 Nacht, und stößt dabei auf die eigentümliche Koinzidenz von okzidentaler und orientaler Vorstellungskraft. Odysseus wie Sindbad: Beide verwandeln sich im Angesicht der Gefahr in einen "Niemand", beide entidentifizieren sich, um zu überleben.
Gerade hierin aber erkennt der Erzähler das der Literatur eigene Privileg: "die List, Niemand zu sein". "Niemand zu sein", das bedeutet eben gerade nicht, "alles" oder überhaupt "etwas" sein oder werden zu können. "Niemand zu sein", das bedeutet - und hier kommt man dem Titel des Romans überhaupt erst näher - sich selbst zu verlieren.
Schreiben, das ist ein langsames Versinken, ist Zerfall. Mögen andere ein literarisches Leben für den Triumph der Konstruktionscharaktere halten, so erscheint es bei Hettche als Schwäche, als "fragiles System", dem die Taumelbewegungen der Natur einen sichtbaren Ausdruck verleihen. In diesem allmählichen Schwinden der Kräfte etwas anderes erkennen zu wollen als das Schreckliche, das es eben ist, ihm gar mit Moral zu begegnen, das wäre falsch. Wer sinkt, der sinkt und verdient dafür weder Bewunderung noch Mitleid.
Wenn Männer tatsächlich "sinkende Sterne" sind, wie Isabelle Huppert gesagt haben soll, dann befähigt sie ihr Sinken gerade nicht dazu, etwas anderes oder überhaupt: anders sein zu können. Und so bleibt auch der Mann, der diesen Roman durchlebt, wie beim Schreiben jedes seiner vorherigen Romane hilflos, schambehaftet, gefangen im Strudel von "Gewalt, Sehnsucht und Schuld". Was bleibt, ist die Verzeichnung der Widersprüche, die sich nicht wieder zu Identitäten fügen können. Und ein kluger Satz: Das Gemachte ist nicht das Wahre.
Man kann sich bisweilen in diesen Reflexionssträngen verlieren, denn sie sollen sich ja auch nicht schließen. Irgendwann wehen sie einen dann wieder zurück in die Landschaft und zu jenem Dichter, der sie bewohnt hat und in ihr begraben ist: zu Rilke. Auch dieser ein Sindbad-Leser, auch dieser ein einzig der Kunst Verschriebener, der denjenigen, die er enttäuscht und verletzt, keine andere Medizin weiß als die schöpferische Existenz. Die Lehre der sinkenden Sterne mäandert so durch die Generationen und Künste; aus dem Sohn von Rilkes verstoßener Gefährtin Elisabeth Dorothea Spiro wird der Maler Balthus, den man wiederum am Ende des Romans im Zwiegespräch mit David Bowie wiederfindet.
Man hat dieses Gespräch schon einmal gelesen, nämlich bei Hettche selbst, in einem kurzen, "Mitsou" betitelten Text aus dem Jahr 1994 - und so entpuppt sich die Leuker Phantasmagorie letztlich als ein Kreisen in der eigenen Schrift, ein Irren durch alte blaue Schreibhefte, inmitten derer der Erzähler sich schließlich wiederfindet. Was Erleben und was literarische Erfindung war, das verschwimmt ihm im Rausch des Opioids, das er der Hinterlassenschaft der väterlichen Apotheke entnommen hat - und das auf den tiefsten Grund dieses Buches weist.
Aller Abstraktion und Abschweifung zum Trotz nämlich breitet sich Hettches erzählendes Delirium nicht über irgendeiner "Lücke in der Schöpfung" aus, sondern über einer ganz bestimmten: über dem Tod des Vaters. Geschrieben, halluziniert, analysiert wird hier auf Schmerzmittelbasis; der Schmerz aber gründet in der Erkenntnis, dass der Welt, die dieser Roman bewohnt, etwas abhandengekommen ist. Spuren finden sich noch: altes Werkzeug, Medikamente, Buchstaben. Die unerträgliche Beobachtung, dass die Arve ein Anagramm sein könnte, wenn ihr nicht das "T" fehlen würde, das man selbst im eigenen Namen mit herumschleppt. Das Haus, der Denkraum, aus dem man verwiesen ist und den man dennoch weiter bewohnen möchte. Kein Zweifel: "Sinkende Sterne" kartiert das Vaterland. Vor allem anderen ist es ein Buch großer Trauer. Selten las sich Thomas Hettches Prosa so zerbrechlich, so verletzt. PHILIPP THEISOHN
Thomas Hettche: "Sinkende Sterne". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 224 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Ein Bergsturz hat im Wallis die Rhone aufgestaut und etliche Täler geflutet. Die Menschen, die überlebt haben, nutzen die Gelegenheit, sich ganz abzuschotten von anderen, vorzugsweise französischsprachigen Wallisern. Dies ist die Ausgangslage von Thomas Hettches Roman "Sinkende Sterne", erzählt Rezensentin Angela Gutzeit. Der Ich-Erzähler, der nach dem Ferienhaus seiner Eltern sehen will, aber auch die Entlassung von seinem Uni-Job verdauen muss, wird von misstrauischen Soldaten empfangen. Seine Entlassung verdankt er seiner Weigerung, Gender- und Identitätsdiskurse in seinen Vorlesungen so zu berücksichtigen, wie die Leitung es wünscht, erfahren wir. Hettche nimmt die Abgeschiedenheit im Wallis zum Anlass, seinen Protagonisten über Ästhetik und Kulturkritik nachdenken zu lassen und vermischt das mit einer teils phantastischen Handlung, erklärt Gutzeit. Ihr gefällt die "Lebendigkeit" von Hettches Überlegungen, aber irgendwann ermüdet sie. Interessante Themen, aber zu viel davon, ließe sich ihre Kritik resümieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»ein sehr kluges Buch, ein differenziertes, ein ambivalentes Buch« Denis Scheck WDR 2 Buchtipp 20240204