Was treibt Menschen an, Tag für Tag aufzustehen und zur Arbeit zu gehen? Warum finden wir es wichtig, viel Zeit mit Partner, Familie oder Freunden zu verbringen? Wie lässt sich erklären, dass Menschen Zeit opfern, um andere Menschen etwa im Rahmen einer Freiwilligenarbeit zu unterstützen? Diese und weitere Fragen werden in der Ethik gegenwärtig unter dem Titel "Sinn im Leben" diskutiert. Der Philosoph Markus Rüther knüpft an diese internationalen Diskussionen an und macht das Thema erstmals in deutscher Sprache zum Gegenstand einer umfassenden Reflexion. Er entwickelt eine neuartige und originelle Sinntheorie, die in ihrer Differenziertheit und Überzeugungskraft über die bisher vorgelegten Angebote hinausgeht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer den Sinn des Lebens sucht, ist mit Ratgeberliteratur wohl besser beraten, meint Rezensent Tobias Schweitzer. Wenngleich der Philosoph Markus Rüther nicht ganz ohne Elemente dieses Genres auskommt, ergänzt der Kritiker. Vor allem aber steht Rüthers "ethische Theorie" zum Sinn des Lebens aber in der Tradition der analytischen Philosophie - und liest sich auch entsprechend, räumt Schweitzer ein. Anhand fiktiver Lebenssituationen versucht der Autor "objektiv bestimmbare" Normen für ein gutes Leben zu finden: Dazu ist es ratsam, sich an den "superlativisch sinnvollen Leben" von Picasso, Einstein oder Mutter Teresa zu orientieren, lernt der Rezensent, der dem Buchhalter-Ton des Textes zudem entnimmt, dass auf "sinnminimierende" Aktivitäten besser verzichtet werden sollte. Auch Konsum, Sex und Drogen versprechen kein langfristiges Glück, vielmehr solle das "Schöne, Wahre und Gute" zur Orientierung dienen, liest der Rezensent. Nach einer Leseempfehlung klingt seine Kritik nicht, auch, weil dem Text, so Schweitzer, der Bezug auf einen äußeren Zusammenhang fehlt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2023Immer schön an Picasso, Albert Einstein und Mutter Teresa denken
Vor haltlosem Konsum und Sex nur zum Vergnügen sei gewarnt: Markus Rüther macht sich Gedanken darüber, wie ein sinnvolles Leben aussehen könnte
Wer glaubt, in einem Sachbuch eine alltagstaugliche Antwort auf die Frage nach gelungener Lebensführung finden zu können, dem sei in aller Regel keine Neuerscheinung aus der akademischen Philosophie, sondern der Griff zur stetig zunehmenden Ratgeber-, Coaching- und Selbsthilfeliteratur empfohlen. Markus Rüther hat ein Buch vorgelegt, das eine Verbindung beider Genres vollzieht. Das gilt freilich nicht für den Stil, seine Stringenz und Exaktheit, die ihn als Vertreter der gegenwärtigen analytischen Philosophie ausweist. Diese über weite Strecken untergründig in den Definitionskaskaden versteckte Überschneidung tritt erst am Ende des Textes in Form eines Beispiels offen hervor.
Klaus und Maria steht die Entscheidung für ein Studienfach bevor. Deswegen müssen die zwei Abiturienten, so will es die vom Autor konstruierte Konstellation, eine Wahl zwischen ihrer künstlerischen und naturwissenschaftlichen Begabung treffen. Der eine entscheidet sich für ein Kunst-, die andere für ein Medizinstudium - in beiden Fällen "rational unterbestimmte Entscheidungssituationen", bei denen mit Blick darauf, "welchen Sinnkandidaten sie realisieren sollen", keine zweifelsfrei zu verkündende Handlungsdirektive ausgemacht werden könnte. Gut, dass der prüfende Blick des Philosophen Entwarnung geben kann: Beide hätten sich auch für die jeweilige Alternative entscheiden können. Nicht etwa deshalb, weil sich so Pflichten zur Selbstvervollkommnung durch die Förderung eigener Talente ausüben ließen, sondern weil die Berufung zum Künstler- und Ärztinnen-Dasein den verlässlichen Weg zu einem sinnvollen Leben ebnen könne.
Die so getroffene Prognose ergibt sich aus der von Rüther entwickelten ethischen Theorie, nach der Sinn als normativ eigenständige und objektiv bestimmbare Dimension eines guten Lebens in Betracht gezogen werden solle. Nicht reduzierbar sei die Perspektive des Sinns damit auf die für einen gelingenden Lebensverlauf ebenfalls häufig in Stellung gebrachten konkurrierenden Ansprüche der Moral und des subjektiven Wohlergehens.
Um diese Autonomie des Sinns zu rechtfertigen, lässt Rüther seine Argumentation mit einer Annahme beginnen, die sein Vorhaben bis zum Ende hin methodisch anleiten soll: "Nur eine solche Theorie, die in einer intuitiv nachvollziehbaren Weise diejenigen Aspekte erläutert, welche die Leben von Picasso, Einstein und Mutter Teresa zu sinnvollen Leben machen, kann beanspruchen, eine überzeugende Sinntheorie entwickelt zu haben."
Schließlich schält sich hier folgende These heraus: In die Sphäre sinnhafter Existenz kann ein Leben dann aufsteigen, wenn es in vorbildhafter Anlehnung an die oben angeführten Vertreter eines "superlativisch sinnvollen Lebens" der Kunst, der Wissenschaft oder der uneigennützigen Hilfe gewidmet wird und unmoralischen Handlungen entsagt. An solchen Tätigkeiten identifiziert der Autor ihre "subjekttranszendente" Qualität, das meint ihre selbstlose, auf andere hin bezogene Orientierung.
Die sich hier ankündigende buchhalterische Terminologie tritt nicht nur gelegentlich hervor, sondern durchzieht den ganzen Text. Freimütig werden auf der Suche nach einer klar umrissenen Definition, die den Sinn so einzufangen weiß, dass er dem theoretischen Gehäuse nicht mehr zu entwischen droht, "Sinnbilanzen" und im Laufe des Lebens bestenfalls zu überschreitende "Minimalschwellen des Sinns" in Anschlag gebracht, die Aussagen zur Sinnhaftigkeit fiktional konstruierter Lebensentwürfe erlauben. Für dieses Verfahren der Addition und Subtraktion von Tätigkeiten auf einem zur Inventurliste individuellen Lebens geronnenen Zeitstrahl bildet auch nicht mehr nur das von Orientierungs- und Bedeutungslosigkeit geprägte Leben den entsprechenden Gegenbegriff.
Häufen sich "sinnminimierende" Aktivitäten, gibt es Recht genug, vom "anti-sinnvollen" Leben zu sprechen. Wie man es dazu bringen kann? Ganz einfach: "Wer sein Leben nicht am Schönen, Wahren und Guten orientiert, führt nach der von mir vorgeschlagenen Sinntheorie ein sinnloses Leben. Wer sich hingegen in seinem Handeln sogar am Gegenteil orientiert, etwa [...] Kunstwerke, wie die Sphinx zerstört, führt nicht nur ein Leben, das einen Mangel an Sinn hat, sondern auch negativen instanziiert." Doch wer will schon ein Leben führen, das dauerhaft einen negativen Überzug auf dem eigenen Sinnkonto ausweist?
Bleibt also die Frage, wie die so identifizierten sinnstiftenden Handlungstypen als Gegenmodell zu den sinnfeindlichen Tendenzen popularisiert werden können. Von "Kampfbegriffen, wie 'gesellschaftlicher Zwang', 'Leistungsdruck', 'Individualisierung', 'Wohlstandsgesellschaft' oder 'Entfremdungstendenzen'" soll abgesehen werden, um Hindernisse auf dem Weg zu einer Existenz als Sinnheros zu erklären. Mehr traut der Autor dem Big-Five-Modell aus der Persönlichkeitspsychologie zu: Personen mit offener Persönlichkeitsstruktur sind in der allgemeinen Sinnlotterie des Lebens besser aufgestellt als Personen mit extravertierten, nach außen zielenden Charakteranteilen.
Auch der primär am Genuss interessierte Zeitgenosse mag von den Ergebnissen der gegen Ende hin zurate gezogenen empirischen Forschung eventuell doch noch zur Verfolgung sinnhafter Tätigkeiten motiviert werden. Denn "Sex nur zum Vergnügen, Schmuck oder elektronische Geräte kaufen, sich betrinken, Drogen nehmen oder mehr essen als gewollt, weil es so gut schmeckt", schneiden nicht nur auf der Sinnskala schlecht ab. Aus einem rein ichbezogenen Blickwinkel bieten solche Handlungen Rüther zufolge ebenfalls keine glücksversprechende Langzeitperspektive, die damit konkurrieren könnte, "einem bedürftigen Menschen Geld [zu] geben oder sich bei jemandem [zu] bedanken".
Will man wie Rüther das Prädikat "sinnhaft" nicht bloß als subjektives Gefühl verstehen, dann fehlt der Bezug auf einen, sei es etwa als Leben, Existenz oder Gesellschaft gefassten, äußeren Zusammenhang, der die Frage nach dem Sinn doch überhaupt erst provoziert. Vorauszusetzen, die gelebten Vollzüge der so in den Fokus gerückten "Personen" ließen sich in Skalenform zerlegen und bewerten, lässt die Theorie des sinnvollen Lebens mitunter wie eine auf Lebensberatung abzielende Bilanzierungs- und Kalkulationstechnik wirken. TOBIAS SCHWEITZER
Markus Rüther: "Sinn im Leben". Eine ethische Theorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 286 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor haltlosem Konsum und Sex nur zum Vergnügen sei gewarnt: Markus Rüther macht sich Gedanken darüber, wie ein sinnvolles Leben aussehen könnte
Wer glaubt, in einem Sachbuch eine alltagstaugliche Antwort auf die Frage nach gelungener Lebensführung finden zu können, dem sei in aller Regel keine Neuerscheinung aus der akademischen Philosophie, sondern der Griff zur stetig zunehmenden Ratgeber-, Coaching- und Selbsthilfeliteratur empfohlen. Markus Rüther hat ein Buch vorgelegt, das eine Verbindung beider Genres vollzieht. Das gilt freilich nicht für den Stil, seine Stringenz und Exaktheit, die ihn als Vertreter der gegenwärtigen analytischen Philosophie ausweist. Diese über weite Strecken untergründig in den Definitionskaskaden versteckte Überschneidung tritt erst am Ende des Textes in Form eines Beispiels offen hervor.
Klaus und Maria steht die Entscheidung für ein Studienfach bevor. Deswegen müssen die zwei Abiturienten, so will es die vom Autor konstruierte Konstellation, eine Wahl zwischen ihrer künstlerischen und naturwissenschaftlichen Begabung treffen. Der eine entscheidet sich für ein Kunst-, die andere für ein Medizinstudium - in beiden Fällen "rational unterbestimmte Entscheidungssituationen", bei denen mit Blick darauf, "welchen Sinnkandidaten sie realisieren sollen", keine zweifelsfrei zu verkündende Handlungsdirektive ausgemacht werden könnte. Gut, dass der prüfende Blick des Philosophen Entwarnung geben kann: Beide hätten sich auch für die jeweilige Alternative entscheiden können. Nicht etwa deshalb, weil sich so Pflichten zur Selbstvervollkommnung durch die Förderung eigener Talente ausüben ließen, sondern weil die Berufung zum Künstler- und Ärztinnen-Dasein den verlässlichen Weg zu einem sinnvollen Leben ebnen könne.
Die so getroffene Prognose ergibt sich aus der von Rüther entwickelten ethischen Theorie, nach der Sinn als normativ eigenständige und objektiv bestimmbare Dimension eines guten Lebens in Betracht gezogen werden solle. Nicht reduzierbar sei die Perspektive des Sinns damit auf die für einen gelingenden Lebensverlauf ebenfalls häufig in Stellung gebrachten konkurrierenden Ansprüche der Moral und des subjektiven Wohlergehens.
Um diese Autonomie des Sinns zu rechtfertigen, lässt Rüther seine Argumentation mit einer Annahme beginnen, die sein Vorhaben bis zum Ende hin methodisch anleiten soll: "Nur eine solche Theorie, die in einer intuitiv nachvollziehbaren Weise diejenigen Aspekte erläutert, welche die Leben von Picasso, Einstein und Mutter Teresa zu sinnvollen Leben machen, kann beanspruchen, eine überzeugende Sinntheorie entwickelt zu haben."
Schließlich schält sich hier folgende These heraus: In die Sphäre sinnhafter Existenz kann ein Leben dann aufsteigen, wenn es in vorbildhafter Anlehnung an die oben angeführten Vertreter eines "superlativisch sinnvollen Lebens" der Kunst, der Wissenschaft oder der uneigennützigen Hilfe gewidmet wird und unmoralischen Handlungen entsagt. An solchen Tätigkeiten identifiziert der Autor ihre "subjekttranszendente" Qualität, das meint ihre selbstlose, auf andere hin bezogene Orientierung.
Die sich hier ankündigende buchhalterische Terminologie tritt nicht nur gelegentlich hervor, sondern durchzieht den ganzen Text. Freimütig werden auf der Suche nach einer klar umrissenen Definition, die den Sinn so einzufangen weiß, dass er dem theoretischen Gehäuse nicht mehr zu entwischen droht, "Sinnbilanzen" und im Laufe des Lebens bestenfalls zu überschreitende "Minimalschwellen des Sinns" in Anschlag gebracht, die Aussagen zur Sinnhaftigkeit fiktional konstruierter Lebensentwürfe erlauben. Für dieses Verfahren der Addition und Subtraktion von Tätigkeiten auf einem zur Inventurliste individuellen Lebens geronnenen Zeitstrahl bildet auch nicht mehr nur das von Orientierungs- und Bedeutungslosigkeit geprägte Leben den entsprechenden Gegenbegriff.
Häufen sich "sinnminimierende" Aktivitäten, gibt es Recht genug, vom "anti-sinnvollen" Leben zu sprechen. Wie man es dazu bringen kann? Ganz einfach: "Wer sein Leben nicht am Schönen, Wahren und Guten orientiert, führt nach der von mir vorgeschlagenen Sinntheorie ein sinnloses Leben. Wer sich hingegen in seinem Handeln sogar am Gegenteil orientiert, etwa [...] Kunstwerke, wie die Sphinx zerstört, führt nicht nur ein Leben, das einen Mangel an Sinn hat, sondern auch negativen instanziiert." Doch wer will schon ein Leben führen, das dauerhaft einen negativen Überzug auf dem eigenen Sinnkonto ausweist?
Bleibt also die Frage, wie die so identifizierten sinnstiftenden Handlungstypen als Gegenmodell zu den sinnfeindlichen Tendenzen popularisiert werden können. Von "Kampfbegriffen, wie 'gesellschaftlicher Zwang', 'Leistungsdruck', 'Individualisierung', 'Wohlstandsgesellschaft' oder 'Entfremdungstendenzen'" soll abgesehen werden, um Hindernisse auf dem Weg zu einer Existenz als Sinnheros zu erklären. Mehr traut der Autor dem Big-Five-Modell aus der Persönlichkeitspsychologie zu: Personen mit offener Persönlichkeitsstruktur sind in der allgemeinen Sinnlotterie des Lebens besser aufgestellt als Personen mit extravertierten, nach außen zielenden Charakteranteilen.
Auch der primär am Genuss interessierte Zeitgenosse mag von den Ergebnissen der gegen Ende hin zurate gezogenen empirischen Forschung eventuell doch noch zur Verfolgung sinnhafter Tätigkeiten motiviert werden. Denn "Sex nur zum Vergnügen, Schmuck oder elektronische Geräte kaufen, sich betrinken, Drogen nehmen oder mehr essen als gewollt, weil es so gut schmeckt", schneiden nicht nur auf der Sinnskala schlecht ab. Aus einem rein ichbezogenen Blickwinkel bieten solche Handlungen Rüther zufolge ebenfalls keine glücksversprechende Langzeitperspektive, die damit konkurrieren könnte, "einem bedürftigen Menschen Geld [zu] geben oder sich bei jemandem [zu] bedanken".
Will man wie Rüther das Prädikat "sinnhaft" nicht bloß als subjektives Gefühl verstehen, dann fehlt der Bezug auf einen, sei es etwa als Leben, Existenz oder Gesellschaft gefassten, äußeren Zusammenhang, der die Frage nach dem Sinn doch überhaupt erst provoziert. Vorauszusetzen, die gelebten Vollzüge der so in den Fokus gerückten "Personen" ließen sich in Skalenform zerlegen und bewerten, lässt die Theorie des sinnvollen Lebens mitunter wie eine auf Lebensberatung abzielende Bilanzierungs- und Kalkulationstechnik wirken. TOBIAS SCHWEITZER
Markus Rüther: "Sinn im Leben". Eine ethische Theorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 286 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wer glaubt, in einem Sachbuch eine alltagstaugliche Antwort auf die Frage nach gelungener Lebensführung finden zu können, dem sei in der Regel keine Neuerscheinung aus der akademischen Philosophie, sondern der Griff zur ... Ratgeber-, Coaching- und Selbsthilfeliteratur empfohlen. Markus Rüther hat ein Buch vorgelegt, das eine Verbindung beider Genres vollzieht« Tobias Schweitzer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230830