"Before 1870, humanity lived in dire poverty, with a slow crawl of invention offset by a growing population. Then came a great shift: invention sprinted forward, doubling our technological capabilities each generation and utterly transforming the economy again and again. Our ancestors would have presumed we would have used such powers to build utopia. But it was not so. When 1870-2010 ended, the world instead saw global warming; economic depression, uncertainty, and inequality; and broad rejection of the status quo"--]cProvided by publisher.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2023Fortschritt im Schlingern
Eine Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Brad DeLong lehrt Wirtschaftsgeschichte an der Universität Berkeley. Mit seinem gut lesbaren Buch "Slouching Towards Utopia" hat er ein wirtschaftsgeschichtliches Werk vorgelegt. Die Breite der Themen - von der Geschichte der Weltkriege über die Rechte der Nachfahren von Sklaven oder die Frauenemanzipation - lässt sich in keinen einheitlichen theoretischen Rahmen pressen. Bei ihm reicht das lange 20. Jahrhundert von 1870 bis 2010. In dieser Zeit hat sich der Erwerb des produktiv nutzbaren menschlichen Wissens wesentlich beschleunigt.
Das Buch erzählt die Geschichte von einem bis dahin nie gekannten Wohlstandswachstum. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in dem untersuchten Zeitraum fast um den Faktor neun gewachsen, die Weltwirtschaft um mehr als den Faktor 21. Bei einer Armutsschwelle von zwei Dollar je Tag und Person ist die Armutsquote der Weltbevölkerung von 70 auf knapp neun Prozent gefallen. Das verdanken wir Forschungsstätten und Laboren der Industrie, modernen Unternehmen und der Globalisierung. Erst Telegrafen, Dampfschiffe und Eisenbahnen haben die Globalisierung möglich gemacht.
Im nordatlantischen Kern der Weltwirtschaft entstanden Industriegesellschaften. Der Rest der Welt wurde unter Imperien aufgeteilt und Rohstofflieferant. Auf die Frage, warum die Diffusion von technischem Wissen vom Kern an die Peripherie so langsam war, warum der globale Süden also so lange arm blieb, gibt DeLong keine Antwort, die ihn selbst voll befriedigt. Als Gründe deutet er an: Agglomerationsvorteile im Kern; Schwierigkeiten dabei, westliche Maschinen in armen Ländern zuverlässig und profitabel laufen zu lassen und den Einfluss westlicher Imperien.
Ein wiederkehrendes Thema bei DeLong ist der Dissens zwischen dem Ökonomen Friedrich August von Hayek und dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi. Nach Hayek lösen Eigentumsrechte und der Markt, Wettbewerb und Knappheitspreise das Informations- und Anreizproblem. Nach Polanyi und DeLong übersieht Hayek aber, dass Menschen nicht damit zufrieden sind, dass nur Eigentumsrechte und Kaufkraft auf dem Markt das Leben bestimmen. Die normativen Vorstellungen der Menschen gehen darüber hinaus. Positiv kann man das an der Ausweitung des Wahlrechts und der Demokratisierung sehen, negativ an der Popularität nationalistischer, imperialer und militaristischer Vorstellungen. Dass man fremde Ressourcen seit der Globalisierung Ende des 19. Jahrhunderts viel leichter durch Handel als durch Eroberung erwerben kann, hat Kriege nicht verhindert.
Nach dem Ersten Weltkrieg und vergeblichen Versuchen, den Goldstandard und die "Laissez-faire"-Politik wieder zu beleben und nach der Weltwirtschaftskrise wurde die Akzeptanz von Marktwirtschaft und Kapitalismus brüchig. Es kam es zu den Unmenschlichkeiten und Ineffizienzen der faschistischen und kommunistischen Alternativen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg besserte sich die Lage, weil die USA eine Hegemonialstellung einnahmen und diese Rolle mit dem Ziel einer offenen Weltwirtschaft auch ausfüllen wollten. Die Weltwirtschaftskrise hatte den Glauben an die automatische Stabilität von Märkten untergraben. Der Ökonom John Maynard Keynes plädierte für mehr Staatseingriffe, von der lockeren Geldpolitik bis zu mit Schulden finanzierten Staatshaushalten. Das hat nach DeLong zu Jahrzehnten sozialdemokratischer Stabilität, dem Aufbau des Sozialstaats mit seinen automatischen Stabilisatoren und Wachstum im nordatlantischen Raum bis in die 1970er- Jahre mit ihren Öl- und Inflationskrisen geführt. Auch die amerikanische Aufrüstung während des Kalten Krieges wird von DeLong als Stabilisator der Nachfrage angesehen.
Den Sieg des Westens im Kalten Krieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion erklärt DeLong zwar mit der Überlastung der Sowjetunion durch das Wettrüsten und durch die Defizite bürokratischer Wirtschaftslenkung, aber er betont - ohne erkennbare Belege oder Illustration - gleichzeitig nicht nur, dass Marktwirtschaften scheitern, sondern auch dass Planwirtschaften erfolgreich und innovativ sein können.
In Abgrenzung zu Hayekianern und Neoliberalen betont DeLong, dass Menschen nicht nur die Beachtung von Eigentumsrechten und die effiziente Befriedigung kaufkräftiger Nachfrage verlangen, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit. Die ist bei DeLong aber nicht einfach egalitär, sondern kann auch verlangen, dass manche wegen mangelnder Meriten nicht zu viel bekommen. Das gesellschaftliche Verteilungs- und Stabilisierungsproblem wird immer nur prekäre und vorübergehende Lösungen finden.
Das Buch endet mit einem pessimistischen Ton, wegen des absehbaren Endes der amerikanischen Hegemonie und weil der Westen im Gegensatz zu China die Notwendigkeit einer massiven und durch Staatsschulden finanzierten Ausweitung der Staatstätigkeit nach der großen Rezession seit 2007 nicht ergriffen habe und auch wegen der Klimakrise. Die Vorläufigkeit und stellenweise das Ungenügen der theoretischen Überlegungen ist DeLong bewusst. Auch wer seinen theoretischen Prämissen fern steht, kann das Buch aber mit Gewinn lesen. ERICH WEEDE
J. Bradford DeLong: Slouching Towards Utopia. An Economic History of the Twentieth Century. Basic Books, New York 2022 , 605 Seiten, 33 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Brad DeLong lehrt Wirtschaftsgeschichte an der Universität Berkeley. Mit seinem gut lesbaren Buch "Slouching Towards Utopia" hat er ein wirtschaftsgeschichtliches Werk vorgelegt. Die Breite der Themen - von der Geschichte der Weltkriege über die Rechte der Nachfahren von Sklaven oder die Frauenemanzipation - lässt sich in keinen einheitlichen theoretischen Rahmen pressen. Bei ihm reicht das lange 20. Jahrhundert von 1870 bis 2010. In dieser Zeit hat sich der Erwerb des produktiv nutzbaren menschlichen Wissens wesentlich beschleunigt.
Das Buch erzählt die Geschichte von einem bis dahin nie gekannten Wohlstandswachstum. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in dem untersuchten Zeitraum fast um den Faktor neun gewachsen, die Weltwirtschaft um mehr als den Faktor 21. Bei einer Armutsschwelle von zwei Dollar je Tag und Person ist die Armutsquote der Weltbevölkerung von 70 auf knapp neun Prozent gefallen. Das verdanken wir Forschungsstätten und Laboren der Industrie, modernen Unternehmen und der Globalisierung. Erst Telegrafen, Dampfschiffe und Eisenbahnen haben die Globalisierung möglich gemacht.
Im nordatlantischen Kern der Weltwirtschaft entstanden Industriegesellschaften. Der Rest der Welt wurde unter Imperien aufgeteilt und Rohstofflieferant. Auf die Frage, warum die Diffusion von technischem Wissen vom Kern an die Peripherie so langsam war, warum der globale Süden also so lange arm blieb, gibt DeLong keine Antwort, die ihn selbst voll befriedigt. Als Gründe deutet er an: Agglomerationsvorteile im Kern; Schwierigkeiten dabei, westliche Maschinen in armen Ländern zuverlässig und profitabel laufen zu lassen und den Einfluss westlicher Imperien.
Ein wiederkehrendes Thema bei DeLong ist der Dissens zwischen dem Ökonomen Friedrich August von Hayek und dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi. Nach Hayek lösen Eigentumsrechte und der Markt, Wettbewerb und Knappheitspreise das Informations- und Anreizproblem. Nach Polanyi und DeLong übersieht Hayek aber, dass Menschen nicht damit zufrieden sind, dass nur Eigentumsrechte und Kaufkraft auf dem Markt das Leben bestimmen. Die normativen Vorstellungen der Menschen gehen darüber hinaus. Positiv kann man das an der Ausweitung des Wahlrechts und der Demokratisierung sehen, negativ an der Popularität nationalistischer, imperialer und militaristischer Vorstellungen. Dass man fremde Ressourcen seit der Globalisierung Ende des 19. Jahrhunderts viel leichter durch Handel als durch Eroberung erwerben kann, hat Kriege nicht verhindert.
Nach dem Ersten Weltkrieg und vergeblichen Versuchen, den Goldstandard und die "Laissez-faire"-Politik wieder zu beleben und nach der Weltwirtschaftskrise wurde die Akzeptanz von Marktwirtschaft und Kapitalismus brüchig. Es kam es zu den Unmenschlichkeiten und Ineffizienzen der faschistischen und kommunistischen Alternativen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg besserte sich die Lage, weil die USA eine Hegemonialstellung einnahmen und diese Rolle mit dem Ziel einer offenen Weltwirtschaft auch ausfüllen wollten. Die Weltwirtschaftskrise hatte den Glauben an die automatische Stabilität von Märkten untergraben. Der Ökonom John Maynard Keynes plädierte für mehr Staatseingriffe, von der lockeren Geldpolitik bis zu mit Schulden finanzierten Staatshaushalten. Das hat nach DeLong zu Jahrzehnten sozialdemokratischer Stabilität, dem Aufbau des Sozialstaats mit seinen automatischen Stabilisatoren und Wachstum im nordatlantischen Raum bis in die 1970er- Jahre mit ihren Öl- und Inflationskrisen geführt. Auch die amerikanische Aufrüstung während des Kalten Krieges wird von DeLong als Stabilisator der Nachfrage angesehen.
Den Sieg des Westens im Kalten Krieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion erklärt DeLong zwar mit der Überlastung der Sowjetunion durch das Wettrüsten und durch die Defizite bürokratischer Wirtschaftslenkung, aber er betont - ohne erkennbare Belege oder Illustration - gleichzeitig nicht nur, dass Marktwirtschaften scheitern, sondern auch dass Planwirtschaften erfolgreich und innovativ sein können.
In Abgrenzung zu Hayekianern und Neoliberalen betont DeLong, dass Menschen nicht nur die Beachtung von Eigentumsrechten und die effiziente Befriedigung kaufkräftiger Nachfrage verlangen, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit. Die ist bei DeLong aber nicht einfach egalitär, sondern kann auch verlangen, dass manche wegen mangelnder Meriten nicht zu viel bekommen. Das gesellschaftliche Verteilungs- und Stabilisierungsproblem wird immer nur prekäre und vorübergehende Lösungen finden.
Das Buch endet mit einem pessimistischen Ton, wegen des absehbaren Endes der amerikanischen Hegemonie und weil der Westen im Gegensatz zu China die Notwendigkeit einer massiven und durch Staatsschulden finanzierten Ausweitung der Staatstätigkeit nach der großen Rezession seit 2007 nicht ergriffen habe und auch wegen der Klimakrise. Die Vorläufigkeit und stellenweise das Ungenügen der theoretischen Überlegungen ist DeLong bewusst. Auch wer seinen theoretischen Prämissen fern steht, kann das Buch aber mit Gewinn lesen. ERICH WEEDE
J. Bradford DeLong: Slouching Towards Utopia. An Economic History of the Twentieth Century. Basic Books, New York 2022 , 605 Seiten, 33 Euro.
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