Odo Marquard untersucht in Texten, die zwischen 1993 und 2007 entstanden sind und hier in Auswahl in seinem sechsten Band in der Universal-Bibliothek versammelt werden, Themen wie Theodizee, Freiheit, Optimismus oder Pluralismus - Themen also, die dem Autor besonders wichtig waren und sind. Weiterhin vertritt er dabei "eine endlichkeitsphilosophische Skepsis" - und zwar "ohne missionarischen Eifer".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2008Nerven behalten!
Überraschend aktuell ist Odo Marquard, wenn er gegen Angstübertreibung und gegen das Verlangen nach dem Ausnahmezustand schreibt.
Es müsste Odo Marquard freuen, dass seine Aufsätze schon heute eigentümlich blass wirken, hat er doch unermüdlich gegen die eine und ewige Wahrheit das Zeit- und Ortsgebundene des Denkens gesetzt. Und was bei anderen Professoren, mal unterhaltsam, mal geschwätzig, vom Thema wegführt, das autobiographische Reden, gehörte für ihn immer streng zur Sache. In der mittlerweile sechsten Reclamheftsammlung - zwischen 1994 und 2007 entstandener - philosophischer Studien findet sich eine tiefe Verbeugung vor dem Phänomenologen Wilhelm Schapp und seinem Hauptwerk "In Geschichten verstrickt": Menschen, das sind ihre Geschichten. Und Geschichten, das sind Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. "Wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen."
Der Zufall seiner Leistungen aber war, außer dem Lehrer Joachim Ritter, die alte Bundesrepublik. Er selbst nennt immer wieder die Achtundsechziger. Wenn es um die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung geht, um das Lob der Affirmation, um das kleine Jasagen, mag diese Selbsthistorisierung stimmen. Freilich betont er auch, dass er sich schon zehn Jahre vor '68 für die Probleme der Revolutionsphilosophien als säkularisierter Theodizeen interessierte. So könnte die eigentliche schreibantreibende Lebensgegnerschaft dem sozialtechnologischen Optimismus gegolten haben, der das Fundament der Wohlfahrtsgesellschaft bildete. Ein skeptisch gewordener Konservatismus als Feind und Bruder einer pragmatisch gewordenen zweiten Moderne.
Kompensation und Neutralisierung hießen und heißen die Parolen, und Pluralität war und ist das Ziel. Gegen die Beschleunigung des uniformisierenden technischen Fortschritts gilt es, auf den Eigensinn und die Beharrlichkeit individuellen Lebens zu setzen. Genau deshalb gehört zur Rationalität der Roman, gehören zu Galilei und Descartes Rabelais und Cervantes. Genau deshalb sind, kompensierend, neutralisierend, den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften gefolgt, die Marquard freilich einseitig als hermeneutisch bestimmt.
Allerdings geht es nicht nur darum, objektiv, in der Gesellschaft, die Pluralität zu fördern. Dann wäre Marquard wie einer der Sozialtechnologen, deren große geschichtsphilosophische Pläne er bekämpft. Und vielleicht ist er das tatsächlich ein wenig, gesteht er doch selber ein, dass seine Lehre von der Gleichgewichtskultur eine Halbwegs-Teleologie sei. Weit mehr jedoch schreibt er von der subjektiven Seite, nach der jedes Individuum eine Vielheit ist und sein soll. Möglichst viele Geschichten sollen wir in unserem Leben führen, denn durch die jeweils eine Geschichte erlangen wir Freiheit von der jeweils anderen Geschichte.
Wer sich die Pluralität der Philosophensprachen aneignet, heißt es in einem Aufsatz zum Sprachmonismus, wird dadurch frei von einer jeden und zugleich frei zu einer jeden. Vor allem die titelgebende Skepsis zielt auf Pluralität. Skeptiker ist nicht der, der gar keine Position hat, sondern zu viele, der mehrere Positionen vertritt, die einander neutralisieren, wo mehrere voneinander unabhängige Wirklichkeitsmächte existieren.
Ein Aufsatz zu Günther Anders bekundet Sympathie für dessen Gelegenheitsphilosophie und die Kreuzung von Metaphysik und Journalismus. Ein anderer Aufsatz begründet die Liebe zu Heine mit dessen Mut zur Inkonsequenz. Für ein Hauptwerk, heißt es im Vorwort, habe es wieder nicht gereicht. "Ein Schelm, der mehr gibt, als er hat." Doch da dürfte Marquard die Systematizität seines Denkens unter- und die Situativität seines Schreibens überschätzen. Aktuell, überraschend aktuell ist Marquard, wenn er gegen Angstübertreibung, Außerordentlichkeitsbedarf und das Verlangen nach dem Ausnahmezustand wettert. "Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet."
Nur an einer Stelle indes, einem Interview mit Jens Hacke, wird die geänderte Weltlage thematisch. "Ich räume ein, dass in der Pluralität der Lebensformen ein begrenztes Multikulti-Motiv steckt." Aber bedeutet das nicht, dass jetzt, wo das viele sichtbar den Alltag bestimmt, die Philosophen sich gerade umgekehrt um die Wahrheiten bemühen müssten, mit denen die Zentripetalität kompensiert, neutralisiert werden könnte?
GUSTAV FALKE
Odo Marquard: "Skepsis in der Moderne". Philosophische Studien. Reclam Verlag, Stuttgart 2007. 128 S., br., 4,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überraschend aktuell ist Odo Marquard, wenn er gegen Angstübertreibung und gegen das Verlangen nach dem Ausnahmezustand schreibt.
Es müsste Odo Marquard freuen, dass seine Aufsätze schon heute eigentümlich blass wirken, hat er doch unermüdlich gegen die eine und ewige Wahrheit das Zeit- und Ortsgebundene des Denkens gesetzt. Und was bei anderen Professoren, mal unterhaltsam, mal geschwätzig, vom Thema wegführt, das autobiographische Reden, gehörte für ihn immer streng zur Sache. In der mittlerweile sechsten Reclamheftsammlung - zwischen 1994 und 2007 entstandener - philosophischer Studien findet sich eine tiefe Verbeugung vor dem Phänomenologen Wilhelm Schapp und seinem Hauptwerk "In Geschichten verstrickt": Menschen, das sind ihre Geschichten. Und Geschichten, das sind Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. "Wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen."
Der Zufall seiner Leistungen aber war, außer dem Lehrer Joachim Ritter, die alte Bundesrepublik. Er selbst nennt immer wieder die Achtundsechziger. Wenn es um die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung geht, um das Lob der Affirmation, um das kleine Jasagen, mag diese Selbsthistorisierung stimmen. Freilich betont er auch, dass er sich schon zehn Jahre vor '68 für die Probleme der Revolutionsphilosophien als säkularisierter Theodizeen interessierte. So könnte die eigentliche schreibantreibende Lebensgegnerschaft dem sozialtechnologischen Optimismus gegolten haben, der das Fundament der Wohlfahrtsgesellschaft bildete. Ein skeptisch gewordener Konservatismus als Feind und Bruder einer pragmatisch gewordenen zweiten Moderne.
Kompensation und Neutralisierung hießen und heißen die Parolen, und Pluralität war und ist das Ziel. Gegen die Beschleunigung des uniformisierenden technischen Fortschritts gilt es, auf den Eigensinn und die Beharrlichkeit individuellen Lebens zu setzen. Genau deshalb gehört zur Rationalität der Roman, gehören zu Galilei und Descartes Rabelais und Cervantes. Genau deshalb sind, kompensierend, neutralisierend, den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften gefolgt, die Marquard freilich einseitig als hermeneutisch bestimmt.
Allerdings geht es nicht nur darum, objektiv, in der Gesellschaft, die Pluralität zu fördern. Dann wäre Marquard wie einer der Sozialtechnologen, deren große geschichtsphilosophische Pläne er bekämpft. Und vielleicht ist er das tatsächlich ein wenig, gesteht er doch selber ein, dass seine Lehre von der Gleichgewichtskultur eine Halbwegs-Teleologie sei. Weit mehr jedoch schreibt er von der subjektiven Seite, nach der jedes Individuum eine Vielheit ist und sein soll. Möglichst viele Geschichten sollen wir in unserem Leben führen, denn durch die jeweils eine Geschichte erlangen wir Freiheit von der jeweils anderen Geschichte.
Wer sich die Pluralität der Philosophensprachen aneignet, heißt es in einem Aufsatz zum Sprachmonismus, wird dadurch frei von einer jeden und zugleich frei zu einer jeden. Vor allem die titelgebende Skepsis zielt auf Pluralität. Skeptiker ist nicht der, der gar keine Position hat, sondern zu viele, der mehrere Positionen vertritt, die einander neutralisieren, wo mehrere voneinander unabhängige Wirklichkeitsmächte existieren.
Ein Aufsatz zu Günther Anders bekundet Sympathie für dessen Gelegenheitsphilosophie und die Kreuzung von Metaphysik und Journalismus. Ein anderer Aufsatz begründet die Liebe zu Heine mit dessen Mut zur Inkonsequenz. Für ein Hauptwerk, heißt es im Vorwort, habe es wieder nicht gereicht. "Ein Schelm, der mehr gibt, als er hat." Doch da dürfte Marquard die Systematizität seines Denkens unter- und die Situativität seines Schreibens überschätzen. Aktuell, überraschend aktuell ist Marquard, wenn er gegen Angstübertreibung, Außerordentlichkeitsbedarf und das Verlangen nach dem Ausnahmezustand wettert. "Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet."
Nur an einer Stelle indes, einem Interview mit Jens Hacke, wird die geänderte Weltlage thematisch. "Ich räume ein, dass in der Pluralität der Lebensformen ein begrenztes Multikulti-Motiv steckt." Aber bedeutet das nicht, dass jetzt, wo das viele sichtbar den Alltag bestimmt, die Philosophen sich gerade umgekehrt um die Wahrheiten bemühen müssten, mit denen die Zentripetalität kompensiert, neutralisiert werden könnte?
GUSTAV FALKE
Odo Marquard: "Skepsis in der Moderne". Philosophische Studien. Reclam Verlag, Stuttgart 2007. 128 S., br., 4,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine anregende Einführung in das Denken dieses "Verweigerers der Bürgerlichkeitsbewegung". -- Die Welt
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Erfreut zeigt sich Rezensent Uwe Justus Wenzel von diesem Reclam-Bändchen mit Essays des skeptischen Philosophen Odo Marquard, der heute achtzig wird. Die um die "Skepsis in der Moderne" kreisenden Aufsätze findet er wieder einmal glänzend und kurzweilig formuliert. Neben Überlegungen zum Stil hebt Wenzel die über den Sicherheitsverlust hervor, den der skeptische Ansatz nach sich zieht. Interessant scheint ihm Marquards Deutung der großen philosophischen Jargons im letzten Jahrhundert als Reaktion auf den Selbstsicherheitsverlust der Philosophie: Heideggers Jargon der Eigentlichkeit, Adornos Jargon der Authentizität oder auch der Jargon der analytischen Philosophie seien im Grunde "Selbstsicherheitssurrogate".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH