Das Wort der Wissenschaft hat in der Öffentlichkeit Gewicht. Umso attraktiver ist es für demokratisch gewählte Politiker, sich bei ihren Entscheidungen auf Experten zu berufen. Experten erhalten dadurch eine privilegierte Position in der Gesellschaft, und es mehren sich Stimmen, die vor dem Umkippen der Demokratie in eine »Expertokratie« warnen. Die Auswirkungen für die Wissenschaft finden dabei kaum Beachtung. Ihre Vertreter eignen sich als Skandalfiguren, an denen sich der Volkszorn abreagieren und die Politik schadlos halten kann - eine Entwicklung, die für die ganze Wissenschaft, gerade in antielitären Zeiten, zur Gefahr zu werden droht. In seiner großen Untersuchung rekonstruiert Caspar Hirschi die Geburt des Experten im Frankreich Ludwigs XIV. und veranschaulicht an faszinierenden »Expertenskandalen« aus Geschichte und Gegenwart, welche Risiken eine an politischen Interessen ausgerichtete Wissenschaft eingeht. Eine brisante Analyse mit wissenschaftspolitischer Sprengkraft und ein wichtiger Baustein für die Selbstkritik einer Wissenschaft, deren Vertreter den Platz am Tisch der Entscheider der Rolle des öffentlichen Kritikers immer häufiger vorziehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Im Zweifel sind Irritationen zu vermeiden
Von der Schwierigkeit, zugleich der Wissenschaft und der Politik zu dienen: Caspar Hirschi untersucht die Rolle wissenschaftlicher Experten und kommt zu beunruhigenden Befunden.
Von Helmut Mayer
Experten sind aus der demokratischen politischen Szenerie nicht fortzudenken. Zwar kann es mittlerweile durchaus sein, dass Politiker gegen sie als Komplizen der Elite wettern, um sich als Repräsentanten unverbildet volksnahen Empfindens zu geben. Doch ändert eine solche populistische Selbstinszenierung nichts daran, dass auch sie Experten brauchen, sobald sie ans Steuer kommen. Bloß rücken im populistischen Fall die Experten hinter die Kulissen, während sie im eingespielten demokratischen Normalfall von wissenschaftlicher Politikberatung in Gremien und Kommissionen aller Art auf öffentlicher Bühne agieren. Nur deshalb können sie auch von der Politik herangezogen werden, um Entscheidungen öffentlich zu legitimieren: als abgesichert durch das Urteil unabhängiger - also nicht in den Verwaltungsapparat integrierter - wissenschaftlicher Expertise.
Es ist klar, dass es dabei auch um Entlastung der regierenden politischen Akteure geht - ihr Vorteil liegt auf der Hand. Zumindest, wenn sie gesonnen sind, dem Expertenrat zu folgen. Das fällt leichter, wenn dafür gesorgt ist, dass sie mit diesem Rat gut leben können, was zumeist der Fall ist. Sei es, weil die Experten sich an Erwartungen und Handlungsspielräume auf politischer Seite halten, sei es, weil ihre divergierenden Einschätzungen auf ein Kompromissvotum hinauslaufen, das sich politisch problemlos verarbeiten lässt.
Die Frage ist natürlich, wie die Experten bei diesen Übungen abschneiden, zugleich der Wissenschaft und demokratischer Politik zu dienen. Es ist die Frage, der Caspar Hirschi in seinem unmittelbar nach der Buchmesse erscheinendem Buch über Expertenskandale nachgeht. Wie der Titel ahnen lässt, sieht er die Experten dabei manchen Gefahren ausgesetzt, mit Folgen für die Wahrnehmung von Wissenschaft. Hirschi setzt bei der Diagnose an, dass auf ein Abflauen der Technokratiekritik in den achtziger Jahren eine Konjunktur der Experten gefolgt sei, die ihrerseits nicht selten Expertenschelte nach sich zieht. Um zu erhellen, was es mit diesem Umschlagen auf sich hat, rollt er fünf Fallbeispiele auf. Zwei von ihnen sind dabei aus der jüngsten Vergangenheit genommen; sie rahmen einen Gang zurück in die Geschichte, der bis ins Frankreich Ludwigs XIV. reicht.
Dort nämlich sieht Hirschi die Rolle des Experten im modernen Sinn entstehen, hervorgetrieben durch die Reformen von Ludwigs Finanzminister Colbert, die aus dem gerichtlichen Sachverständigen einen (meist) vom Staat alimentierten Fachmann machen. Wobei die Akademien eine prominente Rolle spielen, insbesondere die Académie des Sciences, die im achtzehnten Jahrhundert zur wichtigsten Expertenbehörde, gleichzeitig auch zu einer Art Patentamt, Frankreichs wird.
Mit der Pariser Académie hat auch gleich der erste von Hirschis historischen Fällen zu tun: die Auseinandersetzung um Franz Anton Mesmers "animalischen Magnetismus" im vorrevolutionären Paris. Denn über ihn bricht letztlich, auf Wunsch aus Versailles, das die zum Politikum gewordenen Aktivitäten Mesmers abgestellt sehen möchte, eine prominent besetzte Académie-Kommission den Stab. Nicht ohne methodische Raffinesse, aber mit vorab feststehendem Ergebnis. Der Sieg ist klar, doch eben doch nicht so ganz, denn er trägt zum Bild der Académie als Hort des eingebunkerten Establishments bei, das abzuschütteln sie sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemühen wird.
Etwa zwei Jahrzehnte zuvor macht Voltaire aus der Affäre Calas - die Hinrichtung eines protestantischen Stoffhändlers in Toulouse, dem zur Last gelegt wurde, seinen Sohn wegen dessen beabsichtigten Übertritts zum Katholizismus ermordet zu haben - seinen großen Fall, um religiösen Fanatismus anzuprangern. Voltaire gewinnt ihn, das Urteil wird schließlich in Paris kassiert, Calas post mortem rehabilitiert. Aber die Experten, die sich in diesem Indizienprozess äußerten, das zeigt Hirschi im Detail, lebten genauso über ihre epistemischen Verhältnisse wie Voltaire, der sich den nie aufgelösten Fall mit Gusto zurechtlegte.
Noch mehr gilt das für die fast zwei Dutzend Handschriftenexperten, die hundertdreißig Jahre später in der Affäre Dreyfus von Anklägern wie Verteidigern des jüdischen Generalstabsoffiziers herangezogen wurden. Hier ist es Zola, der zum Prototyp des öffentlichen Intellektuellen wurde - vor dem Hintergrund des in den Prozessen verschlissenem graphologischen Expertenwissens, wie Hirschi vorführt.
Der Sprung in die Gegenwart führt dann glücklicherweise über Frankreich hinaus. Ein englischer Fall dreht sich rund um den Pharmakologen David Nutt, der vor knapp zehn Jahren als Chef einer staatlichen Expertenkommission zur strafrechtlich relevanten Gefahrenklassifizierung von Drogen den Versuch machte, seine Einschätzungen - es ging vor allem um die Herabstufung der Gefährlichkeit von Psychedelika wie LSD oder Ecstasy (MDMA) - gegen die erklärte Drogenpolitik der Regierung in Stellung zu bringen. Womit er auf ganzer Linie scheiterte, zumal die Medien, die Nutt für die "Wahrheit über Drogen" einzuspannen suchte, ihrer eigenen Skandalisierungslogik folgten.
Im zweiten Skandal aus jüngster Vergangenheit geht es um eine italienische Expertenkommission, die im Frühjahr 2009 von der römischen Zivilschutzzentrale in die Abruzzen entsandt wurde, um dort die Bürger des Städtchens L'Aquila nach einer Serie von kleineren Beben zu beruhigen, die ein selbsternannter lokaler "Experte" zum Vorzeichen eines unmittelbar bevorstehenden großen Erdstoßes erklärt hatte. Die von Rom geforderte Beruhigung gelingt, mit medial kolportierten Festlegungen der Experten auf ein geringes Gefahrenniveau - und einige Tage später folgt ein Beben, das mehr als dreihundert Menschenleben kostet.
Im englischen Fall gibt ein eigensinniger Wissenschaftler der technokratischen Versuchung nach - und wird auf lehrreiche Weise in die Schranken gewiesen. Im italienischen Fall sind es dagegen willfährige und/oder naive Experten, die sich von der Politik benutzen lassen. Hier kommt es zum Strafprozess, in dem sie in erster Instanz schuldig gesprochen werden, den Tod von Einwohnern des Städtchens mitverschuldet zu haben, bevor sie im Revisionsverfahren freigesprochen werden. Dazwischen liegt eine Empörungswelle der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die die Justiz dafür anprangert, von Wissenschaftlern das Unmögliche sicherer Vorhersagen verlangt zu haben.
Worum es freilich, das zeigen Hirschis detaillierte Rekonstruktionen, gar nicht ging. Weshalb die Empörung der wissenschaftlichen Gemeinde wohlfeil war - und gleichzeitig aufschlussreich. Sie zelebrierte ein Bild der reinen Wissenschaft, das weder mit dem internen Prozedieren von Wissenschaft noch mit der Realität beratender Experten viel gemein hat. Gerade dadurch, diesen Zusammenhang sieht Hirschi ganz zu Recht, lädt sie zu einer Wissenschaftsfeindlichkeit ein, die ihre Interessen als "Skepsis" verbrämt. Obwohl von Hirschi nicht explizit angesprochen, stehen da natürlich nicht zuletzt die Kampagnen gegen die Klimawissenschaften im Hintergrund.
Hirschis Rekonstruktion der beiden Fälle ergibt eine exzellente, in ihren Folgerungen pointiert argumentierende Studie zur Rolle von Wissenschaft innerhalb demokratischer Öffentlichkeit. Die Verknüpfung mit den historischen Fällen, die der Autor besonders hervorhebt - bis hin zu einer Philippika gegen seine historische Zunft, der er die "Verwandlung der Vergangenheit in eine exotische Gegenwelt" vorwirft -, ist dramaturgisch geschickt vorgenommen. Ihre Beitrag zur Erhellung des gegenwärtigen Expertenwesens wird man zwar nicht unbedingt hoch ansetzen wollen, aber sie sind exzellent und vor allem gegen den Strich üblicher Lesarten erzählt. Vor allem bei der Affäre Calas, aber auch in der Darstellung der Dreyfus-Affäre unter dem ( engen) Blickwinkel auf die beigezogenen Schriftexperten ist das erhellend.
Zum Schluss wechselt Hirschi noch einmal das Terrain, hin zum Wissenschaftsbetrieb selbst. Ein heikler Übergang, doch Hirschi sieht hier "analoge Mechanismen" am Werk, nämlich die Etablierung unangreifbarer wissenschaftsinterner Expertengremien, die dafür sorgen, dass wissenschaftspolitische Entscheidungen umgesetzt werden. Der Mechanismus, der in seinen Augen dafür sorgt, dass diese Umsetzung störungsfrei hinter den Kulissen in einer Art Black Box abläuft, ist das Peer-Review-Verfahren, getragen von anonym über Forschungsleistungen und -anträge gutachtende Fachkollegen.
An der Anonymität dieses Verfahrens, das gerne als alternativloser Garant wissenschaftlicher Qualitätssicherung in Zeiten unübersichtlicher Forschungslandschaften dargestellt wird, lässt Hirschi kein gutes Haar. Was es hervorbringe, sei eine Wissenschaftskultur der Irritationsvermeidung, weitgehend ohne öffentliche Einspruchsmöglichkeit steuerbar und zudem bestens angepasst an das - zumindest in den MINT-Fächern - über wissenschaftliche Reputation entscheidende System der Rankings nach Publikationsorten und Zitierhäufigkeit. Was dabei unter die Räder komme, sei die Rolle des Wissenschaftlers als Kritiker, innerhalb wie außerhalb des Fachs.
Man darf gespannt sein auf die Debatten, die Hirschi mit dieser Kritik auslöst. Aufmerksamkeit verdient dieses Buch jedenfalls - vor allem wegen der Entschiedenheit, mit der es auf die Gegenwart ausgerichtet ist: Sollte die historische Zunft das wirklich so unmöglich finden, wie Hirschi ihr unterstellt, könnte der Streit heftig werden.
Caspar Hirschi: "Skandalexperten, Expertenskandale". Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 300 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Schwierigkeit, zugleich der Wissenschaft und der Politik zu dienen: Caspar Hirschi untersucht die Rolle wissenschaftlicher Experten und kommt zu beunruhigenden Befunden.
Von Helmut Mayer
Experten sind aus der demokratischen politischen Szenerie nicht fortzudenken. Zwar kann es mittlerweile durchaus sein, dass Politiker gegen sie als Komplizen der Elite wettern, um sich als Repräsentanten unverbildet volksnahen Empfindens zu geben. Doch ändert eine solche populistische Selbstinszenierung nichts daran, dass auch sie Experten brauchen, sobald sie ans Steuer kommen. Bloß rücken im populistischen Fall die Experten hinter die Kulissen, während sie im eingespielten demokratischen Normalfall von wissenschaftlicher Politikberatung in Gremien und Kommissionen aller Art auf öffentlicher Bühne agieren. Nur deshalb können sie auch von der Politik herangezogen werden, um Entscheidungen öffentlich zu legitimieren: als abgesichert durch das Urteil unabhängiger - also nicht in den Verwaltungsapparat integrierter - wissenschaftlicher Expertise.
Es ist klar, dass es dabei auch um Entlastung der regierenden politischen Akteure geht - ihr Vorteil liegt auf der Hand. Zumindest, wenn sie gesonnen sind, dem Expertenrat zu folgen. Das fällt leichter, wenn dafür gesorgt ist, dass sie mit diesem Rat gut leben können, was zumeist der Fall ist. Sei es, weil die Experten sich an Erwartungen und Handlungsspielräume auf politischer Seite halten, sei es, weil ihre divergierenden Einschätzungen auf ein Kompromissvotum hinauslaufen, das sich politisch problemlos verarbeiten lässt.
Die Frage ist natürlich, wie die Experten bei diesen Übungen abschneiden, zugleich der Wissenschaft und demokratischer Politik zu dienen. Es ist die Frage, der Caspar Hirschi in seinem unmittelbar nach der Buchmesse erscheinendem Buch über Expertenskandale nachgeht. Wie der Titel ahnen lässt, sieht er die Experten dabei manchen Gefahren ausgesetzt, mit Folgen für die Wahrnehmung von Wissenschaft. Hirschi setzt bei der Diagnose an, dass auf ein Abflauen der Technokratiekritik in den achtziger Jahren eine Konjunktur der Experten gefolgt sei, die ihrerseits nicht selten Expertenschelte nach sich zieht. Um zu erhellen, was es mit diesem Umschlagen auf sich hat, rollt er fünf Fallbeispiele auf. Zwei von ihnen sind dabei aus der jüngsten Vergangenheit genommen; sie rahmen einen Gang zurück in die Geschichte, der bis ins Frankreich Ludwigs XIV. reicht.
Dort nämlich sieht Hirschi die Rolle des Experten im modernen Sinn entstehen, hervorgetrieben durch die Reformen von Ludwigs Finanzminister Colbert, die aus dem gerichtlichen Sachverständigen einen (meist) vom Staat alimentierten Fachmann machen. Wobei die Akademien eine prominente Rolle spielen, insbesondere die Académie des Sciences, die im achtzehnten Jahrhundert zur wichtigsten Expertenbehörde, gleichzeitig auch zu einer Art Patentamt, Frankreichs wird.
Mit der Pariser Académie hat auch gleich der erste von Hirschis historischen Fällen zu tun: die Auseinandersetzung um Franz Anton Mesmers "animalischen Magnetismus" im vorrevolutionären Paris. Denn über ihn bricht letztlich, auf Wunsch aus Versailles, das die zum Politikum gewordenen Aktivitäten Mesmers abgestellt sehen möchte, eine prominent besetzte Académie-Kommission den Stab. Nicht ohne methodische Raffinesse, aber mit vorab feststehendem Ergebnis. Der Sieg ist klar, doch eben doch nicht so ganz, denn er trägt zum Bild der Académie als Hort des eingebunkerten Establishments bei, das abzuschütteln sie sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemühen wird.
Etwa zwei Jahrzehnte zuvor macht Voltaire aus der Affäre Calas - die Hinrichtung eines protestantischen Stoffhändlers in Toulouse, dem zur Last gelegt wurde, seinen Sohn wegen dessen beabsichtigten Übertritts zum Katholizismus ermordet zu haben - seinen großen Fall, um religiösen Fanatismus anzuprangern. Voltaire gewinnt ihn, das Urteil wird schließlich in Paris kassiert, Calas post mortem rehabilitiert. Aber die Experten, die sich in diesem Indizienprozess äußerten, das zeigt Hirschi im Detail, lebten genauso über ihre epistemischen Verhältnisse wie Voltaire, der sich den nie aufgelösten Fall mit Gusto zurechtlegte.
Noch mehr gilt das für die fast zwei Dutzend Handschriftenexperten, die hundertdreißig Jahre später in der Affäre Dreyfus von Anklägern wie Verteidigern des jüdischen Generalstabsoffiziers herangezogen wurden. Hier ist es Zola, der zum Prototyp des öffentlichen Intellektuellen wurde - vor dem Hintergrund des in den Prozessen verschlissenem graphologischen Expertenwissens, wie Hirschi vorführt.
Der Sprung in die Gegenwart führt dann glücklicherweise über Frankreich hinaus. Ein englischer Fall dreht sich rund um den Pharmakologen David Nutt, der vor knapp zehn Jahren als Chef einer staatlichen Expertenkommission zur strafrechtlich relevanten Gefahrenklassifizierung von Drogen den Versuch machte, seine Einschätzungen - es ging vor allem um die Herabstufung der Gefährlichkeit von Psychedelika wie LSD oder Ecstasy (MDMA) - gegen die erklärte Drogenpolitik der Regierung in Stellung zu bringen. Womit er auf ganzer Linie scheiterte, zumal die Medien, die Nutt für die "Wahrheit über Drogen" einzuspannen suchte, ihrer eigenen Skandalisierungslogik folgten.
Im zweiten Skandal aus jüngster Vergangenheit geht es um eine italienische Expertenkommission, die im Frühjahr 2009 von der römischen Zivilschutzzentrale in die Abruzzen entsandt wurde, um dort die Bürger des Städtchens L'Aquila nach einer Serie von kleineren Beben zu beruhigen, die ein selbsternannter lokaler "Experte" zum Vorzeichen eines unmittelbar bevorstehenden großen Erdstoßes erklärt hatte. Die von Rom geforderte Beruhigung gelingt, mit medial kolportierten Festlegungen der Experten auf ein geringes Gefahrenniveau - und einige Tage später folgt ein Beben, das mehr als dreihundert Menschenleben kostet.
Im englischen Fall gibt ein eigensinniger Wissenschaftler der technokratischen Versuchung nach - und wird auf lehrreiche Weise in die Schranken gewiesen. Im italienischen Fall sind es dagegen willfährige und/oder naive Experten, die sich von der Politik benutzen lassen. Hier kommt es zum Strafprozess, in dem sie in erster Instanz schuldig gesprochen werden, den Tod von Einwohnern des Städtchens mitverschuldet zu haben, bevor sie im Revisionsverfahren freigesprochen werden. Dazwischen liegt eine Empörungswelle der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die die Justiz dafür anprangert, von Wissenschaftlern das Unmögliche sicherer Vorhersagen verlangt zu haben.
Worum es freilich, das zeigen Hirschis detaillierte Rekonstruktionen, gar nicht ging. Weshalb die Empörung der wissenschaftlichen Gemeinde wohlfeil war - und gleichzeitig aufschlussreich. Sie zelebrierte ein Bild der reinen Wissenschaft, das weder mit dem internen Prozedieren von Wissenschaft noch mit der Realität beratender Experten viel gemein hat. Gerade dadurch, diesen Zusammenhang sieht Hirschi ganz zu Recht, lädt sie zu einer Wissenschaftsfeindlichkeit ein, die ihre Interessen als "Skepsis" verbrämt. Obwohl von Hirschi nicht explizit angesprochen, stehen da natürlich nicht zuletzt die Kampagnen gegen die Klimawissenschaften im Hintergrund.
Hirschis Rekonstruktion der beiden Fälle ergibt eine exzellente, in ihren Folgerungen pointiert argumentierende Studie zur Rolle von Wissenschaft innerhalb demokratischer Öffentlichkeit. Die Verknüpfung mit den historischen Fällen, die der Autor besonders hervorhebt - bis hin zu einer Philippika gegen seine historische Zunft, der er die "Verwandlung der Vergangenheit in eine exotische Gegenwelt" vorwirft -, ist dramaturgisch geschickt vorgenommen. Ihre Beitrag zur Erhellung des gegenwärtigen Expertenwesens wird man zwar nicht unbedingt hoch ansetzen wollen, aber sie sind exzellent und vor allem gegen den Strich üblicher Lesarten erzählt. Vor allem bei der Affäre Calas, aber auch in der Darstellung der Dreyfus-Affäre unter dem ( engen) Blickwinkel auf die beigezogenen Schriftexperten ist das erhellend.
Zum Schluss wechselt Hirschi noch einmal das Terrain, hin zum Wissenschaftsbetrieb selbst. Ein heikler Übergang, doch Hirschi sieht hier "analoge Mechanismen" am Werk, nämlich die Etablierung unangreifbarer wissenschaftsinterner Expertengremien, die dafür sorgen, dass wissenschaftspolitische Entscheidungen umgesetzt werden. Der Mechanismus, der in seinen Augen dafür sorgt, dass diese Umsetzung störungsfrei hinter den Kulissen in einer Art Black Box abläuft, ist das Peer-Review-Verfahren, getragen von anonym über Forschungsleistungen und -anträge gutachtende Fachkollegen.
An der Anonymität dieses Verfahrens, das gerne als alternativloser Garant wissenschaftlicher Qualitätssicherung in Zeiten unübersichtlicher Forschungslandschaften dargestellt wird, lässt Hirschi kein gutes Haar. Was es hervorbringe, sei eine Wissenschaftskultur der Irritationsvermeidung, weitgehend ohne öffentliche Einspruchsmöglichkeit steuerbar und zudem bestens angepasst an das - zumindest in den MINT-Fächern - über wissenschaftliche Reputation entscheidende System der Rankings nach Publikationsorten und Zitierhäufigkeit. Was dabei unter die Räder komme, sei die Rolle des Wissenschaftlers als Kritiker, innerhalb wie außerhalb des Fachs.
Man darf gespannt sein auf die Debatten, die Hirschi mit dieser Kritik auslöst. Aufmerksamkeit verdient dieses Buch jedenfalls - vor allem wegen der Entschiedenheit, mit der es auf die Gegenwart ausgerichtet ist: Sollte die historische Zunft das wirklich so unmöglich finden, wie Hirschi ihr unterstellt, könnte der Streit heftig werden.
Caspar Hirschi: "Skandalexperten, Expertenskandale". Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 300 S., geb., 28,- [Euro].
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