Die Frühe Neuzeit ist mehr und anderes als bloße Vormoderne. Nicht erst die aktuelle "Selbstsorge"-Diskussion hat deutlich gemacht, in welchem Ausmaß sich diese Epoche unter Rückgriff auf bestimmte hellenistische Denkfiguren zu verstehen suchte. Dabei ist ihr auffallendes Interesse an der antiken Skepsis eher unbemerkt geblieben. Ebensowenig scheint die - bei allen Differenzen der jeweiligen Verwandlungsgestalten - nur wenig gebrochene Überlieferungskontinuität des neuplatonischen Denkens bisher in das literaturwissenschaftliche Blickfeld gerückt zu sein. Das ist erstaunlich. Denn die frühneuzeitliche Literatur schöpft aus eben diesen Quellen. Sie nimmt mit bemerkenswerter Verve und zugleich mit guten, systematischen Gründen eine ganz neuartige imaginative Potenz in Anspruch, die sich sowohl fortdauernden platonisierenden Eigentlichkeitsobsessionen als auch einer skeptisch radikalisierten Kritik und Relativierung bisheriger Figurationen des Absoluten verdankt. Die hier vorgelegte Literaturgeschichte unternimmt es, in exemplarischen Lektüren einiger der berühmtesten und verschiedener weniger bekannten Texte im Gang von der Programmschrift der pyrrhonischen Skepsis über den Cusaner, Montaigne, Shakespeare und Cervantes bis zu Autorinnen der englischen Restaurationszeit zu zeigen, inwiefern skeptisch-platonisches Denken ein Wegweiser in die Literatur als eigenes Erkenntnismedium ist. Nicht zufallig erweist sich dabei die skeptische Pose mehr als einmal als melancholische. Und spätestens bei einer so notorischen Autorin wie Aphra Behn und in den Paradoxien von Leben und Werk der von Leibniz hochgeschätzten Philosophin Anne Conway zeichnen sich in der Fülle der Affären zwischen Skepsis und Imagination zudem überrraschende Affinitäten zwischen literarischer Suchbewegung und weiblicher Exzentrizität ab. Diese historische Profilierung einer systematischen Grundlegung frühneuzeitlicher Literatur zwischen Aporie und Gewißheit läßt die Texte sowohl in ihrer "Anders"- und Eigenheit als auch in ihren protomodernen Qualitäten - ob gender- oder kulturwissenschaftlich konturiert - neu wahrnehmbar werden.
Von derselben Autorin:
- Verena Olejniczak: Subjektivität als Dialog. Philosophische Dimensionen der Fiktion. Zur Modernität Ivy Compton-Burnetts; 468 Seiten. Geb. DM 138,-
ISBN 3-7705-2906-5, Reihe: Übergänge 27
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Von derselben Autorin:
- Verena Olejniczak: Subjektivität als Dialog. Philosophische Dimensionen der Fiktion. Zur Modernität Ivy Compton-Burnetts; 468 Seiten. Geb. DM 138,-
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2000Untergrabung der Gemeinplätze
Furiose Skepsis: Eine Studie über die Literatur der Frühen Neuzeit
Die Debatte über die Moderne als historische Epoche hat in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit für die Frühe Neuzeit geschärft. Dahinter stand die Annahme, Signaturen der Moderne würden sich nicht erst um 1800, sondern schon an der durch Michel Foucaults "Ordnung der Dinge" markierten Wissensschwelle um 1600 finden. Dass die zweihundert Jahre zwischen Spätrenaissance und Spätaufklärung eine geringere Distanz vermessen als bis dahin angenommen, mag an dem Umstand liegen, dass in beiden Epochen das philosophische Wissen unter zunehmenden Konkurrenzdruck durch die Literatur geraten ist. Die Tübinger Anglistin Verena Olejniczak Lobsien hat nun dieses Konkurrenzverhältnis zum Anlass genommen, den Topos von der Frühen Neuzeit als "Vormoderne" neu zu bestimmen.
Anstoß für das Unternehmen, "eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur" - so der Untertitel - zu schreiben, ist die Beobachtung einer auffälligen Präsenz der antiken Skepsis, genauer: des auf den Griechen Pyrrhon von Elis (circa 360 bis 270 v.Chr.) zurückgehenden Pyrrhonismus, in Texten, die sich mit der Wissensordnung der Zeit überwerfen. Dazu gehören etwa Montaignes "Essais", Shakespeares "Hamlet" oder Cervantes' "Don Quijote". Dafür, dass vor allem poetische Texte die Grenzen der Wissensordnung strapazieren, sieht Lobsien einen zweifachen Grund: Einerseits markiert Literatur das einzige Feld, in dem theologisches oder philosophisches Systemwissen überschritten und in einer neuen Kombinatorik erprobt werden kann. Andererseits verzahnt sich in ihnen das inhaltliche Thema mit der Schreibpraxis. Skepsis, so Lobsien, sei eine Metaphilosophie und im eigentlichen Sinn ein "Modus der Literarisierung der Philosophie". Das Verfahren des Pyrrhonismus, Pro und Contra im Gleichgewicht zu lassen und sich des Urteils zu enthalten, wirkt nachhaltig gerade in einer Phase der Wissenskrise. Angeregt wird die Rezeption des Pyrrhonismus ab dem späten sechzehnten Jahrhundert zudem durch Henri Estiennes 1562 in Paris erschienene lateinische Übersetzung des systematischen Hauptwerkes der antiken Skepsis, der "Pyrrhonischen Hypotyposen" des Sextus Empiricus aus dem dritten Jahrhundert.
Für eine literarisierte Philosophie bietet das sechzehnte Jahrhundert ein mehr als ideales Terrain. Die zahllosen Exempla in Montaignes "Essais" sind symptomatisch für den ermüdenden Überschuss fremder Autoren in den Bibliotheken der Zeit. Und dennoch: Die Texte Montaignes stehen auch für jenes Verfahren, das die philosophische Tradition radikal gegen den Strich liest. Und dies im Bewusstsein der rhetorischen Schulung, die besagt, dass alles Wissen sprachlich ist. Dort aber, wo die Sprache ihren Verweischarakter verliert, führt sie zu einem eigenproduktiven und letztlich poetischen Wissenszweig. Wenn Shakespeares Hamlet befindet, die Welt sei aus den Fugen, so zeigt er an, dass die Durchgänge durch das traditionelle Wissensarchiv zu Leerläufen geworden sind.
Gerade im "Hamlet" wird für Lobsien deutlich, wie sich die Wissenskrise der Zeit Shakespeares mit der antiken Skepsis verbündet. Für den dänischen Prinzen ist weder Wissen noch Nichtwissen gesichert. Er befindet sich in der Situation des Skeptikers, der nicht zu entscheiden vermag zwischen der Gültigkeit einer Aussage und ihrem genauen Gegenteil. Doch anders als dieser sucht Hamlet im Widersprüchlichen nicht die Glückseligkeit einer vorurteilsfreien Lebensführung. Vielmehr ist er durch die unentschlüsselbare Zeichenwelt und das obsolet gewordene Wissenssystem zum Verzicht auf Urteile gezwungen. Die Unmöglichkeit, zu einem klaren Befund über den Königsmord zu gelangen, nötigt Hamlet, die Welt des Hofes aus seinem Inneren per Imagination neu zu schaffen, sein Wissen als Spiel zu arrangieren und schließlich über die theatralische Inszenierung Gewissheit zu suchen.
Das Modell für diesen Vorgang liefert die bei den Skeptikern eingesetzte Figur der Hypotypose: Ein Vorgang wird nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist oder geschehen sein könnte, vorgeführt; er wird, wie es auch Cicero in seinem "De oratore" erläutert, "vor Augen gestellt". Die Nötigung für ein solches Evidenzspiel Hamlets liegt im Auftritt des Geistes, der, so Lobsien, nicht der verstorbene König sei, sondern stets stellvertretend für diesen agiere. Nur über das, was vor dem geistigen Auge des dänischen Prinzen steht, ergibt sich letztlich der Auftrag zum Handeln. Wo aber alles gespielt werden muss, ist Verborgenes nicht endgültig zum Vorschein zu bringen. Insofern liefern Imagination und Phantasie zwar Möglichkeiten der Wirklichkeitserzeugung, indem sie die Kraft des Subjektiven gegen die starre rhetorische Wissensordnung in Gang setzen; doch die Hoffnung auf Gewissheit wird dadurch enttäuscht. Die antike Skepsis ist zu einer genuin vormodernen mutiert. Hamlets Drang zur Innerlichkeit mündet nicht im Urteil, Trug und Wahrheit bleiben ihm ununterscheidbar.
Die Wendung Hamlets von dem nach Wissensplätzen geordneten Erkenntnisprinzip zur Imagination und damit zur "neuen Innerlichkeit" bedarf Lobsien zufolge der Rechtfertigung. Shakespeare liefert sie durch die Einkleidung Hamlets in das Gewand des Melancholikers. Die Spaltung Hamlets in ein Ich, das durch die Aufforderung zur Rache zur festen Identität gezwungen wird, begründet letztlich das Aufkeimen der Melancholie und deren Verschränkung mit der Skepsis. Nur über den Entwurf einer aus der Phantasie geborenen anderen Welt wären Skepsis und Melancholie überwindbar. Doch Lobsien hebt hervor, dass dieses Überwindungspotential schon in der Melancholie selbst angelegt sei, denn Melancholie schließt das Moment der Manie als schöpferische Raserei und ekstatische Begeisterung ebenso ein wie den Hang zur selbstbezogenen Grübelei.
Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts setzt die Melancholie als Triebfeder für einen poetischen Furor an jenem Punkt ein, an dem sich überkommene Erfahrungsordnungen nicht mehr halten lassen. So meint Lobsien etwa in Don Quijotes Wahnsinn das manische Ingenium des Melancholikers zu erkennen, der gegen den Verlust der Ritterromanwelt durch Phantasie das Funktionieren ebendieser Welt fingiert. Dem Auseinanderbrechen von Worten und Dingen (hier folgt Lobsien streng der Don-Quijote-Lektüre Foucaults) setzt der Ritter von der traurigen Gestalt eine Anhäufung der Worte und damit noch einmal jene rhetorische Wissensform entgegen, die über das Prinzip der Fülle Verfügung über Gegenstände, Themen und Argumente herzustellen meint. Doch die (Text-)Welt des Don Quijote bleibt ohne Bezug zur Wirklichkeit. So führt der Schreibzwang letztlich zurück auf das aus Melancholie schreibende Subjekt.
Noch bevor das Subjekt im cartesianischen Zweifel zum Teil eines Systems avanciert, wird es von der Literatur um 1600 als prekäre Größe inszeniert. Die poetischen Texte an der Schwelle zur Neuzeit provozieren jene Fragestellungen, die zwischen Spätaufklärung und deutschem Idealismus auf der Tagesordnung stehen werden. Mit ihrem Buch bestätigt Lobsien die These von der frühen Neuzeit als Vormoderne, dies aber mit dem Akzent, dass sich das Neue weniger gegen die Tradition als vielmehr durch ihre Verarbeitung durchsetzt. Das Unterfangen, eine "andere" Geschichte der neuzeitlichen Literatur zu schreiben, hat für die Philologin einen augenscheinlichen Zweck: die Bedeutung der Literatur als eigenes Erkenntnismedium herauszustreichen.
GERALD HEIDEGGER.
Verena Olejniczak Lobsien: "Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur". Wilhelm Fink Verlag, München 1999. 351 S., br., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Furiose Skepsis: Eine Studie über die Literatur der Frühen Neuzeit
Die Debatte über die Moderne als historische Epoche hat in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit für die Frühe Neuzeit geschärft. Dahinter stand die Annahme, Signaturen der Moderne würden sich nicht erst um 1800, sondern schon an der durch Michel Foucaults "Ordnung der Dinge" markierten Wissensschwelle um 1600 finden. Dass die zweihundert Jahre zwischen Spätrenaissance und Spätaufklärung eine geringere Distanz vermessen als bis dahin angenommen, mag an dem Umstand liegen, dass in beiden Epochen das philosophische Wissen unter zunehmenden Konkurrenzdruck durch die Literatur geraten ist. Die Tübinger Anglistin Verena Olejniczak Lobsien hat nun dieses Konkurrenzverhältnis zum Anlass genommen, den Topos von der Frühen Neuzeit als "Vormoderne" neu zu bestimmen.
Anstoß für das Unternehmen, "eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur" - so der Untertitel - zu schreiben, ist die Beobachtung einer auffälligen Präsenz der antiken Skepsis, genauer: des auf den Griechen Pyrrhon von Elis (circa 360 bis 270 v.Chr.) zurückgehenden Pyrrhonismus, in Texten, die sich mit der Wissensordnung der Zeit überwerfen. Dazu gehören etwa Montaignes "Essais", Shakespeares "Hamlet" oder Cervantes' "Don Quijote". Dafür, dass vor allem poetische Texte die Grenzen der Wissensordnung strapazieren, sieht Lobsien einen zweifachen Grund: Einerseits markiert Literatur das einzige Feld, in dem theologisches oder philosophisches Systemwissen überschritten und in einer neuen Kombinatorik erprobt werden kann. Andererseits verzahnt sich in ihnen das inhaltliche Thema mit der Schreibpraxis. Skepsis, so Lobsien, sei eine Metaphilosophie und im eigentlichen Sinn ein "Modus der Literarisierung der Philosophie". Das Verfahren des Pyrrhonismus, Pro und Contra im Gleichgewicht zu lassen und sich des Urteils zu enthalten, wirkt nachhaltig gerade in einer Phase der Wissenskrise. Angeregt wird die Rezeption des Pyrrhonismus ab dem späten sechzehnten Jahrhundert zudem durch Henri Estiennes 1562 in Paris erschienene lateinische Übersetzung des systematischen Hauptwerkes der antiken Skepsis, der "Pyrrhonischen Hypotyposen" des Sextus Empiricus aus dem dritten Jahrhundert.
Für eine literarisierte Philosophie bietet das sechzehnte Jahrhundert ein mehr als ideales Terrain. Die zahllosen Exempla in Montaignes "Essais" sind symptomatisch für den ermüdenden Überschuss fremder Autoren in den Bibliotheken der Zeit. Und dennoch: Die Texte Montaignes stehen auch für jenes Verfahren, das die philosophische Tradition radikal gegen den Strich liest. Und dies im Bewusstsein der rhetorischen Schulung, die besagt, dass alles Wissen sprachlich ist. Dort aber, wo die Sprache ihren Verweischarakter verliert, führt sie zu einem eigenproduktiven und letztlich poetischen Wissenszweig. Wenn Shakespeares Hamlet befindet, die Welt sei aus den Fugen, so zeigt er an, dass die Durchgänge durch das traditionelle Wissensarchiv zu Leerläufen geworden sind.
Gerade im "Hamlet" wird für Lobsien deutlich, wie sich die Wissenskrise der Zeit Shakespeares mit der antiken Skepsis verbündet. Für den dänischen Prinzen ist weder Wissen noch Nichtwissen gesichert. Er befindet sich in der Situation des Skeptikers, der nicht zu entscheiden vermag zwischen der Gültigkeit einer Aussage und ihrem genauen Gegenteil. Doch anders als dieser sucht Hamlet im Widersprüchlichen nicht die Glückseligkeit einer vorurteilsfreien Lebensführung. Vielmehr ist er durch die unentschlüsselbare Zeichenwelt und das obsolet gewordene Wissenssystem zum Verzicht auf Urteile gezwungen. Die Unmöglichkeit, zu einem klaren Befund über den Königsmord zu gelangen, nötigt Hamlet, die Welt des Hofes aus seinem Inneren per Imagination neu zu schaffen, sein Wissen als Spiel zu arrangieren und schließlich über die theatralische Inszenierung Gewissheit zu suchen.
Das Modell für diesen Vorgang liefert die bei den Skeptikern eingesetzte Figur der Hypotypose: Ein Vorgang wird nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist oder geschehen sein könnte, vorgeführt; er wird, wie es auch Cicero in seinem "De oratore" erläutert, "vor Augen gestellt". Die Nötigung für ein solches Evidenzspiel Hamlets liegt im Auftritt des Geistes, der, so Lobsien, nicht der verstorbene König sei, sondern stets stellvertretend für diesen agiere. Nur über das, was vor dem geistigen Auge des dänischen Prinzen steht, ergibt sich letztlich der Auftrag zum Handeln. Wo aber alles gespielt werden muss, ist Verborgenes nicht endgültig zum Vorschein zu bringen. Insofern liefern Imagination und Phantasie zwar Möglichkeiten der Wirklichkeitserzeugung, indem sie die Kraft des Subjektiven gegen die starre rhetorische Wissensordnung in Gang setzen; doch die Hoffnung auf Gewissheit wird dadurch enttäuscht. Die antike Skepsis ist zu einer genuin vormodernen mutiert. Hamlets Drang zur Innerlichkeit mündet nicht im Urteil, Trug und Wahrheit bleiben ihm ununterscheidbar.
Die Wendung Hamlets von dem nach Wissensplätzen geordneten Erkenntnisprinzip zur Imagination und damit zur "neuen Innerlichkeit" bedarf Lobsien zufolge der Rechtfertigung. Shakespeare liefert sie durch die Einkleidung Hamlets in das Gewand des Melancholikers. Die Spaltung Hamlets in ein Ich, das durch die Aufforderung zur Rache zur festen Identität gezwungen wird, begründet letztlich das Aufkeimen der Melancholie und deren Verschränkung mit der Skepsis. Nur über den Entwurf einer aus der Phantasie geborenen anderen Welt wären Skepsis und Melancholie überwindbar. Doch Lobsien hebt hervor, dass dieses Überwindungspotential schon in der Melancholie selbst angelegt sei, denn Melancholie schließt das Moment der Manie als schöpferische Raserei und ekstatische Begeisterung ebenso ein wie den Hang zur selbstbezogenen Grübelei.
Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts setzt die Melancholie als Triebfeder für einen poetischen Furor an jenem Punkt ein, an dem sich überkommene Erfahrungsordnungen nicht mehr halten lassen. So meint Lobsien etwa in Don Quijotes Wahnsinn das manische Ingenium des Melancholikers zu erkennen, der gegen den Verlust der Ritterromanwelt durch Phantasie das Funktionieren ebendieser Welt fingiert. Dem Auseinanderbrechen von Worten und Dingen (hier folgt Lobsien streng der Don-Quijote-Lektüre Foucaults) setzt der Ritter von der traurigen Gestalt eine Anhäufung der Worte und damit noch einmal jene rhetorische Wissensform entgegen, die über das Prinzip der Fülle Verfügung über Gegenstände, Themen und Argumente herzustellen meint. Doch die (Text-)Welt des Don Quijote bleibt ohne Bezug zur Wirklichkeit. So führt der Schreibzwang letztlich zurück auf das aus Melancholie schreibende Subjekt.
Noch bevor das Subjekt im cartesianischen Zweifel zum Teil eines Systems avanciert, wird es von der Literatur um 1600 als prekäre Größe inszeniert. Die poetischen Texte an der Schwelle zur Neuzeit provozieren jene Fragestellungen, die zwischen Spätaufklärung und deutschem Idealismus auf der Tagesordnung stehen werden. Mit ihrem Buch bestätigt Lobsien die These von der frühen Neuzeit als Vormoderne, dies aber mit dem Akzent, dass sich das Neue weniger gegen die Tradition als vielmehr durch ihre Verarbeitung durchsetzt. Das Unterfangen, eine "andere" Geschichte der neuzeitlichen Literatur zu schreiben, hat für die Philologin einen augenscheinlichen Zweck: die Bedeutung der Literatur als eigenes Erkenntnismedium herauszustreichen.
GERALD HEIDEGGER.
Verena Olejniczak Lobsien: "Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur". Wilhelm Fink Verlag, München 1999. 351 S., br., 88,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit Interesse berichtet der Rezensent mit dem Kürzel "gba." über diesen Band, der eine "andere Geschichte" der frühneuzeitlichen Literatur verheißt. Dem Rezensenten gefällt vor allem, wie Lobsien scheinbar entfernte Autoren wie Shakespeare und Montaigne oder Cervantes und Robert Burton durch eine "minuziöse" Lektüre in unvermutete Parallelen bringt. Hier scheint denn auch eine Frühgeschichte der Skepsis erzählt zu werden, die diese Autoren zu Vorläufern der Moderne mache. Der Rezensent wünscht sich nach diesen Studien einen größeren Band der Anglistin über Shakespeare.
© Perlentaucher Medien GmbH
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