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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2008

Ein faszinierender Blick aufs Altertum

Soeben hat ein gewaltiges, enzyklopädisch angelegtes Werk fachübergreifender Altertumsforschung seinen Abschluss gefunden. Eine Fundgrube auch für interessierte Laien.

Nach jahrzehntelanger Arbeit hat das "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA)" nun mit Band 35 seinen Abschluss gefunden. Dahinter steht ein wissenschaftliches Großprojekt der besonderen Art. Es greift einen ersten Versuch aus dem frühen 20. Jahrhundert auf, als die vor- und frühgeschichtliche Archäologie noch stark von der germanischen Philologie geprägt war, und führt ihn - inhaltlich neu orientiert - als gewaltige, enzyklopädisch angelegte Zusammenschau modernster interdisziplinärer Altertumsforschung erfolgreich in das 21. Jahrhundert.

Der Anglist und Naturwissenschaftler Johannes Hoops legte zwischen 1911 und 1919 eine erste Auflage dieses "Reallexikons der Germanischen Altertumskunde" vor, das vier Bände umfasste und schon damals ein vielbeachtetes Standardwerk war, das zwei Forschergenerationen als Nachschlagewerk diente. Dieses Ziel nahm er in Angriff, um eine engere Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte zu erreichen und der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaft, die zu einer Entfremdung der Fächer führte, entgegenzuwirken. Dieses Bedürfnis ist heute in einem Zeitalter sich stetig potenzierender Wissensinformation und immer weiter fortschreitender Auffächerung der Forschungszweige aktueller denn je.

Insofern erkannte man die Zeichen der Zeit, als man gegen Ende der 1960er Jahre daranging, Hoops' Werk neu aufzulegen. Die Akademie der Wissenschaften in Göttingen schuf mit der Einrichtung einer Arbeitsstelle die Grundlage dafür, und mit dem Verlag Walter de Gruyter war der richtige Partner für die Realisierung eines solch gewaltigen Projekts gefunden. Vielleicht war es gut, dass zu Beginn nur sieben Bände konzipiert waren; am Ende wurden es 35, das Fünffache. Wer hätte sich auf das Vorhaben eingelassen, wenn ein solcher Umfang schon von Anfang an angedacht gewesen wäre? Der Philologe Heinrich Beck, der Historiker Dieter Geuenich, der Frühmittelalterarchäologe Heiko Steuer und die Leiterin der Göttinger Arbeitsstelle, die Prähistorikerin Rosemarie Müller, vollendeten jetzt den großen Plan.

Interdisziplinarität war bereits in der ersten Auflage das hervorstechende Merkmal des Reallexikons. Hatte Hoops sich schon erfolgreich darum bemüht, Archäologie, Geschichtswissenschaft und Philologie gekonnt miteinander zu verknüpfen, um ein möglichst lebensnahes Bild des germanischen Altertums entstehen zu lassen, so treten nun in der zweiten Auflage zahlreiche naturwissenschaftliche Disziplinen wie Botanik, Zoologie, Anthropologie, Klimaforschung, Geographie, Geologie und andere hinzu.

Der Titel ist nicht Programm, er ist vielmehr Zitat. Räumlich umfasst das "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde" weite Teile Mittel- und Nordeuropas und schließt dabei bewusst auch nicht- und vorgermanische Bevölkerungsgruppen ein, wenn sie mit Germanen in Kontakt standen oder für das Verständnis größerer historischer Zusammenhänge im Umfeld germanischer Gruppen von Bedeutung waren: vorkeltische und keltische Kulturen sowie die provinzialrömische Welt im Süden und Westen, reiternomadische Verbände von Skythen bis Awaren im östlich angrenzenden Steppenraum oder Balten und Slawen in Ost- und Nordosteuropa. Zeitlich konzentrieren sich die Beiträge auf die beiden Jahrtausende vor und nach der Zeitenwende, denn im ersten Jahrtausend vor Christus bildeten sich erste als germanisch zu bezeichnende Gruppen heraus, und gegen Ende des ersten Jahrtausends nach Christus entstand in diesen Gebieten die Grundlage der europäischen Staatenwelt eines christlich bestimmten Mittelalters. Gelegentlich wird sogar auf Phänomene der Bronzezeit zurückgegriffen, wenn sie - und sei es nur in forschungsgeschichtlicher Hinsicht - einen Bezug zum Germanenbegriff aufweisen, den Abschluss bilden Karolinger und Wikinger.

Die Artikel im "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde" beleuchten die Lebensverhältnisse im frühgeschichtlichen Mittel- und Nordeuropa auf sehr anschauliche Weise. Umfassend werden technische und kulturelle Leistungen, gesellschaftliche und politische Organisationsformen, kultische und religiöse Gebräuche beschrieben und in den überregionalen Zusammenhang gestellt. Weitere wichtige Sachgebiete sind Forschungsgeschichte, Überlieferung und Geschichtsschreibung, Terminologie und Methodik sowie Fragen der Landschaftsentwicklung.

An dieser enzyklopädischen Kulturgeschichte Mittel- und Nordeuropas während zweier Jahrtausende waren neben den Herausgebern bis zu 40 Fachberater und 1443 Autorinnen und Autoren aus 27 Ländern beteiligt, wobei für die jeweiligen Themen stets international renommierte Fachleute gewonnen werden konnten. Jeder der 35 Bände ist im Durchschnitt 620 Seiten stark, insgesamt bieten sie 5124 Artikel mit 3376 Abbildungen und 952 Tafeln auf 22 358 Druckseiten. Die 35 Bände kamen zwischen 1973 und 2007, also im Laufe von 35 Jahren, auf den Markt, wobei die Abstände anfangs größer waren, in den letzten Jahren erschienen jedoch stets drei Bände pro Jahr mit durchschnittlich 1800 Druckseiten bei gleichbleibend hoher fachlicher Qualität, eine bewundernswerte Arbeitsleistung der zahllosen Autoren, Fachberater, Herausgeber und Redakteure.

Während dieser 35 Jahre haben sich Forschungsmeinungen und wissenschaftliche Erkenntnisse geändert, neue Entdeckungen sind hinzugetreten, und innovative Methoden gestatteten weiterführende Einsichten. Das Reallexikon hat darauf angemessen reagiert und den Apparat der zu behandelnden Stichwörter mit Bedacht stetig erweitert. Auch darin liegt letztlich der Grund für einen deutlich größeren Umfang als ursprünglich geplant, doch das "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde" steht dadurch auf der Höhe der Zeit. Die Einbindung internationaler Fachberater und Autoren bewirkte, dass das Lexikon nicht neben der Forschung entstand, sondern quasi aus ihr heraus. Dies zeigen die einzelnen Artikel nur zu gut. Diese Internationalität spiegelt auch die breite Akzeptanz des Reallexikons in vielen Ländern wider, ob in Osteuropa und in Skandinavien oder in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Es ist gelungen, einen traditionellen Titel mit moderner interdisziplinärer und internationaler Forschung zu unterlegen, und dies macht den besonderen Charme und den besonderen Erfolg dieser Enzyklopädie aus.

Diese tiefe Verwurzelung des Vorhabens in der aktuellen Forschung führte aber auch dazu, dass Herausgeber, Fachberater und Autoren während der Arbeit am Lexikon gemeinsam Themen lokalisierten, die umfassenderer Bearbeitung bedurften. Zu diesem Zweck wurde mit den "Ergänzungsbänden zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde" eine eigenständige Reihe gegründet, in der seit 1988 mehr als 60 Bände erschienen sind, oftmals hervorgegangen aus Habilitationsschriften oder interdisziplinären Tagungen, eine nicht minder beeindruckende Leistung.

Neben Standardwerken der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie und zahlreichen eher philologisch und historisch orientierten Monographien finden sich darunter aber auch interdisziplinäre Bände wie der von Heinrich Beck herausgegebene über "Germanenprobleme aus heutiger Sicht", der 1999 sogar in zweiter Auflage erschien, bei fachwissenschaftlichen Publikationen ja durchaus eine Seltenheit.

Doch auch manche der Stichwortartikel für das Reallexikon waren so umfangreich und derart fundamental, dass sie als sogenannte Studienausgaben noch einmal monographisch aufgelegt wurden. Erwähnt sei hier der Nachdruck des erstmals 1998 in Band 11 erschienenen wegweisenden Beitrages über "Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde". Zwar bestand in der Forschung bereits Einigkeit darüber, dass heute nicht mehr von "germanisch" im Sinne einer sprachlichen, politischen oder kulturellen Einheit gesprochen werden kann, und dennoch war eine umfassende interdisziplinäre Diskussion des Germanenbegriffs und eine Einbettung des "Germanischen" in eine Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas, die dabei den Gegenstand weniger als Substanz denn als Relation begreift, längst überfällig.

Das nun abgeschlossene Projekt "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde" ist eine Erfolgsgeschichte für die beteiligten Wissenschaften. Qualität, Breite und Interdisziplinarität der Beiträge setzen Standards. Es ist ein aus der aktuellen Forschung heraus entstandenes unentbehrliches Hilfsmittel für Archäologen, Historiker, Philologen und viele andere. Es richtet sich an den Fachwissenschaftler, ist aber auch vom interessierten Laien gewinnbringend zu nutzen. Als umfassende Enzyklopädie der mittel- und nordeuropäischen Frühgeschichte schließt es eine Lücke zwischen dem sogenannten Neuen Pauly, der Enzyklopädie der Antike, und dem Lexikon des Mittelalters, die beide in den letzten Jahren entstanden sind. Dass Lexika dieser Art auch in gedruckter Form heute trotz Internets und Wikipedia längst nicht überholt sind, zeigen die neuen Enzyklopädien von "Zeit", "Geo" und Brockhaus. Insofern hat auch das Reallexikon seine Zeit noch vor sich.

HERMANN PARZINGER

"Reallexikon der Germanischen Altertumskunde". Begründet von Johannes Hoops. Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer. Redaktion: Rosemarie Müller. 35 Bände und 2 Register-Bände. 2. vollständig neubearbeitete und stark erweiterte Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2008. Gesamtpreis aller Bände 10 928,- [Euro]. Abnahmeverpflichtung für

das Gesamtwerk.

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