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Studentenunruhen, Mitbestimmungsgesetz, Kohlekrise, Verjährungsfrage oder die Wahlerfolge der NPD: Die sechziger Jahre gelten als Umbruchphase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik. Den Kulminationspunkt dieser Entwicklung bildet die Regierungszeit der ersten Großen Koalition. Am Ende des innen- wie außenpolitisch ereignisreichen Jahrzehnts wird die SPD erstmals den Bundeskanzler stellen. Die Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion gewähren Einblick in den Entstehungsprozess wegweisender Gesetzesprojekte wie Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassungs- oder Strafrechtsreform wie auch in die…mehr

Produktbeschreibung
Studentenunruhen, Mitbestimmungsgesetz, Kohlekrise, Verjährungsfrage oder die Wahlerfolge der NPD: Die sechziger Jahre gelten als Umbruchphase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik. Den Kulminationspunkt dieser Entwicklung bildet die Regierungszeit der ersten Großen Koalition. Am Ende des innen- wie außenpolitisch ereignisreichen Jahrzehnts wird die SPD erstmals den Bundeskanzler stellen. Die Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion gewähren Einblick in den Entstehungsprozess wegweisender Gesetzesprojekte wie Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassungs- oder Strafrechtsreform wie auch in die Funktionsmechanismen der Großen Koalition. Für die Geschichte der SPD auf ihrem Weg von der Opposition zur Regierungspartei sind sie eine unverzichtbare Quelle.
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Autorenporträt
Bettina Tüffers, 1970 in Frankfurt geboren, studierte Geschichte und Anglistik in Frankfurt und Berlin. Magisterabschluss 1996 mit einer Arbeit über den Frankfurter Stadtkämmerer Friedrich Lehmann. Trägerin des Johann Philipp von Bethmann-Studienpreises 1998. Redaktionelle Mitarbeit an Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission und der Gesellschaft für Frankfurter Geschichte e.V.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2009

"Streit nur, wenn wir dabei Erfolg haben"
Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag während der ersten Großen Koalition

Siebzehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik erlangte die SPD 1966 erstmals Regierungsverantwortung im Bund. Der Koalition mit der Union war laut Kurt Georg Kiesinger, dem neuen Regierungschef, eine "lange, schwelende Krise" vorausgegangen. Die Hoffnung war groß, das unter dem weithin glücklosen Kanzler Ludwig Erhard ins Schlingern geratene Staatsschiff wieder auf Kurs zu bringen und die angestauten Probleme zu lösen: in der Außenpolitik das gestörte Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zu Frankreich, die Stagnation in der Deutschland- und Ostpolitik, in der Innenpolitik ein Haushaltsdefizit von drei Milliarden und eine Konjunkturdelle, die die Arbeitslosenzahl auf über 600 000 ansteigen ließ.

Zwar wäre nach dem Zerfall der schwarz-gelben Regierung und dem Rücktritt Erhards eine SPD/FDP-Koalition möglich gewesen, doch galt die FDP als unzuverlässiger Wackelkandidat, deren politischer Kurs - so SPD-Fraktionsvorsitzender Helmut Schmidt am 11. April 1967 - kaum vorhersehbar sei. Von der Großen Koalition erwartete er, dass "beide Parteien, und wir mehr als die anderen, einen großen Ansehensgewinn aus drei Jahren erfolgreicher Regierungsbeteiligung erzielen". Es ging der SPD bei ihrer Koalitionsentscheidung gegen die FDP und für die Union also weniger um ein kurzzeitiges Intermezzo als vielmehr um eine langfristige Verschiebung der Gewichte in der Republik zu ihren Gunsten.

Zwar war das von Herbert Wehner und einigen Unionsspitzen seit 1962 beharrlich vorbereitete Bündnis in Teilen der SPD wie auch der CDU und CSU höchst unbeliebt. Dennoch gelang es den ungleichen Koalitionspartnern, die in 17 Jahren erstarrten parteipolitischen Konfrontationsmuster aufzubrechen und in den verbleibenden drei Jahren der Wahlperiode mit über verabschiedeten 400 Gesetzen einen erstaunlichen Reformprozess in Gang zu setzen. Die wirtschaftliche Rezession wurde überwunden, die schwierige Lage der Bundesfinanzen bereinigt, Sozialordnung und Strafrecht wurden reformiert, neue Impulse gab es auch in der Außen-, Deutschland- und Ostpolitik. Auf der Habenseite konnte die Koalition auch die Notstandsgesetzgebung, die Neuordnung der Gemeinschaftsaufgaben und die Finanzverfassungsreform von 1969 verbuchen.

Heftig umstritten war in der SPD-Fraktion die Notstandsverfassung, die vor allem gewerkschaftlich orientierte Abgeordnete im Einklang mit dem DGB zunächst ablehnten, was Schmidt zu der Bemerkung veranlasste, eine gespaltene Loyalität zwischen Fraktion und DGB könne es nicht geben. Bei der Verabschiedung des Gesetzeswerks im Bundestag stimmten dennoch 53 SPD-Abgeordnete dagegen, also ein Viertel der Fraktion. Nicht zustande kam eine Wahlrechtsänderung, die Kiesinger in seiner Regierungserklärung in Aussicht gestellt hatte. Schmidt dämpfte diese Erwartung sofort mit dem Hinweis, seine Fraktion sei zwar zur Prüfung eines relativen Mehrheitswahlrechts bereit, aber in dieser Frage nicht festgelegt. Die Fraktion überließ die Entscheidung dem Nürnberger Parteitag von 1968, der die Angelegenheit faktisch vertagte.

Konfliktbeladen war vor allem die Außen-, Deutschland- und Ostpolitik. Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt und die Fraktion waren von vornherein bestrebt, die eigenständige Position der SPD gegenüber dem Koalitionspartner in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, gleichzeitig aber auch die FDP zu schonen, um die Möglichkeit einer zukünftigen Kooperation offenzuhalten. Zum Lackmustest wurde die Frage der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags, die die SPD befürwortete, die CDU/CSU aber vehement ablehnte. Spätestens nach der Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im März 1969 erodierte die Große Koalition. Schmidt äußerte aber die Erwartung, die letzten Parlamentswochen "ohne allzu viel Emotionen zu überstehen": "Streit nur, wenn wir dabei Erfolg haben." In den beiden letzten Fraktionssitzungen nach der Bundestagswahl wurden bereits die Weichen für eine Koalition mit den Liberalen gestellt.

Galt die Regierung Kiesinger lange Zeit als "vergessene Regierung" (Reinhard Schmoeckel), so ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Arbeiten erschienen, die diese Phase der bundesdeutschen Geschichte nicht mehr nur als "Intermezzo" oder gar als Auftakt zur 13-jährigen sozialliberalen Regierungszeit erscheinen lassen, sondern als einen der "interessantesten, vielfältigsten und widersprüchlichen Abschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik" (Klaus Schönhoven). Der Nutzwert der Edition der SPD-Fraktionsprotokolle liegt sicher nicht in der Aufdeckung wesentlich neuer Tatbestände; sie bietet aber eine Fülle von Einsichten in die Organisation, Willensbildung und Gruppenarithmetik der Fraktion, die sich als einer der Hauptakteure in der Großen Koalition zunächst auf die Herausforderung, nun nicht mehr nur opponieren zu können, einzurichten hatte. Dafür bieten die Protokolle hervorragendes Anschauungsmaterial.

Die Mitschriften der 94 Sitzungen, bei denen es sich im Gegensatz zu den Wortprotokollen der CDU/CSU-Fraktion in der weit überwiegenden Mehrzahl um Verlaufsprotokolle handelt, dokumentieren den Wandlungsprozess von der Oppositions- zur Regierungsfraktion, den Alltag der parlamentarischen Arbeit, die internen Kontroversen, die unterschiedlichen Phasen guter und erfolgreicher Kooperation, aber auch die Differenzen mit der CDU/CSU-Fraktion, die je länger je mehr an Schärfe zunahmen. Ergänzt werden die von unterschiedlichen Schriftführern verfassten Protokolle durch komplette Redebeiträge - etwa von Brandt, Schmidt und Wehner -, bei denen man sich hin und wieder intensivere redaktionelle Eingriffe gewünscht hätte, sowohl was offensichtliche Hörfehler ("Rechtenversicherungen" statt "Rentenversicherungen") wie eine teilweise sinnentstellende Interpunktion betrifft.

Die Zusammenarbeit mit dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Rainer Barzel, wird positiv gewürdigt. Auch an der Amtsführung Kiesingers wurde selten Kritik geübt, hatte doch Schmidt von vornherein klargestellt, dass der Kanzler seine Richtlinienkompetenz "nur immer mit der Zustimmung seines Vizekanzlers" ausüben könne, "wenn er nicht einen Bruch riskieren will". Nicht ohne Grund bezeichnete der stellvertretende Regierungssprecher Conrad Ahlers (SPD) den Kanzler deshalb als "wandelnden Vermittlungsausschuss".

GÜNTER BUCHSTAB

Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1966-1969. Eingeleitet und bearbeitet von Bettina Tüffers. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Band 8/IV. Droste Verlag, Düsseldorf 2009. 850 S., 140,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dass die Ära Kiesinger nicht mehr unterschätzt, sondern inzwischen in einer Vielzahl von Arbeiten gewürdigt wird, macht diesen Band für Günter Buchstab noch längst nicht überflüssig. Seinen Nutzwert erkennt er nicht in der Aufdeckung neuer Tatbestände, sondern in den gebotenen Einsichten in Organisation, Willensbildung und Gruppenarithmetik der SPD-Fraktion. Ferner dienen ihm die Sitzungsprotokolle als hervorragendes Anschauungsmaterial dafür, wie sich die Fraktion unter Kiesinger von der Opposition in die Regierung verwandelte und wie der parlamentarische Arbeitsalltag aussah. Betreffend die ebenfalls im Band enthaltenen Redebeiträge von Brandt, Schmidt oder Wehner hätte er sich eine beherztere redaktionelle Arbeit gewünscht. Der ein oder andere Hörfehler und manch "sinnentstellende Interpunktion" wäre ihm erspart geblieben.

© Perlentaucher Medien GmbH