Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Seitenzahl: 159
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 197g
  • ISBN-13: 9783827001351
  • ISBN-10: 3827001358
  • Artikelnr.: 05795281
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.1995

Ein Pappenheim
"Sisyphos" auf dem Wörterberg: Erzählungen von Lutz Rathenow

Frei nach Tucholsky, der einst über Karl Heinrich Waggerl sagte, es gebe da einen jungen Mann in Österreich, der sämtliche Romane von Knut Hamsun noch einmal schreibe, könnte man jetzt behaupten: Es gibt da einen (nicht mehr ganz so jungen) Mann in Berlin, Lutz Rathenow heißt er, der die Prosa von Günter Kunert noch einmal geschrieben hat.

Mit seinem großen Vorbild verbindet ihn nicht nur eine Neigung zur absurden Allegorie; er teilt mit ihm auch die ironische Weltsicht, die herbstmilde Skepsis und das Generalthema. Rathenows alte und neue Erzählungen, die jetzt unter dem Titel "Sisyphos" gebündelt erschienen sind, handeln also, verschlüsselt oder unverschlüsselt, fast ausschließlich von jenem stacheldrahtumzäunten Erziehungsheim, das sich offiziell als Deutsche Demokratische Republik bezeichnen ließ.

So berichtet der Autor über den nationalen Notstand, der ausbricht, als das "Zentralorgan" unerwartet magische Fähigkeiten entwickelt (wer die Zeitung zu einem Tschako faltet und aufsetzt, verschwindet). Er erzählt von dem Staatsratsvorsitzenden, der sich weigert, den eigenen Hut zu grüßen, und prompt von seinen knechtseligen Untertanen gelyncht wird. Und Rathenow erfindet einen metaphorischen Kleingärtner, der, aus Angst vor Schädlingen, seinen Garten vollkommen zerstört, am Ende gar Minitretminen für Ameisen auslegt.

Mit Kunert verbindet Lutz Rathenow unter anderem, daß seine Erzählungen oftmals überarbeitet, umgeschrieben, neu angefangen wurden. Man sieht beim Lesen die eifrige Zungenspitze zwischen den Zähnen des Autors. Das ist, für sich genommen, noch kein Qualitätsurteil. In jenen Erzählungen, die abstrakt allegorisch sind, ist es nicht einmal schlecht, daß die Sprache dermaßen künstlich wirkt: Die Form ist starr und der Inhalt aus einem Guß.

Anders verhält es sich dort, wo Lutz Rathenow versucht, klassische Kurzgeschichten zu schreiben, wo er seine Kindheit wieder lebendig werden lassen will. Dort umstellt die erstarrte Syntax das Erzählte wie einst die Mauer die Bewohner der DDR; und nichts, kein sinnlicher Eindruck, keine emotionale Erschütterung entkommt dem geschlossenen System. So hat es durchaus seine Berechtigung, daß dieses Buch "Sisyphos" heißt: Immer aufs neue wird der bedeutungsschwere Stein den Wörterberg hinaufgewälzt. Doch auf dem Gipfel zeigt sich immer wieder, daß er aus Pappmaché besteht. HANNES STEIN

Lutz Rathenow: "Sisyphos". Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 1995. 160 S., geb., 32,- DM.

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