Produktdetails
- Verlag: Penguin Books
- ISBN-13: 9780241144978
- Artikelnr.: 29298834
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2011Wie kann das gut ausgehen
In diesem irischen Elite-Internat lebt Unheil fort und zeugt fortwährend neues: Paul Murrays tragischer, komischer, großer Roman „Skippy stirbt“
Zu den ärgerlichen Begleiterscheinungen der Digitalkultur zählt das Überhandnehmen sogenannter Spoiler-Warnungen nicht nur im Internet. Solchen Warnungen liegt der Irrtum zugrunde, die Freude an einer gut erzählten Geschichte würde einem verdorben (englisch „spoiled“), wenn man vorab erführe, wie sie ausgeht. Das mag für simple Whodunits gelten; die Hochliteratur aber ist darüber erhaben und hat dies mit Titeln wie „Der Tod des Vergil“ oder „Malone Dies“ bekräftigt.
Der 1975 geborene irische Romancier Paul Murray bekräftigte die Spoiler-Resistenz seines dreiteiligen Internatsromans sogar gleich doppelt, indem er ihn nicht nur „Skippy Dies“ betitelte, sondern auch mit einem Vorspiel einleitete, das den Titelhelden während eines Doughnut-Wettessens mit seinem besten Freund Ruprecht Van Doren blau anlaufen und ersticken lässt. Das macht einen stutzig und sollte es auch. Gerade in ihrer scheinbaren Offensichtlichkeit führen die Sterbeszene und ihre Lokalisierung den Leser in die Irre und geben ihm gleichzeitig eine bohrende Frage mit auf den Weg: Wo in diesem 780-Seiten-Epos mag die wahre Geschichte verborgen sein, die diesem so schrecklich banal anmutenden Tod ein tragisches Gewicht verleihen könnte?
Vordergründig nämlich ist „Skippy stirbt“ eine weitere Internatskomödie übers Erwachsenwerden – über heftig pubertierende Vierzehnjährige und deren Streiche, überforderte Lehrer und erste Freundinnen, über chronisch abwesende Eltern und strenge Patres, die ihre Rolle am katholischen Seabrook College nun schon bald ausgespielt haben werden. Vor drohenden Höllenstrafen scheint sich hier niemand mehr fürchten zu müssen, solange der SMS-Verkehr dadurch nicht behindert wird. Die pseudotechnischen Machinationen, mit denen der fette Musterschüler Ruprecht sich einen Sonderweg durch den elfdimensionalen Hyperraum bahnen will, nehmen die Jungen ebenso gelassen hin, wie die hochfliegenden erotischen Projekte von Mario Bianchi, denen sich weder die Wirklichkeit noch die Mädchen anschließen mögen.
Doch während der Hyperraum sich verschlossen zeigt und Marios magisches Kondom in dessen Brieftasche verschrumpelt, raubt der Schulpsychopath Carl jüngeren Kindern ihre Ritalin-Pillen, um sie den Teenagern der benachbarten Mädchenschule als Schlankmacher zu verkaufen – vor allem der betörenden Lori, die sich dann aber ausgerechnet in den eher schmächtigen Skippy verguckt. Und Skippy ist selig – war selig, muss man angesichts der Eingangszene eigentlich sagen, doch es war nicht nur seine enttäuschte erste Liebe, die ihn aus der Welt befördert hat. Aber erst im dritten Teil wird deutlich, welche Hölle Skippy durchlebt und wovor er in den Tod entkommen ist.
Erst dort wird klar, wozu es dieses langen Vorlaufs und all des drastischen Schülerhumors bedurft hat. Nicht das skandalöse Schicksal seines Titelhelden nämlich ist das eigentliche Thema des Romans, sondern dessen Vertuschung. Schon der Spitzname des Protagonisten, der einer populären Kinderfilmserie mit dem Känguru Skippy entlehnt ist, scheint ihn einer Welt zuzuordnen, in der Kindern nichts Böses geschehen kann. Aber etwas muss geschehen sein, auch wenn das niemand und nicht einmal der Täter wahrhaben will.
In den ersten beiden Bänden, in denen Murray die Vorgeschichte rekapituliert, bewegt Skippy sich wie ein Tagträumer durch die Welt, schwänzt das Training, das ihn zum Star der Schwimmmannschaft gemacht hat, schluckt Tabletten, führt ritualisierte Telefonate mit seinem Vater, lässt sich auf einen Kampf mit dem weit stärkeren Carl ein. Aber selbst dieses Duell hätte ihn nicht in Todesgefahr gebracht, und erst langsam erschließt sich die Raffinesse von Murrays poetischem Understatement. Sein toter Titelheld ist der personifizierte Spoiler, der immer wieder verhindert, dass das Komische in diesem vor Wortwitz sprühenden Buch einfach nur unbeschwerter, drastischer Pennälerhumor bleibt.
Was Murray vom alltäglichen Internatsleben in Seabrook erzählt, wirkt zunächst lange und soll auch lange so wirken, als könne alles am Ende doch noch gut ausgehen, als könne man sich mit einem blauen Auge, einem etwas schiefen Lächeln und einem Abschlusszeugnis daraus verabschieden. Aber das geht hier nicht. Es ginge nur, wenn es Skippy nicht gegeben hätte, wenn man die wahre Geschichte, in der es um Kindesmißbrauch und kindliche Grausamkeit geht, so unter den Teppich kehrte, wie es der designierte Leiter der renommierten Erziehungsanstalt am Ende tut. Dessen pathetische gälische Formel „Ní bheidh a leithéidse ann arís (Seinesgleichen wird nicht mehr auf Erden wandeln)“ gilt dann auch nicht dem Andenken Skippys, sondern dem eines schwarzen Schafs in Kutte. Es gilt dem Französischlehrer Father Green, den Generationen von Kindern hellsichtig „Père Vert“ genannt hatten, was so schön wie das englische „Pervert“ klingt.
Paul Murray zeigt Seabrook als eine Art infernalisches Karussell der irischen Geschichte, auf dem ehemalige Schüler, die im Leben gescheitert sind, ihre Strafe dafür als Lehrer abdienen müssen. Dass einer dieser Unglücklichen, Howard „the Coward“ Fallon, ausgerechnet Geschichte unterrichtet, ist eine besondere Ironie der Erzählung, denn im Laufe des Romans erkennt dieser Mann, dass nicht nur Seabrook, sondern ganz Irland Leichen im Keller hat. Erst begehrt Howard auf, dann macht er seinem Spitznamen alle Ehre und resigniert, was hier heißt, dass er weitermacht, auch nachdem er seine pflegeleichte Beinahe-Ehe durch einen Seitensprung ruiniert hat.
Doch Paul Murray beschränkt seine Kritik nicht auf Institutionen wie die katholische Kirche und das Erziehungswesen. Er zeigt auch, auf welch infernalische Weise das Schüler- und Lehrerdasein in Seabrook und die säkularisierte Gesellschaft des modernen Irland sich ergänzen. Die Eltern dieser Kinder nämlich haben sich – beruflich, emotional und gesundheitlich überstrapaziert, wie sie sind – von ihrer Elternrolle verabschiedet und ihre Sprösslinge einem zu frühen Erwachsenwerden und einer Elite-Anstalt überlassen, in der man sie selbst einst aufs Leben vorbereitet hatte.
Paul Murrays „Skippy stirbt“ erweist sich als der Roman einer Tragödie, die in einer Komödie vergraben worden ist. Was bleibt, sind eine erschreckend dünne Lori und ein erschreckend fetter Ruprecht, in deren Gedächtnis Skippy immer mehr verblasst, während sie voller Zweifel nach Wegen suchen, um weiterleben zu können.
ULRICH BARON
PAUL MURRAY: Skippy stirbt. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein und Martina Tychi. Kunstmann Verlag, München 2011. 3 Bände, 782 Seiten, 26 Euro.
Paul Murray, geboren 1975
Foto: Volker Hinz
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In diesem irischen Elite-Internat lebt Unheil fort und zeugt fortwährend neues: Paul Murrays tragischer, komischer, großer Roman „Skippy stirbt“
Zu den ärgerlichen Begleiterscheinungen der Digitalkultur zählt das Überhandnehmen sogenannter Spoiler-Warnungen nicht nur im Internet. Solchen Warnungen liegt der Irrtum zugrunde, die Freude an einer gut erzählten Geschichte würde einem verdorben (englisch „spoiled“), wenn man vorab erführe, wie sie ausgeht. Das mag für simple Whodunits gelten; die Hochliteratur aber ist darüber erhaben und hat dies mit Titeln wie „Der Tod des Vergil“ oder „Malone Dies“ bekräftigt.
Der 1975 geborene irische Romancier Paul Murray bekräftigte die Spoiler-Resistenz seines dreiteiligen Internatsromans sogar gleich doppelt, indem er ihn nicht nur „Skippy Dies“ betitelte, sondern auch mit einem Vorspiel einleitete, das den Titelhelden während eines Doughnut-Wettessens mit seinem besten Freund Ruprecht Van Doren blau anlaufen und ersticken lässt. Das macht einen stutzig und sollte es auch. Gerade in ihrer scheinbaren Offensichtlichkeit führen die Sterbeszene und ihre Lokalisierung den Leser in die Irre und geben ihm gleichzeitig eine bohrende Frage mit auf den Weg: Wo in diesem 780-Seiten-Epos mag die wahre Geschichte verborgen sein, die diesem so schrecklich banal anmutenden Tod ein tragisches Gewicht verleihen könnte?
Vordergründig nämlich ist „Skippy stirbt“ eine weitere Internatskomödie übers Erwachsenwerden – über heftig pubertierende Vierzehnjährige und deren Streiche, überforderte Lehrer und erste Freundinnen, über chronisch abwesende Eltern und strenge Patres, die ihre Rolle am katholischen Seabrook College nun schon bald ausgespielt haben werden. Vor drohenden Höllenstrafen scheint sich hier niemand mehr fürchten zu müssen, solange der SMS-Verkehr dadurch nicht behindert wird. Die pseudotechnischen Machinationen, mit denen der fette Musterschüler Ruprecht sich einen Sonderweg durch den elfdimensionalen Hyperraum bahnen will, nehmen die Jungen ebenso gelassen hin, wie die hochfliegenden erotischen Projekte von Mario Bianchi, denen sich weder die Wirklichkeit noch die Mädchen anschließen mögen.
Doch während der Hyperraum sich verschlossen zeigt und Marios magisches Kondom in dessen Brieftasche verschrumpelt, raubt der Schulpsychopath Carl jüngeren Kindern ihre Ritalin-Pillen, um sie den Teenagern der benachbarten Mädchenschule als Schlankmacher zu verkaufen – vor allem der betörenden Lori, die sich dann aber ausgerechnet in den eher schmächtigen Skippy verguckt. Und Skippy ist selig – war selig, muss man angesichts der Eingangszene eigentlich sagen, doch es war nicht nur seine enttäuschte erste Liebe, die ihn aus der Welt befördert hat. Aber erst im dritten Teil wird deutlich, welche Hölle Skippy durchlebt und wovor er in den Tod entkommen ist.
Erst dort wird klar, wozu es dieses langen Vorlaufs und all des drastischen Schülerhumors bedurft hat. Nicht das skandalöse Schicksal seines Titelhelden nämlich ist das eigentliche Thema des Romans, sondern dessen Vertuschung. Schon der Spitzname des Protagonisten, der einer populären Kinderfilmserie mit dem Känguru Skippy entlehnt ist, scheint ihn einer Welt zuzuordnen, in der Kindern nichts Böses geschehen kann. Aber etwas muss geschehen sein, auch wenn das niemand und nicht einmal der Täter wahrhaben will.
In den ersten beiden Bänden, in denen Murray die Vorgeschichte rekapituliert, bewegt Skippy sich wie ein Tagträumer durch die Welt, schwänzt das Training, das ihn zum Star der Schwimmmannschaft gemacht hat, schluckt Tabletten, führt ritualisierte Telefonate mit seinem Vater, lässt sich auf einen Kampf mit dem weit stärkeren Carl ein. Aber selbst dieses Duell hätte ihn nicht in Todesgefahr gebracht, und erst langsam erschließt sich die Raffinesse von Murrays poetischem Understatement. Sein toter Titelheld ist der personifizierte Spoiler, der immer wieder verhindert, dass das Komische in diesem vor Wortwitz sprühenden Buch einfach nur unbeschwerter, drastischer Pennälerhumor bleibt.
Was Murray vom alltäglichen Internatsleben in Seabrook erzählt, wirkt zunächst lange und soll auch lange so wirken, als könne alles am Ende doch noch gut ausgehen, als könne man sich mit einem blauen Auge, einem etwas schiefen Lächeln und einem Abschlusszeugnis daraus verabschieden. Aber das geht hier nicht. Es ginge nur, wenn es Skippy nicht gegeben hätte, wenn man die wahre Geschichte, in der es um Kindesmißbrauch und kindliche Grausamkeit geht, so unter den Teppich kehrte, wie es der designierte Leiter der renommierten Erziehungsanstalt am Ende tut. Dessen pathetische gälische Formel „Ní bheidh a leithéidse ann arís (Seinesgleichen wird nicht mehr auf Erden wandeln)“ gilt dann auch nicht dem Andenken Skippys, sondern dem eines schwarzen Schafs in Kutte. Es gilt dem Französischlehrer Father Green, den Generationen von Kindern hellsichtig „Père Vert“ genannt hatten, was so schön wie das englische „Pervert“ klingt.
Paul Murray zeigt Seabrook als eine Art infernalisches Karussell der irischen Geschichte, auf dem ehemalige Schüler, die im Leben gescheitert sind, ihre Strafe dafür als Lehrer abdienen müssen. Dass einer dieser Unglücklichen, Howard „the Coward“ Fallon, ausgerechnet Geschichte unterrichtet, ist eine besondere Ironie der Erzählung, denn im Laufe des Romans erkennt dieser Mann, dass nicht nur Seabrook, sondern ganz Irland Leichen im Keller hat. Erst begehrt Howard auf, dann macht er seinem Spitznamen alle Ehre und resigniert, was hier heißt, dass er weitermacht, auch nachdem er seine pflegeleichte Beinahe-Ehe durch einen Seitensprung ruiniert hat.
Doch Paul Murray beschränkt seine Kritik nicht auf Institutionen wie die katholische Kirche und das Erziehungswesen. Er zeigt auch, auf welch infernalische Weise das Schüler- und Lehrerdasein in Seabrook und die säkularisierte Gesellschaft des modernen Irland sich ergänzen. Die Eltern dieser Kinder nämlich haben sich – beruflich, emotional und gesundheitlich überstrapaziert, wie sie sind – von ihrer Elternrolle verabschiedet und ihre Sprösslinge einem zu frühen Erwachsenwerden und einer Elite-Anstalt überlassen, in der man sie selbst einst aufs Leben vorbereitet hatte.
Paul Murrays „Skippy stirbt“ erweist sich als der Roman einer Tragödie, die in einer Komödie vergraben worden ist. Was bleibt, sind eine erschreckend dünne Lori und ein erschreckend fetter Ruprecht, in deren Gedächtnis Skippy immer mehr verblasst, während sie voller Zweifel nach Wegen suchen, um weiterleben zu können.
ULRICH BARON
PAUL MURRAY: Skippy stirbt. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein und Martina Tychi. Kunstmann Verlag, München 2011. 3 Bände, 782 Seiten, 26 Euro.
Paul Murray, geboren 1975
Foto: Volker Hinz
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2011Gewalt macht Schule
Ein skurriler Internatsroman in drei Bänden, aus dem erzähllustigen Irland? Von wegen: Paul Murray porträtiert die Collegezeit als Hölle der Verdrängung.
Hopeland heißt das Computerspiel, in dem der Schüler Skippy als Waldelf durch ein fiktives Königreich wandert und Dämonen mit Zauberwaffen tötet. Und Hopeland ist ihm deutlich lieber als das Irland des frühen 21. Jahrhunderts, dessen trübe Wirklichkeit nur wenig zu tun hat mit der mythenverhangenen Insel deutscher Urlauberträume. Skippys Wohnstatt ist das Seabrook College, eine Knabenschule in kirchlicher Hand, die ihre Patres inzwischen aus Schwellenländern importieren muss. Doch zu Hause bei seinen Eltern fühlt er sich erst recht nicht heimisch: "Du kommst dir vor wie der Ersatzjunge, den sie sich besorgt haben, nachdem etwas Furchtbares passiert ist."
Nicht nur Skippy, nahezu jeder der Jungen von Seabrook befindet sich in der inneren Emigration. Ruprecht würde gern in einer Paralleldimension verschwinden, Mario will ein Frauenheld sein, Carl arbeitet an seinem Wohlstand, indem er die Dorfjugend mit verschreibungspflichtigen Medikamenten versorgt. Die Schülerinnen von der benachbarten Mädchenschule St. Brigid's sind nicht viel besser dran, übersexualisiert und frühreif, geht ihnen jegliche Vorstellung von Romantik ab. Sie üben bereits die Posen, die ihnen gescheiterte Trashexistenzen in Reality-Shows vorleben. Zu Hause sind sie klug genug, die kleine Prinzessin zu geben - auch Lori, in die sich Skippy unsterblich verliebt.
Die weltlichen Lehrer sind zwar nicht so streng wie die Patres, aber nicht viel weniger weltfremd. Howard, genannt "Howard the Coward", kehrt nach einer kurzen Karriere als Investmentbanker an den Ort seiner Jugend zurück, an das Seabrook College, um dort Geschichte zu unterrichten. Eine Welt jenseits der Schule gibt es für ihn nicht, draußen regiert eh das Immergleiche: "Menschen wachsen heran und werden Kieferorthopäden." Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um junge Menschen zu unterrichten. Was ihn dann doch aus seiner Routine reißt, ist die Aushilfslehrerin Miss McIntyre. In einem furiosen Höhepunkt dramatischer - und sexueller Natur - kommt es zu einigen entscheidenden, gemeinsam verbrachten Minuten im Geographieraum.
Drei Bände umfasst der Roman: "Hopeland", "Heartland", "Ghostland". Einzeln gebunden im Schuber und damit ganz der Tradition der viktorianischen Three-Volume-Novel folgend, die kommerziellen Bibliotheken des neunzehnten Jahrhunderts mit breit ausgewalzten Schicksalsromanen die dreifachen Einnahmen verschaffen sollte. Dazu ist "Skippy stirbt" auch ein Internatsroman, nur dass die Jugendlichen nicht mehr die gleichen sind wie zwanzig Jahre zuvor - schließlich hat sich die gesamte irische Gesellschaft nach dem Wirtschaftsboom der "Celtic Tiger"-Jahre drastisch gewandelt.
Wie soll man also mit einem derart desillusionierten und drogenbedröhnten Personal einen anständigen Entwicklungsroman hinbekommen? Es geht nicht. Das Gute ist, dass Murray sich dessen vollkommen bewusst ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss Skippy sterben, nicht einfach so, sondern an einer Überdosis Schmerztabletten. Die hilft aber auch nicht gegen die Überdosis Schmerzen, die seine Umgebung ihm zufügt, ob unwissentlich oder in voller Absicht.
Es war im Jahr 2009, als die irische Regierung einen Untersuchungsbericht zu Missbrauchsfällen in Heimen, Waisenhäusern und Schulen veröffentlichte. Tausende Kinder, vorwiegend Jungen, wurden regelmäßig geprügelt und vergewaltigt. Fast jeder wusste es, niemand sprach darüber. Es braucht ein besonderes Klima von gesellschaftlicher Verdrängung, Desinteresse und religiösem Gehorsam, um einen derart systematischen Missbrauch über Jahrzehnte zu vertuschen. Und es trägt eine bittere Ironie in sich, dass ausgerechnet die Nation, die so viele Erzähler hervorgebracht hat und sich der wohl höchsten Schriftstellerdichte Europas rühmt, gleichzeitig so effektiv verschweigen kann.
Dieses Biotop zu schildern, das von seinen Problemen ständig ablenkt und munter die Schulfolklore aufrechterhält, benötigt tatsächlich viele hundert Seiten. Dazu gehört Murrays Verfahren der Ablenkung und Düpierung: Zu laut und zu witzig beginnt alles, zu unterhaltsam, eine lustige Posse mit skurrilen Charakteren und liebevoll ausgemaltem Pennälerungehorsam. Der unscheinbare Skippy läuft wie ein Zombie durch die ersten beiden Bücher, und niemand interessiert sich sonderlich für ihn, was sich später als fatal herausstellen wird. Spätestens im dritten Buch, "Ghostland", ist der Spaß passé. Das Grauen strahlt dann auch auf den Anfang zurück.
Verzweiflung und Peinlichkeit, Slapstick und Brutalität gehören gleichermaßen zu den Schmerzen des Erwachsenwerdens. Die ganze Bandbreite der Befindlichkeiten von Lakonie bis Hysterie abbilden zu können gehört zu den Stärken des Autors.
ANDREA DIENER
Paul Murray: "Skippy stirbt". Roman.
Kunstmann Verlag, München 2010. Drei Bde. im Schuber, 780 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein skurriler Internatsroman in drei Bänden, aus dem erzähllustigen Irland? Von wegen: Paul Murray porträtiert die Collegezeit als Hölle der Verdrängung.
Hopeland heißt das Computerspiel, in dem der Schüler Skippy als Waldelf durch ein fiktives Königreich wandert und Dämonen mit Zauberwaffen tötet. Und Hopeland ist ihm deutlich lieber als das Irland des frühen 21. Jahrhunderts, dessen trübe Wirklichkeit nur wenig zu tun hat mit der mythenverhangenen Insel deutscher Urlauberträume. Skippys Wohnstatt ist das Seabrook College, eine Knabenschule in kirchlicher Hand, die ihre Patres inzwischen aus Schwellenländern importieren muss. Doch zu Hause bei seinen Eltern fühlt er sich erst recht nicht heimisch: "Du kommst dir vor wie der Ersatzjunge, den sie sich besorgt haben, nachdem etwas Furchtbares passiert ist."
Nicht nur Skippy, nahezu jeder der Jungen von Seabrook befindet sich in der inneren Emigration. Ruprecht würde gern in einer Paralleldimension verschwinden, Mario will ein Frauenheld sein, Carl arbeitet an seinem Wohlstand, indem er die Dorfjugend mit verschreibungspflichtigen Medikamenten versorgt. Die Schülerinnen von der benachbarten Mädchenschule St. Brigid's sind nicht viel besser dran, übersexualisiert und frühreif, geht ihnen jegliche Vorstellung von Romantik ab. Sie üben bereits die Posen, die ihnen gescheiterte Trashexistenzen in Reality-Shows vorleben. Zu Hause sind sie klug genug, die kleine Prinzessin zu geben - auch Lori, in die sich Skippy unsterblich verliebt.
Die weltlichen Lehrer sind zwar nicht so streng wie die Patres, aber nicht viel weniger weltfremd. Howard, genannt "Howard the Coward", kehrt nach einer kurzen Karriere als Investmentbanker an den Ort seiner Jugend zurück, an das Seabrook College, um dort Geschichte zu unterrichten. Eine Welt jenseits der Schule gibt es für ihn nicht, draußen regiert eh das Immergleiche: "Menschen wachsen heran und werden Kieferorthopäden." Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um junge Menschen zu unterrichten. Was ihn dann doch aus seiner Routine reißt, ist die Aushilfslehrerin Miss McIntyre. In einem furiosen Höhepunkt dramatischer - und sexueller Natur - kommt es zu einigen entscheidenden, gemeinsam verbrachten Minuten im Geographieraum.
Drei Bände umfasst der Roman: "Hopeland", "Heartland", "Ghostland". Einzeln gebunden im Schuber und damit ganz der Tradition der viktorianischen Three-Volume-Novel folgend, die kommerziellen Bibliotheken des neunzehnten Jahrhunderts mit breit ausgewalzten Schicksalsromanen die dreifachen Einnahmen verschaffen sollte. Dazu ist "Skippy stirbt" auch ein Internatsroman, nur dass die Jugendlichen nicht mehr die gleichen sind wie zwanzig Jahre zuvor - schließlich hat sich die gesamte irische Gesellschaft nach dem Wirtschaftsboom der "Celtic Tiger"-Jahre drastisch gewandelt.
Wie soll man also mit einem derart desillusionierten und drogenbedröhnten Personal einen anständigen Entwicklungsroman hinbekommen? Es geht nicht. Das Gute ist, dass Murray sich dessen vollkommen bewusst ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss Skippy sterben, nicht einfach so, sondern an einer Überdosis Schmerztabletten. Die hilft aber auch nicht gegen die Überdosis Schmerzen, die seine Umgebung ihm zufügt, ob unwissentlich oder in voller Absicht.
Es war im Jahr 2009, als die irische Regierung einen Untersuchungsbericht zu Missbrauchsfällen in Heimen, Waisenhäusern und Schulen veröffentlichte. Tausende Kinder, vorwiegend Jungen, wurden regelmäßig geprügelt und vergewaltigt. Fast jeder wusste es, niemand sprach darüber. Es braucht ein besonderes Klima von gesellschaftlicher Verdrängung, Desinteresse und religiösem Gehorsam, um einen derart systematischen Missbrauch über Jahrzehnte zu vertuschen. Und es trägt eine bittere Ironie in sich, dass ausgerechnet die Nation, die so viele Erzähler hervorgebracht hat und sich der wohl höchsten Schriftstellerdichte Europas rühmt, gleichzeitig so effektiv verschweigen kann.
Dieses Biotop zu schildern, das von seinen Problemen ständig ablenkt und munter die Schulfolklore aufrechterhält, benötigt tatsächlich viele hundert Seiten. Dazu gehört Murrays Verfahren der Ablenkung und Düpierung: Zu laut und zu witzig beginnt alles, zu unterhaltsam, eine lustige Posse mit skurrilen Charakteren und liebevoll ausgemaltem Pennälerungehorsam. Der unscheinbare Skippy läuft wie ein Zombie durch die ersten beiden Bücher, und niemand interessiert sich sonderlich für ihn, was sich später als fatal herausstellen wird. Spätestens im dritten Buch, "Ghostland", ist der Spaß passé. Das Grauen strahlt dann auch auf den Anfang zurück.
Verzweiflung und Peinlichkeit, Slapstick und Brutalität gehören gleichermaßen zu den Schmerzen des Erwachsenwerdens. Die ganze Bandbreite der Befindlichkeiten von Lakonie bis Hysterie abbilden zu können gehört zu den Stärken des Autors.
ANDREA DIENER
Paul Murray: "Skippy stirbt". Roman.
Kunstmann Verlag, München 2010. Drei Bde. im Schuber, 780 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main