"Prosa von verführerisch atemloser Qualität, Emma Richler ist 'Sister Talent'." Times Literary Supplement
Gibt es das - eine allzu glückliche Kindheit? Jemima lebt als mittleres von fünf Geschwistern in einer wunderbaren Familie: Ihr ältester Bruder Ben erklärt ihr, wie die Welt funktioniert. Mit ihrem Fast-Zwillingsbruder Jude spielt sie in innigster Verbundenheit Weltkriegsschlachten nach. Ihre eigensinnige Schwester Harriet achtet penibel darauf, dass die Speisen auf ihrem Teller sich nicht berühren, auch wenn dann die Nonnen der Klosterschule alles miteinander vermengen. Und der Jüngste, Gus, schneidet herrliche Grimassen. Der Vater der fünf ist ein verstrubbelter Schriftsteller, ein "jüdischer Cowboy" - und sie alle zusammen vergöttern die engelsgleiche Mutter. Es ist ein Familienparadies, das Emma Richler entwirft, voll Originalität und Leben spannt es sich zwischen England und Kanada. Es ist ein Paradies, dem Jemima nicht entkommt. Sie liebt ihre Familie bis zum Zerreißen. Als es Zeit ist, erwachsen zu werden, bleibt sie allein zurück. Je weiter die Familienmitglieder ihre eigenen Wege gehen, desto stärker löst sich die Welt der Erzählerin auf, voll selbstzerstörischer Gedanken. Emma Richler erleuchtet Jemimas dunkle Momente mit lakonischer Komik. In sieben Stationen entsteht eindringlich das Porträt einer eigenwilligen Familie und einer jungen, verlorenen Frau. Ein Roman von fesselnder Schönheit und wunderlich-melancholischem Zauber.
Gibt es das - eine allzu glückliche Kindheit? Jemima lebt als mittleres von fünf Geschwistern in einer wunderbaren Familie: Ihr ältester Bruder Ben erklärt ihr, wie die Welt funktioniert. Mit ihrem Fast-Zwillingsbruder Jude spielt sie in innigster Verbundenheit Weltkriegsschlachten nach. Ihre eigensinnige Schwester Harriet achtet penibel darauf, dass die Speisen auf ihrem Teller sich nicht berühren, auch wenn dann die Nonnen der Klosterschule alles miteinander vermengen. Und der Jüngste, Gus, schneidet herrliche Grimassen. Der Vater der fünf ist ein verstrubbelter Schriftsteller, ein "jüdischer Cowboy" - und sie alle zusammen vergöttern die engelsgleiche Mutter. Es ist ein Familienparadies, das Emma Richler entwirft, voll Originalität und Leben spannt es sich zwischen England und Kanada. Es ist ein Paradies, dem Jemima nicht entkommt. Sie liebt ihre Familie bis zum Zerreißen. Als es Zeit ist, erwachsen zu werden, bleibt sie allein zurück. Je weiter die Familienmitglieder ihre eigenen Wege gehen, desto stärker löst sich die Welt der Erzählerin auf, voll selbstzerstörischer Gedanken. Emma Richler erleuchtet Jemimas dunkle Momente mit lakonischer Komik. In sieben Stationen entsteht eindringlich das Porträt einer eigenwilligen Familie und einer jungen, verlorenen Frau. Ein Roman von fesselnder Schönheit und wunderlich-melancholischem Zauber.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Gisa Funck bescheinigt diesem doppelbödigen Familienroman, mit seinem Erzählton eine fast sogartige Spannung zu erzeugen. Diese Qualität verdankt das Buch Funck zufolge der Tatsache, dass hinter aller Liebenswürdigkeit und Komik bei der Beschreibung einer Familie (aus der Perspektive "eines schwarzen Schafes, das vergeblich um Anerkennung buhlte"), immer auch der Schmerz der enttäuschten Zuneigung spürbar werde. Zunächst deute vieles darauf hin, dass eine jener "herrlich-verrückten", aber letztlich harmlosen Familiengeschichten erzählt werde. Erst nach und nach enthülle sich die Protagonistin Jemima als psychisch angeschlagen und depressiv. Ihren Namen "Sister Crazy" trägt die Titelheldin nach Ansicht der Rezensentin nicht umsonst, denn manche ihrer Sätze klingen für sie "wie jene rotzigen, herzzerreißenden Sprüche angeschossener Revolverhelden". Für die Rezensentin trägt der Roman der Tochter des kanadischen Schriftstellers Mordecai Richler außerdem deutlich autobiografische Züge.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2004Die Schlachten der Weltkriege im Kinderzimmer
Alles verstehen heißt nicht alles verkraften: Emma Richlers doppelbödiger Familienroman "Sister Crazy"
Es gehört zu den Tragödien der menschlichen Existenz, daß uns in der Regel jene am schlimmsten verletzen, die unserem Herzen am nächsten sind. Deshalb sind auch Familien von jeher ein Hort nachhaltiger Kränkungen, die oft ein Leben lang währen. Aber gibt es auch den umgekehrten Fall? Gibt es wirklich "eine allzu glückliche Kindheit", wie es der deutsche Klappentext zu Emma Richlers Romandebüt "Sister Crazy" verheißt?
Zunächst deutet vieles darauf hin, daß auch dieses Buch eine jener "herrlich-verrückten", aber letztlich harmlosen Familiengeschichten erzählt, wie man sie zu Dutzenden aus dem Vorabendprogramm der Fernsehunterhaltung kennt. Auf dem in rosarot gehaltenen Umschlag sieht man ein sommersprossiges Mädchen im Teenageralter, das pfiffig einen Mädchen-Überlegenheits-Flunsch zieht. Das ungewöhnliche Format erinnert von der Größe her an ein Poesie-Album. Und die Ich-Erzählerin Jemima Weiss, eine Frau Mitte Dreißig, gesteht gleich zu Beginn, daß sie am liebsten noch einmal ein Kind sein würde: "Ich sehne mich nach meinem alten Ich", klagt sie. "Nun vermisse ich solche Dinge wie Entschiedenheit und Gewißheit, Anfang und Ende. Im Erwachsenenleben gibt es nur wenige Grenzlinien. In meinen Augen ist es ein gewaltiges Schlachtfeld mit sich ständig verschiebenden Fronten."
Man könnte solche Sätze als Bekenntnis einer Nesthockerin lesen. Offenbar hat Jemima, die sich selbst "Sister Crazy" nennt, den Auszug aus dem Elternhaus noch immer nicht verdaut und vermißt die Gewißheiten ihrer Kindheit. Wie schwerwiegend ihre Krise allerdings wirklich ist, wird erst nach gut fünfzig Seiten klar, als von einem Selbstmordversuch die Rede ist. Seit ihrer Pubertät, erfährt man nun, ist die Erzählerin wegen Depressionen in therapeutischer Behandlung. Auch mit der Liebe und der Karriere scheint es nicht gerade bestens zu laufen. Doch alle diese Details einer eher unerfreulichen Gegenwart werden allenfalls angedeutet. "Dunkle Zeiten liegen hinter mir", erklärt sie einmal, "ich habe meinen Handgelenken mit großen, scharfen Messern zornige, präzise Schnitte zugefügt, und meine Mutter möchte wissen, warum." Eine Frage, die die Tochter strikt unbeantwortet läßt, denn die jüngste Vergangenheit meidet Jemima. Immer wieder flüchtet sie in ein Damals und in die Erinnerung an ihre Kindheit, die so für die psychisch angeschlagene Protagonistin zu einer Art letztem Haltepunkt ihrer ins Wanken geratenen Identität wird.
Allein, so behaglich wirkt diese vergangene Kindheit bei genauerem Hinsehen gar nicht. Da mag der Tonfall stellenweise noch so wehmütig-sehnsuchtsvoll klingen, wenn Jemima in sieben nur lose miteinander verbundenen Kapiteln ihre Zeit als Neun- und Vierzehnjährige noch einmal heraufbeschwört. Im Grunde lesen wir den Bericht eines unglücklichen schwarzen Schafes, das meist vergeblich um familiäre Anerkennung buhlte. Das Unglück beginnt schon mit einer ungünstigen Position in der Geburtenfolge. Jemima wuchs nämlich (in auffälliger Übereinstimmung mit der Autorin) als drittes von fünf Kindern einer kanadischen Autorenfamilie auf, als ein klassisches Sandwich-Kind also, das die Eltern dann - ebenso klassisch - vernachlässigen, ohne dies zu bemerken.
Nicht genug, daß es grundsätzlich immer Jemima war, die der Vater zur lästigen Hausarbeit abkommandierte. Sie mußte auch früh mütterliche Aufsichtspflichten für ihre jüngere Schwester Harriet übernehmen. Das Schlimmste von allem aber war, daß die Eltern das Mädchen ausgerechnet auf eine strenge katholische Nonnenschule schickten, obwohl der Vater Jude und die Mutter Protestantin war. So mußte Jemima nicht nur Spott und Bosheit der Betschwestern ertragen, die in ihr eine halbjüdische "Jesusmörderin" sahen, sondern fand sich endgültig zwischen allen Stühlen wieder: Weder war sie ganz Christin noch ganz Jüdin. Weder geachtete älteste Tochter noch verhätscheltes Nesthäkchen. Weder voller Mutterersatz noch lediglich nur Kind.
Jemima selbst sieht ihr Aufwachsen freilich mit anderen Augen. Die Erzählerin fühlt sich ihren Eltern und Geschwistern viel zu sehr verpflichtet, um auch nur ein schlechtes Wort über sie zu verlieren. Der Gedanke, daß sie einst zu kurz gekommen sein könnte, kommt Sister Crazy gar nicht in den Sinn. Statt dessen zeichnet sie das Bild einer Familie voller skurril-sympathischer Sonderlinge, denen man letztlich nie wirklich böse sein konnte. Da ist etwa die jüngere Schwester Harriet, die sofort Schreikrämpfe bekam, sobald sich auf ihrem Teller zwei verschiedene Nahrungsmittel miteinander vermischten: für Jemima, die familiäre Allesversteherin, verständlicher Ausdruck eines kindlichen Kontrollwunsches, "bevor das Chaos des Kauens und Verdauens einsetzt".
Oder da ist der Vater, ein rauhbauziger "Sportautor" für Zeitungen, der gern Whiskey trinkt, auf defekte Geräte einschlägt und seine Kinder beim Zocken regelmäßig ums Taschengeld prellt: für Jemima ist das alles entschuldbar, schließlich handelt es sich um das Normalverhalten eines "Cowboys". Und da ist schließlich der fünfzehn Monate ältere Bruder Jude, mit dem die Schwester einst akribisch alle Schlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nachspielte. Jude, den die Erzählerin gern als ihren "Zwilling" bezeichnet, brachte den infantilen Militärkosmos eines Tages unverhofft durch eine Barbie-Puppe zum Einsturz. "Ich wurde albern", erinnert sich Jemima, "und stellte die Szene als das bloß, was sie war - eine sexuelle -, und Jude stapfte wütend davon."
Mit dem Einzug der Erotik endet das Kinderspiel, die Trennung vom innig geliebten Bruder wird unvermeidlich. Doch statt wenigstens hier einmal wütend auf den flüchtigen "Zwilling" zu werden, gibt sich die Schwester erneut merkwürdig verständnisvoll: "Ich ließ Jude ziehen", schreibt sie, "weigerte mich aber, in ihm einen Deserteur zu sehen." Es ist genau diese Stimme einer eigentlich zutiefst Gekränkten, die ihre Kränkungen jedoch nicht eingestehen möchte, ohne sie zugleich ganz verbergen zu können, die in Richlers Roman eine fast sogartige Spannung erzeugt.
Man ahnt früh, daß Jemima nicht die volle Wahrheit sagt, daß sie gewisse Erfahrungen ihrer Vergangenheit ausblendet oder schönredet. Waren ihre Gefühle für Jude mehr als nur schwesterlich? Wahrscheinlich ist auch ihr Kummer darüber, daß sich der Vater inzwischen von ihr losgesagt hat, viel größer, als sie zugeben möchte. Doch Sister Crazy trägt ihren Namen nicht umsonst. Und so klingen manche ihrer Sätze wie jene rotzigen, herzzerreißenden Sprüche angeschossener Revolverhelden, die noch einmal großmütig alle Schuld der Welt auf sich nehmen, bevor sie endgültig die Augen schließen. So erzählt Jemima etwa, daß sie für ihren Vater immer noch eine Flasche seines Lieblingswhiskeys aufbewahrt: "Die Flasche ist für ihn, falls er einmal vorbeikommt, aber obwohl ich nicht sehr weit von ihm entfernt wohne, kommt er nie. Das geht schon in Ordnung, denn er könnte ja doch einmal kommen."
Emma Richler ist das dritte Kind des kanadischen Schriftstellers Mordecai Richler, und es liegt nahe, in Sister Crazy zumindest eine Seelenverwandte der Autorin zu sehen, wenn nicht gar ein Selbstporträt. Als ihr erster Roman vor drei Jahren erschien, wurde er in den englischen, amerikanischen und kanadischen Kritiken schnell als "Liebeserklärung an die Familie" gefeiert. Das trifft die Sache und geht zugleich an ihr vorbei. Denn Jemima beschwört und verteidigt etwas, was sie mehr vermißt als erlebt hat. Als Verfechterin der family values taugt sie nur bedingt. Ihr Bericht fesselt aber nicht zuletzt deswegen, weil hinter all seiner Komik und Liebenswürdigkeit immer auch der Schmerz der enttäuschten Zuneigung spürbar wird, wie er für viele heile Familien so typisch ist.
Emma Richler: "Sister Crazy". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Angela Praesent. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2004. 340 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles verstehen heißt nicht alles verkraften: Emma Richlers doppelbödiger Familienroman "Sister Crazy"
Es gehört zu den Tragödien der menschlichen Existenz, daß uns in der Regel jene am schlimmsten verletzen, die unserem Herzen am nächsten sind. Deshalb sind auch Familien von jeher ein Hort nachhaltiger Kränkungen, die oft ein Leben lang währen. Aber gibt es auch den umgekehrten Fall? Gibt es wirklich "eine allzu glückliche Kindheit", wie es der deutsche Klappentext zu Emma Richlers Romandebüt "Sister Crazy" verheißt?
Zunächst deutet vieles darauf hin, daß auch dieses Buch eine jener "herrlich-verrückten", aber letztlich harmlosen Familiengeschichten erzählt, wie man sie zu Dutzenden aus dem Vorabendprogramm der Fernsehunterhaltung kennt. Auf dem in rosarot gehaltenen Umschlag sieht man ein sommersprossiges Mädchen im Teenageralter, das pfiffig einen Mädchen-Überlegenheits-Flunsch zieht. Das ungewöhnliche Format erinnert von der Größe her an ein Poesie-Album. Und die Ich-Erzählerin Jemima Weiss, eine Frau Mitte Dreißig, gesteht gleich zu Beginn, daß sie am liebsten noch einmal ein Kind sein würde: "Ich sehne mich nach meinem alten Ich", klagt sie. "Nun vermisse ich solche Dinge wie Entschiedenheit und Gewißheit, Anfang und Ende. Im Erwachsenenleben gibt es nur wenige Grenzlinien. In meinen Augen ist es ein gewaltiges Schlachtfeld mit sich ständig verschiebenden Fronten."
Man könnte solche Sätze als Bekenntnis einer Nesthockerin lesen. Offenbar hat Jemima, die sich selbst "Sister Crazy" nennt, den Auszug aus dem Elternhaus noch immer nicht verdaut und vermißt die Gewißheiten ihrer Kindheit. Wie schwerwiegend ihre Krise allerdings wirklich ist, wird erst nach gut fünfzig Seiten klar, als von einem Selbstmordversuch die Rede ist. Seit ihrer Pubertät, erfährt man nun, ist die Erzählerin wegen Depressionen in therapeutischer Behandlung. Auch mit der Liebe und der Karriere scheint es nicht gerade bestens zu laufen. Doch alle diese Details einer eher unerfreulichen Gegenwart werden allenfalls angedeutet. "Dunkle Zeiten liegen hinter mir", erklärt sie einmal, "ich habe meinen Handgelenken mit großen, scharfen Messern zornige, präzise Schnitte zugefügt, und meine Mutter möchte wissen, warum." Eine Frage, die die Tochter strikt unbeantwortet läßt, denn die jüngste Vergangenheit meidet Jemima. Immer wieder flüchtet sie in ein Damals und in die Erinnerung an ihre Kindheit, die so für die psychisch angeschlagene Protagonistin zu einer Art letztem Haltepunkt ihrer ins Wanken geratenen Identität wird.
Allein, so behaglich wirkt diese vergangene Kindheit bei genauerem Hinsehen gar nicht. Da mag der Tonfall stellenweise noch so wehmütig-sehnsuchtsvoll klingen, wenn Jemima in sieben nur lose miteinander verbundenen Kapiteln ihre Zeit als Neun- und Vierzehnjährige noch einmal heraufbeschwört. Im Grunde lesen wir den Bericht eines unglücklichen schwarzen Schafes, das meist vergeblich um familiäre Anerkennung buhlte. Das Unglück beginnt schon mit einer ungünstigen Position in der Geburtenfolge. Jemima wuchs nämlich (in auffälliger Übereinstimmung mit der Autorin) als drittes von fünf Kindern einer kanadischen Autorenfamilie auf, als ein klassisches Sandwich-Kind also, das die Eltern dann - ebenso klassisch - vernachlässigen, ohne dies zu bemerken.
Nicht genug, daß es grundsätzlich immer Jemima war, die der Vater zur lästigen Hausarbeit abkommandierte. Sie mußte auch früh mütterliche Aufsichtspflichten für ihre jüngere Schwester Harriet übernehmen. Das Schlimmste von allem aber war, daß die Eltern das Mädchen ausgerechnet auf eine strenge katholische Nonnenschule schickten, obwohl der Vater Jude und die Mutter Protestantin war. So mußte Jemima nicht nur Spott und Bosheit der Betschwestern ertragen, die in ihr eine halbjüdische "Jesusmörderin" sahen, sondern fand sich endgültig zwischen allen Stühlen wieder: Weder war sie ganz Christin noch ganz Jüdin. Weder geachtete älteste Tochter noch verhätscheltes Nesthäkchen. Weder voller Mutterersatz noch lediglich nur Kind.
Jemima selbst sieht ihr Aufwachsen freilich mit anderen Augen. Die Erzählerin fühlt sich ihren Eltern und Geschwistern viel zu sehr verpflichtet, um auch nur ein schlechtes Wort über sie zu verlieren. Der Gedanke, daß sie einst zu kurz gekommen sein könnte, kommt Sister Crazy gar nicht in den Sinn. Statt dessen zeichnet sie das Bild einer Familie voller skurril-sympathischer Sonderlinge, denen man letztlich nie wirklich böse sein konnte. Da ist etwa die jüngere Schwester Harriet, die sofort Schreikrämpfe bekam, sobald sich auf ihrem Teller zwei verschiedene Nahrungsmittel miteinander vermischten: für Jemima, die familiäre Allesversteherin, verständlicher Ausdruck eines kindlichen Kontrollwunsches, "bevor das Chaos des Kauens und Verdauens einsetzt".
Oder da ist der Vater, ein rauhbauziger "Sportautor" für Zeitungen, der gern Whiskey trinkt, auf defekte Geräte einschlägt und seine Kinder beim Zocken regelmäßig ums Taschengeld prellt: für Jemima ist das alles entschuldbar, schließlich handelt es sich um das Normalverhalten eines "Cowboys". Und da ist schließlich der fünfzehn Monate ältere Bruder Jude, mit dem die Schwester einst akribisch alle Schlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nachspielte. Jude, den die Erzählerin gern als ihren "Zwilling" bezeichnet, brachte den infantilen Militärkosmos eines Tages unverhofft durch eine Barbie-Puppe zum Einsturz. "Ich wurde albern", erinnert sich Jemima, "und stellte die Szene als das bloß, was sie war - eine sexuelle -, und Jude stapfte wütend davon."
Mit dem Einzug der Erotik endet das Kinderspiel, die Trennung vom innig geliebten Bruder wird unvermeidlich. Doch statt wenigstens hier einmal wütend auf den flüchtigen "Zwilling" zu werden, gibt sich die Schwester erneut merkwürdig verständnisvoll: "Ich ließ Jude ziehen", schreibt sie, "weigerte mich aber, in ihm einen Deserteur zu sehen." Es ist genau diese Stimme einer eigentlich zutiefst Gekränkten, die ihre Kränkungen jedoch nicht eingestehen möchte, ohne sie zugleich ganz verbergen zu können, die in Richlers Roman eine fast sogartige Spannung erzeugt.
Man ahnt früh, daß Jemima nicht die volle Wahrheit sagt, daß sie gewisse Erfahrungen ihrer Vergangenheit ausblendet oder schönredet. Waren ihre Gefühle für Jude mehr als nur schwesterlich? Wahrscheinlich ist auch ihr Kummer darüber, daß sich der Vater inzwischen von ihr losgesagt hat, viel größer, als sie zugeben möchte. Doch Sister Crazy trägt ihren Namen nicht umsonst. Und so klingen manche ihrer Sätze wie jene rotzigen, herzzerreißenden Sprüche angeschossener Revolverhelden, die noch einmal großmütig alle Schuld der Welt auf sich nehmen, bevor sie endgültig die Augen schließen. So erzählt Jemima etwa, daß sie für ihren Vater immer noch eine Flasche seines Lieblingswhiskeys aufbewahrt: "Die Flasche ist für ihn, falls er einmal vorbeikommt, aber obwohl ich nicht sehr weit von ihm entfernt wohne, kommt er nie. Das geht schon in Ordnung, denn er könnte ja doch einmal kommen."
Emma Richler ist das dritte Kind des kanadischen Schriftstellers Mordecai Richler, und es liegt nahe, in Sister Crazy zumindest eine Seelenverwandte der Autorin zu sehen, wenn nicht gar ein Selbstporträt. Als ihr erster Roman vor drei Jahren erschien, wurde er in den englischen, amerikanischen und kanadischen Kritiken schnell als "Liebeserklärung an die Familie" gefeiert. Das trifft die Sache und geht zugleich an ihr vorbei. Denn Jemima beschwört und verteidigt etwas, was sie mehr vermißt als erlebt hat. Als Verfechterin der family values taugt sie nur bedingt. Ihr Bericht fesselt aber nicht zuletzt deswegen, weil hinter all seiner Komik und Liebenswürdigkeit immer auch der Schmerz der enttäuschten Zuneigung spürbar wird, wie er für viele heile Familien so typisch ist.
Emma Richler: "Sister Crazy". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Angela Praesent. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2004. 340 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Prosa von verführerisch atemloser Qualität, Emma Richler ist 'Sister Talent'." (Times Literary Supplement)