In den - von autobiographischen Erfahrungen ausgehenden - Gesprächen entwickelt der Literaturwissenschaftler Jean Bollack seine Theorie und Praxis des kritischen Lesens von Texten und seine Auffassung von Literatur.Das Buch dokumentiert ein Interview, das Patrick Llored, ein junger kultursoziologisch orientierter Philosoph, mit Jean Bollack, Philologe und Literaturwissenschaftler, geführt hat. In den Antworten wird nach und nach eine grundsätzliche Reflexion über das philosophische Handwerk und die Erkenntnisproblematik entwickelt. Zwar setzen sich Bollacks Forschungen besonders mit dem tradierten Verständnis der klassischen Texte der Antike auseinander, doch betreffen aufgeworfene Fragen zentrale Probleme der meisten Bereiche der Geistes- und Kulturwissenschaften. Im Zentrum steht der kulturell bedingte Kontext der Vermittlung, von der aus die Anschauungen über den Sinn der Werke und die Art und Weise, sie zu lesen, erst wirklich verständlich werden. Das kritische Lesen der Texte setzt ein solches historisches Bewußtsein voraus; erst durch die Ergründung des jeweiligen Verwendungszwecks der Wissensobjekte ist es möglich, ihre wahre Bedeutung zu erkennen.Darüber hinaus wird durch die systematische Analyse der Tradition die betont historisierende Sichtweise auf die Entstehungsbedingungen der ästhetischen Produktionen selbst ausgedehnt. Daraus ergibt sich die These, daß das Verständnis des Inhalts auch älterer Texte mit dem ihres Zustandekommens und ihrer Komposition zusammenfällt. Die Dichtung war und ist in ihrem Kern Philologie. Damit stellt sich auch das Problem der Aktualisierung neu: Die Dichtung entzieht sich prinzipiell, und zwar auf sehr kritische Weise, der Tradition, genauer: den unterschiedlichen Traditionen. Sie bezieht Stellung, wirkt über die Zeiten hinweg kritisch und vermag mythische Verhüllung aufzudecken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Wie praktisch, der Text liest sich jetzt ganz von selbst
Die Befreiung der Philologie kommt zum rechten Zeitpunkt: Jean Bollack im Gespräch / Von Christoph König
Schon mit dem Titel des Gesprächbuchs "Sinn wider Sinn" nimmt Jean Bollack, der große, intellektuelle Philologe aus Paris, Stellung für eine Stellungnahme. Er entscheidet sich für den "Widersinn", der in literarischen Werken entsteht, wenn sie die vieldeutige Alltagssprache aufnehmen und verrätseln, um sie zu einem eigenen Sinn zu zwingen. Nur eine bestimmte Lektüre vermag sich mit einer solchen Parteinahme zu solidarisieren: Daher kreisen die Gespräche mit Patrick Llored, einem von Pierre Bourdieu geprägten Soziologen, um die Frage, wie man lesen soll.
Das Buch, das zum achzigsten Geburtstag Bollacks erschienen ist, breitet die Systematik seiner kritischen Philologie aus, deren Prinzip gerade darin besteht, systematische Ansprüche zu verneinen und immer wieder von neuem für den jeweils konkreten Gegenstand zu formulieren. Diesem Prinzip bleibt Bollack im Nachdenken über sich selbst treu. Die Gespräche erweisen sich so im doppelten Sinn als eine vorzügliche Einführung in das Werk eines schwierigen Autors. Statt auf Theorien zurückzugreifen, konstruiert er - praktisch - die Theorie einer Interpretationspraxis. Das Werk, das hier zur Sprache kommt, ist weitgefächert, Bollack hat seine Gegenstände aus vielen Literaturen, vornehmlich der griechischen, französischen und deutschen, gewählt und die Philosophie oder das Theater ebenso einbezogen wie die Geschichte der Benützung der Werke. In der Konzentration auf einzelne Texte geht es ihm, gerade aufgrund ihrer Partikularität, stets um das Gleiche: "Das Glück besteht für mich darin, die Lösung eines Problems zu finden, das der Text selber stellt."
Bollack wuchs als Sohn einer elsässischen jüdischen Familie in Basel auf und studierte dort bei Peter von der Mühll, einem Vertreter der großen deutschen Tradition der Klassischen Philologie. 1945 beschloß er, nachdem er in der Schweiz überlebt hatte, künftig in Frankreich zu leben. Sich persönlich an den Gehalt der Wissensgegenstände direkt zu halten war ein Mittel, in der Nicht-Zugehörigkeit zu leben. "Halb wurde mein soziales Milieu toleriert, und gleichzeitig schloß es sich aus, schloß sich faktisch selbst aus, indem es an anderen Werten festhielt, die als fremd erachtet wurden." Der Streit um die "fremde" Freiheit und die Gegenstände erhalten bald methodische Dignität.
1965 und 1969 erscheinen, neu herausgegeben, übersetzt und kommentiert, die Fragmente des Empedokles, darauf folgen aufwendige Ausgaben der Werke Heraklits und des "Agamemnon", an denen auch Heinz Wismann und Pierre Judet de La Combe beteiligt waren. Im "König Ödipus" (1990) führt Bollack exemplarisch eine Kritik der Interpretation über 2500 Jahre hin durch und ediert - im Konflikt damit - den Text neu. In die Diskussionen werden konsequent die wichtigsten Gelehrten von früher, die das Verständnis festgelegt haben, einbezogen, doch seine Stimme gibt Bollack lieber Jacob Bernays und anderen jüdischen Intellektuellen. So lasse sich das kritische Potential der Wissenschaftsgeschichte besser entfalten. In den letzten fünfundzwanzig Jahren gehört vor allem Paul Celans Gedichten ihres Schwierigkeitsgrads wegen ein gut Teil seiner Aufmerksamkeit.
Den Lektüren geht eine ethische Entscheidung voraus. Bollack achtet die Freiheit des Autors, sich von seiner Tradition abzusetzen, und interpretiert die Eigenart von Werken, die in diesem Sinn entstanden sind. Jener Freiheit entspreche die Freiheit des gegenwärtigen Interpreten, der in eine neue Distanz treten und sich seinerseits von der Tradition des Verständnisses, in der er steht, lösen muß, um den idiomatischen Gebrauch der Sprache erkennen zu können. Nicht der Gehalt, nicht ein Wahrheitsgehalt mache die Literatur aus, sondern eine Bewegung, eine Arbeit am Sinn. "Die Transgression, die den Text am Leben hält, kann nicht wirklich gelingen, solange er im Dienst einer Wahrheit steht. Für mich ist der Autor nicht unbedingt eine Person, die über eine Wahrheit verfügt, derer ich bedarf."
Als es Bollack nicht gelingt, das Weltsystem Heraklits aus den Fragmenten zu rekonstruieren, zieht er den Schluß, es gebe diese Kosmologie gar nicht, auch wenn sie das Bild Heraklits bis hin zu Heidegger bestimmt hat. Damit war der Weg frei für die Entdeckung, daß Heraklit keines der "Urworte", für die man ihn verehrte, aus sich selbst heraus gesagt hat, sondern nur - in seiner Sprache - durchleuchtete, was die Zeitgenossen formulierten. Man hat es somit nicht mit Fragmenten zu tun, sondern mit Aphorismen: mit geschlossenen Einheiten, die einzelne Wissensformen kritisch analysieren und die nun jeweils für sich zu interpretieren seien. Erst indem der Philologe ein Nicht-Wissen und - "konservativ" - die Fremdheit des Überlieferten ernst nimmt, befreit er sich von einem vorausgesetzten, meist kulturell geprägten Wissen.
Derartige neue Einsichten stellen sich weder in einem Mysterium des Augenblicks ein, noch kann man sie aus scholastischen, szientifischen Begriffen pressen. Auch die Ethik allein genügt nicht. Läßt sich solche Kreativität, die eine Nähe schafft, trotzdem kalkulieren? Und wie sind ihre Einsichten wissenschaftlich zu begründen? Man kommt in den Gesprächen den unerhörten, kreativen, kalt spekulativen Interpretationen Bollacks auf die Spur, die schon Peter Szondi bewunderte.
Bleibt die Lektüre unberechenbar, so genügt doch der Einfall allein nicht. Allzuleicht sprechen da andere und ihre Vorurteile mit. Bollack mißtraut der Identität und verläßt sich lieber auf eine dialektische Gedankenfigur: Die Gegenstände sind nur von innen, in seinem Sinn "von einem Außen des Innen" her zu erreichen. So bereitet Bollack seine Praxis durch eine Reflexionskultur des Außen vor: der glückliche Einfall setzt handwerkliches Können voraus und gleichfalls die ausdauernde Kritik an jenen Vorurteilen, die die Freiheit gefährden, von der man ausgeht. Die Kritik gilt also auch den Interpreten, deren humanistische Werte und romantische Ästhetik sich oft genug in ihr Métier mischen. Die Resultate der solcherart vorbereiteten, gleichwohl spontanen "intellektuellen Imagination" kontrolliert Bollack danach in der Konfrontation - in einer "lecture à plusieurs".
Métier und Kritik stehen in einem präzisen Verhältnis zueinander. Die Kritik an den bisher in der Literaturwissenschaft geübten Techniken begründet Bollack in einem neuen Verständnis des Métiers, das nun die ästhetische Rationalität des Gegenstands miteinbezieht. Das kommt der Befreiung einer engen Philologie gleich, die sich nie hat eingestehen wollen, daß sie in ihren Editionen und Kommentaren stets ästhetische Urteile, welche auch immer, fällt.
Angelpunkt dieser kritischen Hermeneutik ist die Vorstellung, daß "die Dichtung - auf einer breiten Grundlage von Spontaneität - sich ihrer eigenen Vorgehensweise bewußt ist". Einer Spontaneität, die nicht minder konstruiert ist: Sakrale Ansprüche finden hier keinerlei Gehör und fallen in sich zusammen. Die Auslegung im literarischen Werk selbst wird zur Bedingung der Interpretation und zu ihrem Leitfaden: "Textus interpres sui", lautet das Losungswort. Damit sind die Gedanken gemeint, mit deren Hilfe das Werk seine Voraussetzungen: die Spontaneität, sein Wissen und den eigenen Kanon meistert. Statt eine absolute Ästhetik zu verabsolutieren, historisiert Bollack radikal und bestimmt den Herstellungsprozeß durch eine historisch determinierte Differenz, die vorzugsweise in der Syntax sichtbar werde: Die Syntax fixiert frei einen Sinn über die Struktur der Sprache hinaus, sie legt fest, wer Subjekt und wer Objekt ist, und sie regiert, in einem weiteren Sinn, die Abfolge der Gedanken in den Texten. "Man entgeht der Syntax nicht."
Mit Hilfe seiner Syntax reflektiert und "liest" Paul Celan, wie die Gedichte mit ihrer Spontaneität umgehen. Das gehört zu den aufregendsten Einsichten Bollacks: Durch das Verhältnis von Ich und Du stellt Celan diesen Prozeß ausdrücklich dar. Ein künstlich konstruiertes Subjekt, ähnlich der Position des Erzählers im Werk von Marcel Proust, das außerhalb der Sprache stehe, bedient sich eines "Du", das sich hingibt und schreibt und sich dabei vom "Ich" beobachtet weiß. "Der Autor liest, indem er schreibt, oder er schreibt das, was er liest. Das ist der höchste Grad an Genauigkeit." Diese Philologie entzieht jeder philosophischen Hermeneutik den Boden, die den Dichter zum Sprachrohr des "Menschlichen" oder eines Diskurses macht und damit übergeht, daß der Dichter genau mittels der konkreten Schriftlichkeit schon gegen diese Mißachtung protestiert hat.
Jean Bollack hat eine philologische Tradition, die in Deutschland gebildet wurde, nach Frankreich mitgenommen und dort in der Gravitation von Theater, Psychoanalyse, Soziologie und Literatur fortentwickelt. Nun kehrt sie streitbar, in einer solideren Form zurück und zeigt mit reflexiver Härte, wie vage hierzulande von "philologischer Kernkompetenz" in den Kulturwissenschaften gesprochen wird. Dieses Buch kommt zur rechten Zeit.
Jean Bollack: "Sinn wider Sinn". Wie liest man? Gespräche mit Patrick Llored. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Schlesier. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 200 S., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Befreiung der Philologie kommt zum rechten Zeitpunkt: Jean Bollack im Gespräch / Von Christoph König
Schon mit dem Titel des Gesprächbuchs "Sinn wider Sinn" nimmt Jean Bollack, der große, intellektuelle Philologe aus Paris, Stellung für eine Stellungnahme. Er entscheidet sich für den "Widersinn", der in literarischen Werken entsteht, wenn sie die vieldeutige Alltagssprache aufnehmen und verrätseln, um sie zu einem eigenen Sinn zu zwingen. Nur eine bestimmte Lektüre vermag sich mit einer solchen Parteinahme zu solidarisieren: Daher kreisen die Gespräche mit Patrick Llored, einem von Pierre Bourdieu geprägten Soziologen, um die Frage, wie man lesen soll.
Das Buch, das zum achzigsten Geburtstag Bollacks erschienen ist, breitet die Systematik seiner kritischen Philologie aus, deren Prinzip gerade darin besteht, systematische Ansprüche zu verneinen und immer wieder von neuem für den jeweils konkreten Gegenstand zu formulieren. Diesem Prinzip bleibt Bollack im Nachdenken über sich selbst treu. Die Gespräche erweisen sich so im doppelten Sinn als eine vorzügliche Einführung in das Werk eines schwierigen Autors. Statt auf Theorien zurückzugreifen, konstruiert er - praktisch - die Theorie einer Interpretationspraxis. Das Werk, das hier zur Sprache kommt, ist weitgefächert, Bollack hat seine Gegenstände aus vielen Literaturen, vornehmlich der griechischen, französischen und deutschen, gewählt und die Philosophie oder das Theater ebenso einbezogen wie die Geschichte der Benützung der Werke. In der Konzentration auf einzelne Texte geht es ihm, gerade aufgrund ihrer Partikularität, stets um das Gleiche: "Das Glück besteht für mich darin, die Lösung eines Problems zu finden, das der Text selber stellt."
Bollack wuchs als Sohn einer elsässischen jüdischen Familie in Basel auf und studierte dort bei Peter von der Mühll, einem Vertreter der großen deutschen Tradition der Klassischen Philologie. 1945 beschloß er, nachdem er in der Schweiz überlebt hatte, künftig in Frankreich zu leben. Sich persönlich an den Gehalt der Wissensgegenstände direkt zu halten war ein Mittel, in der Nicht-Zugehörigkeit zu leben. "Halb wurde mein soziales Milieu toleriert, und gleichzeitig schloß es sich aus, schloß sich faktisch selbst aus, indem es an anderen Werten festhielt, die als fremd erachtet wurden." Der Streit um die "fremde" Freiheit und die Gegenstände erhalten bald methodische Dignität.
1965 und 1969 erscheinen, neu herausgegeben, übersetzt und kommentiert, die Fragmente des Empedokles, darauf folgen aufwendige Ausgaben der Werke Heraklits und des "Agamemnon", an denen auch Heinz Wismann und Pierre Judet de La Combe beteiligt waren. Im "König Ödipus" (1990) führt Bollack exemplarisch eine Kritik der Interpretation über 2500 Jahre hin durch und ediert - im Konflikt damit - den Text neu. In die Diskussionen werden konsequent die wichtigsten Gelehrten von früher, die das Verständnis festgelegt haben, einbezogen, doch seine Stimme gibt Bollack lieber Jacob Bernays und anderen jüdischen Intellektuellen. So lasse sich das kritische Potential der Wissenschaftsgeschichte besser entfalten. In den letzten fünfundzwanzig Jahren gehört vor allem Paul Celans Gedichten ihres Schwierigkeitsgrads wegen ein gut Teil seiner Aufmerksamkeit.
Den Lektüren geht eine ethische Entscheidung voraus. Bollack achtet die Freiheit des Autors, sich von seiner Tradition abzusetzen, und interpretiert die Eigenart von Werken, die in diesem Sinn entstanden sind. Jener Freiheit entspreche die Freiheit des gegenwärtigen Interpreten, der in eine neue Distanz treten und sich seinerseits von der Tradition des Verständnisses, in der er steht, lösen muß, um den idiomatischen Gebrauch der Sprache erkennen zu können. Nicht der Gehalt, nicht ein Wahrheitsgehalt mache die Literatur aus, sondern eine Bewegung, eine Arbeit am Sinn. "Die Transgression, die den Text am Leben hält, kann nicht wirklich gelingen, solange er im Dienst einer Wahrheit steht. Für mich ist der Autor nicht unbedingt eine Person, die über eine Wahrheit verfügt, derer ich bedarf."
Als es Bollack nicht gelingt, das Weltsystem Heraklits aus den Fragmenten zu rekonstruieren, zieht er den Schluß, es gebe diese Kosmologie gar nicht, auch wenn sie das Bild Heraklits bis hin zu Heidegger bestimmt hat. Damit war der Weg frei für die Entdeckung, daß Heraklit keines der "Urworte", für die man ihn verehrte, aus sich selbst heraus gesagt hat, sondern nur - in seiner Sprache - durchleuchtete, was die Zeitgenossen formulierten. Man hat es somit nicht mit Fragmenten zu tun, sondern mit Aphorismen: mit geschlossenen Einheiten, die einzelne Wissensformen kritisch analysieren und die nun jeweils für sich zu interpretieren seien. Erst indem der Philologe ein Nicht-Wissen und - "konservativ" - die Fremdheit des Überlieferten ernst nimmt, befreit er sich von einem vorausgesetzten, meist kulturell geprägten Wissen.
Derartige neue Einsichten stellen sich weder in einem Mysterium des Augenblicks ein, noch kann man sie aus scholastischen, szientifischen Begriffen pressen. Auch die Ethik allein genügt nicht. Läßt sich solche Kreativität, die eine Nähe schafft, trotzdem kalkulieren? Und wie sind ihre Einsichten wissenschaftlich zu begründen? Man kommt in den Gesprächen den unerhörten, kreativen, kalt spekulativen Interpretationen Bollacks auf die Spur, die schon Peter Szondi bewunderte.
Bleibt die Lektüre unberechenbar, so genügt doch der Einfall allein nicht. Allzuleicht sprechen da andere und ihre Vorurteile mit. Bollack mißtraut der Identität und verläßt sich lieber auf eine dialektische Gedankenfigur: Die Gegenstände sind nur von innen, in seinem Sinn "von einem Außen des Innen" her zu erreichen. So bereitet Bollack seine Praxis durch eine Reflexionskultur des Außen vor: der glückliche Einfall setzt handwerkliches Können voraus und gleichfalls die ausdauernde Kritik an jenen Vorurteilen, die die Freiheit gefährden, von der man ausgeht. Die Kritik gilt also auch den Interpreten, deren humanistische Werte und romantische Ästhetik sich oft genug in ihr Métier mischen. Die Resultate der solcherart vorbereiteten, gleichwohl spontanen "intellektuellen Imagination" kontrolliert Bollack danach in der Konfrontation - in einer "lecture à plusieurs".
Métier und Kritik stehen in einem präzisen Verhältnis zueinander. Die Kritik an den bisher in der Literaturwissenschaft geübten Techniken begründet Bollack in einem neuen Verständnis des Métiers, das nun die ästhetische Rationalität des Gegenstands miteinbezieht. Das kommt der Befreiung einer engen Philologie gleich, die sich nie hat eingestehen wollen, daß sie in ihren Editionen und Kommentaren stets ästhetische Urteile, welche auch immer, fällt.
Angelpunkt dieser kritischen Hermeneutik ist die Vorstellung, daß "die Dichtung - auf einer breiten Grundlage von Spontaneität - sich ihrer eigenen Vorgehensweise bewußt ist". Einer Spontaneität, die nicht minder konstruiert ist: Sakrale Ansprüche finden hier keinerlei Gehör und fallen in sich zusammen. Die Auslegung im literarischen Werk selbst wird zur Bedingung der Interpretation und zu ihrem Leitfaden: "Textus interpres sui", lautet das Losungswort. Damit sind die Gedanken gemeint, mit deren Hilfe das Werk seine Voraussetzungen: die Spontaneität, sein Wissen und den eigenen Kanon meistert. Statt eine absolute Ästhetik zu verabsolutieren, historisiert Bollack radikal und bestimmt den Herstellungsprozeß durch eine historisch determinierte Differenz, die vorzugsweise in der Syntax sichtbar werde: Die Syntax fixiert frei einen Sinn über die Struktur der Sprache hinaus, sie legt fest, wer Subjekt und wer Objekt ist, und sie regiert, in einem weiteren Sinn, die Abfolge der Gedanken in den Texten. "Man entgeht der Syntax nicht."
Mit Hilfe seiner Syntax reflektiert und "liest" Paul Celan, wie die Gedichte mit ihrer Spontaneität umgehen. Das gehört zu den aufregendsten Einsichten Bollacks: Durch das Verhältnis von Ich und Du stellt Celan diesen Prozeß ausdrücklich dar. Ein künstlich konstruiertes Subjekt, ähnlich der Position des Erzählers im Werk von Marcel Proust, das außerhalb der Sprache stehe, bedient sich eines "Du", das sich hingibt und schreibt und sich dabei vom "Ich" beobachtet weiß. "Der Autor liest, indem er schreibt, oder er schreibt das, was er liest. Das ist der höchste Grad an Genauigkeit." Diese Philologie entzieht jeder philosophischen Hermeneutik den Boden, die den Dichter zum Sprachrohr des "Menschlichen" oder eines Diskurses macht und damit übergeht, daß der Dichter genau mittels der konkreten Schriftlichkeit schon gegen diese Mißachtung protestiert hat.
Jean Bollack hat eine philologische Tradition, die in Deutschland gebildet wurde, nach Frankreich mitgenommen und dort in der Gravitation von Theater, Psychoanalyse, Soziologie und Literatur fortentwickelt. Nun kehrt sie streitbar, in einer solideren Form zurück und zeigt mit reflexiver Härte, wie vage hierzulande von "philologischer Kernkompetenz" in den Kulturwissenschaften gesprochen wird. Dieses Buch kommt zur rechten Zeit.
Jean Bollack: "Sinn wider Sinn". Wie liest man? Gespräche mit Patrick Llored. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Schlesier. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 200 S., br., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Christoph König erweisen sich diese Gespräche Patrick Lloreds mit Jean Bollack als vorzügliche Einführung in das Werk des "schwierigen Philologen". Denn statt auf Theorie zurückzugreifen, konstruiere Bollack beim Reden praktisch die Theorie einer Interpretationspraxis. Nach Ansicht des Rezensenten kreisen die Gespräche um die Frage, wie man lesen soll. Das philologische Werk, das in diesem Buch zur Sprache kommt, findet König weitgefächert. Besonders Bollacks Positionen zur Lyrik Paul Celans haben ihn beeindrucken können. Insgesamt sieht er mit diesem Buch eine philologische Tradition nach Deutschland zurückkehren, die hier vor 1933 begründet und von Bollack in Frankreich "in der Gravitation von Theater, Psychoanalyse, Soziologie und Literatur" fortentwickelt wurde. In den Augen des Rezensenten zeigt sie "mit reflexiver Härte", wie vage hierzulande von "philologischer Kernkompetenz" in den Kulturwissenschaften gesprochen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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