Nach einer demütigenden Beinamputation zieht sich Paul Rayment von seinen Freunden zurück und engagiert eine kroatische Pflegerin. Zu ihr und ihrem Sohn entwickelt er eine tiefe emotionale Bindung, die kompliziert wird, als sich die Schriftstellerin Elisabeth Costello bei ihm einquartiert ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2006Der Besuch der alten Dame
Zweifeln aus Prinzip: J. M. Coetzees Roman "Zeitlupe"
Im 13. Kapitel - so viel Zahlenmagie muß sein - schrillt plötzlich die Haustürklingel, und über die Gegensprechanlage kündigt sich eine ungebetene Besucherin an. Ihr Kommen verstört nicht nur den Hausherrn zutiefst, dem es fortan nicht mehr gelingt, sich von der Heimsuchung zu lösen. Auch als Leser wünschen wir uns bald, daß die seltsame Dame lieber nicht erschienen wäre. Denn mit der Ankunft dieser Besserwisserin nimmt die Geschichte, die wir bis dahin gelesen haben, eine bizarre Wendung.
Was als durchaus zu Herzen gehende Erzählung von Schmerz und Leidenschaft begann und just den Punkt einer ersten Liebeserklärung erreicht hatte, gerät hier unversehens ins Stocken und schraubt sich knirschend auf ein anderes Niveau, als wechsele der Roman die Gangart. Zugleich scheint es, als ob sich die Bodenluken öffneten und den Blick auf die Erzählmaschinerie freigäben, die jeder Geschichte sonst so effizient wie unauffällig Antrieb gibt. Schon immer hat J. M. Coetzee als Erzähler eiserne Zurückhaltung geübt. In "Zeitlupe", dem ersten Roman seit seinem Nobelpreis vor zwei Jahren, hält er nun vorübergehend das Räderwerk des Romaneschreibens an und nötigt uns, ihm dabei zuzusehen, wie ein Tüftler die Brauchbarkeit alter Werkzeugteile prüft.
Dabei beginnt alles mit großem Schwung und einem ungeheuren Aufprall: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad." Durch diesen Verkehrsunfall, von dem wir gleich im ersten Satz erfahren, verliert Paul Rayment zuerst das Bewußtsein und bald darauf im Krankenhaus sein rechtes Bein. Zurück bleibt ein unförmiger, roher Stumpf, rot angeschwollen und vernarbt, der ihm dennoch das Gefühl gibt, so mächtig wie ein Elefantenbein zu sein. Die ersten zwölf Kapitel erzählen nun davon, wie Rayment sich in seinem neuen Körper einrichtet. Eine Beinprothese hat er abgelehnt, erst langsam muß er daher lernen, als hilfloser Krüppel die Pflege anderer anzunehmen, und nur mühsam findet er sich in seiner Situation zurecht.
So beginnt sein neues Leben damit, für die veränderten Verhältnisse eine passende Sprache zu erproben und den Worten, die er bis dahin gedankenlos verwendet hat, ein anderes Gewicht zu geben. Mit Anfang Sechzig sah er dem anbrechenden Lebensabend längst gelassen entgegen. Geschieden, wohlhabend und kinderlos, wohnhaft in einem respektablen Vorort im australischen Adelaide, stellt Rayment sich als Mann ohne Leidenschaften vor. Seine Bettgeschichte mit einer alten Freundin war ihm mehr Zeitvertreib als Lustgewinn gewesen und bei weitem nicht so wichtig wie seine Sammlung historischer Fotografien. Doch seit die Amputation ihn zwingt, den vorgeplanten Lebensweg auf Krücken fortzusetzen, verliert sich mit dem Gleichgewicht die Gleichgültigkeit des alten Daseins. Mit einem Mal erkennt er sein "verkrüppeltes Ich" - "ein krasses Wort, aber warum um die Sache herumreden?" - und versucht fortan, tätige Verantwortung für seine Mitwelt zu üben. Dem Sohn seiner Pflegerin, einer kroatischen Einwanderin mit sehr bescheidenen Mitteln, will er den Besuch einer teuren Privatschule ermöglichen. Als Pflegefall will Rayment endlich auch für jemand anderen Sorge tragen, am liebsten wie für einen eigenen Sohn, den er nie wollte und jetzt doch herbeisehnt. Das ist der Grund, warum er seiner Pflegerin im zwölften Kapitel eine Liebeserklärung macht: Er braucht sie als Leihmutter, um den Phantomschmerz seiner Vaterschaft zu stillen. Sie lehnt ab. Dann schrillt die Klingel.
Die unwillkommene Besucherin heißt Elizabeth Costello und ist Coetzee-Lesern spätestens seit seinem letzten Buch bekannt. Unter ihrem Namen veröffentlichte er vor zwei Jahren eine Sammlung von acht sogenannten "Lehrstücken", philosophischen und literarischen Reflexionen über "Das Leben der Tiere" beispielsweise, über "Eros" oder den "Roman in Afrika", die jeweils als Beiträge der Titelfigur ausgegeben wurden und in den knapp skizzierten fiktionalen Rahmen ihres Lebens eingelagert waren. Darin erschien Elizabeth Costello als hochbedeutende und vielgeehrte alternde Autorin, die noch gern zu öffentlichen Anlässen und Festvorträgen eingeladen wird, im Grunde aber längst den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft hinter sich hat und seither eher widerstrebend den Forderungen des Literaturbetriebs nachkommt - eine Sprechrollenfigur des Autors Coetzee also, mit deren Hilfe er sich alle Zumutungen der meinungsfrohen Öffentlichkeit gern vom Leib hielte. Der Eindruck bestätigt und verschärft sich jetzt, da diese Figur unvermittelt in den neuen Roman einbricht.
Dem konsternierten Rayment wie dem Leser nämlich erklärt Costello unverblümt, sie sei gekommen, weil sie "selbst erkunden wollte, was für ein Wesen Sie sind". Die aufsässige Schriftstellerin kehrt kurzerhand den Spieß um und fordert Rechenschaft von ihrem Geschöpf ebenso wie zugleich von den Lesern, will wissen, was uns eigentlich bewegt und was wir von dem Fortgang der Geschichte wohl erwarten. Wer immer bislang also auf die Allmacht eines Autors bauen mochte, eine Wirklichkeit nicht einfach zu erfinden, sondern zugleich unsere Welt durch Interpretationen zu verändern, muß sich hier heftig vor den Kopf gestoßen fühlen. Und wie zum Beweis ihrer Rolle zitiert Costello gleich den ersten Satz, mit dem Coetzees Roman begann: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet" - und so weiter. Da hilft es nichts, daß Rayment abwehrt und erklärt, er habe sie nicht eingeladen und wünsche keine weitere Belästigung. Sein Autor kann von einer Romanfigur nun mal nicht einfach amputiert werden.
Von diesem Punkt an setzt sich die Erzählung wie im Paßgang fort. Auf der einen Seite heben ständig weitere Entwicklungen in Rayments neuem Leben an und verstricken ihn zusehends in das mühevolle Leben der kroatischen Familie, der er sich als Wohltäter aufdrängt. Auf der anderen Seite zieht Costello weiterhin die Fäden, verwickelt ihn in eine seltsame Affäre mit einem blinden Mädchen und spinnt allerhand Geschichten für ihn aus, als habe sie, wie er selbst sagt, in seinem nie geschriebenen Tagebuch gelesen. Allwissend ist sie gewiß nicht - warum müßte sie ihn sonst bedrängen? -, dennoch scheint sie den Figuren stets um einen kleinen Schritt voraus zu sein. Sie verhält sich daher zum Roman, den wir hier lesen, genauso wie die Krücken zum Krüppel: Ohne sie geht es nicht vorwärts.
Seit John Fowles 1969 im 13. Kapitel von "The French Lieutenant's Woman" eine beginnende Liebeshandlung unterbrach und statt dessen mit dem Leser über die Autorenfunktion im realistischen Roman räsonierte, haben wir viele postmoderne Geschichten über das Geschichtenschreiben gelesen. Daß Autoren traditionell Autoritäten sind, deren göttergleichem Machtgehabe wir tunlichst mißtrauen sollten, gehört seither zu jenen Grundeinsichten des aufgeklärten Lesers. Selten aber ist uns alle Ausflucht des Erzählens so nachhaltig verwehrt geblieben wie in "Zeitlupe", denn lange hat uns kein Erzähler erst mit so souveräner Meisterschaft zur Anteilnahme am Leben eines Menschen angeregt, um unserer Erregbarkeit sodann kurzen Prozeß zu machen. Die Erfahrung ist so unbequem wie unausweichlich. Denn wie fast immer bei Coetzee können wir auch diesmal seine irritierende Geschichte, obwohl sie wirklich quälend langsam fortschreitet, nicht einfach aus der Hand legen. Fortwährend wollen wir den Autor am liebsten selbst zur Rede stellen, weil wir das sichere Gefühl haben, das Entscheidende der Handlung sei uns entweder entgangen oder gezielt vorenthalten worden. Statt dessen aber schickt er seine Stellvertreterin aufs Feld.
"Das heißt Schreiben: es sich immer wieder überlegen, x-mal", läßt er uns mit Elizabeth Costello wissen und erhebt damit das fortgesetzte Zweifeln zum Programm. Wer also, wie ein großer Teil der englischen Kritik, vom neuen Coetzee rundheraus enttäuscht ist und nach mehr Glaubwürdigkeit für den Roman verlangt, muß bedenken, daß genau diese auf dem Spiel steht, wenn ein Radikalskeptiker schreibt. Seine Geschichte von Rayment und Costello endet übrigens mit einem freundschaftlichen Abschiedskuß. Als Leser aber wollen wir dringend hoffen, daß Coetzee es sich doch wieder überlegt.
TOBIAS DÖRING
J. M. Coetzee: "Zeitlupe". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 303 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zweifeln aus Prinzip: J. M. Coetzees Roman "Zeitlupe"
Im 13. Kapitel - so viel Zahlenmagie muß sein - schrillt plötzlich die Haustürklingel, und über die Gegensprechanlage kündigt sich eine ungebetene Besucherin an. Ihr Kommen verstört nicht nur den Hausherrn zutiefst, dem es fortan nicht mehr gelingt, sich von der Heimsuchung zu lösen. Auch als Leser wünschen wir uns bald, daß die seltsame Dame lieber nicht erschienen wäre. Denn mit der Ankunft dieser Besserwisserin nimmt die Geschichte, die wir bis dahin gelesen haben, eine bizarre Wendung.
Was als durchaus zu Herzen gehende Erzählung von Schmerz und Leidenschaft begann und just den Punkt einer ersten Liebeserklärung erreicht hatte, gerät hier unversehens ins Stocken und schraubt sich knirschend auf ein anderes Niveau, als wechsele der Roman die Gangart. Zugleich scheint es, als ob sich die Bodenluken öffneten und den Blick auf die Erzählmaschinerie freigäben, die jeder Geschichte sonst so effizient wie unauffällig Antrieb gibt. Schon immer hat J. M. Coetzee als Erzähler eiserne Zurückhaltung geübt. In "Zeitlupe", dem ersten Roman seit seinem Nobelpreis vor zwei Jahren, hält er nun vorübergehend das Räderwerk des Romaneschreibens an und nötigt uns, ihm dabei zuzusehen, wie ein Tüftler die Brauchbarkeit alter Werkzeugteile prüft.
Dabei beginnt alles mit großem Schwung und einem ungeheuren Aufprall: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad." Durch diesen Verkehrsunfall, von dem wir gleich im ersten Satz erfahren, verliert Paul Rayment zuerst das Bewußtsein und bald darauf im Krankenhaus sein rechtes Bein. Zurück bleibt ein unförmiger, roher Stumpf, rot angeschwollen und vernarbt, der ihm dennoch das Gefühl gibt, so mächtig wie ein Elefantenbein zu sein. Die ersten zwölf Kapitel erzählen nun davon, wie Rayment sich in seinem neuen Körper einrichtet. Eine Beinprothese hat er abgelehnt, erst langsam muß er daher lernen, als hilfloser Krüppel die Pflege anderer anzunehmen, und nur mühsam findet er sich in seiner Situation zurecht.
So beginnt sein neues Leben damit, für die veränderten Verhältnisse eine passende Sprache zu erproben und den Worten, die er bis dahin gedankenlos verwendet hat, ein anderes Gewicht zu geben. Mit Anfang Sechzig sah er dem anbrechenden Lebensabend längst gelassen entgegen. Geschieden, wohlhabend und kinderlos, wohnhaft in einem respektablen Vorort im australischen Adelaide, stellt Rayment sich als Mann ohne Leidenschaften vor. Seine Bettgeschichte mit einer alten Freundin war ihm mehr Zeitvertreib als Lustgewinn gewesen und bei weitem nicht so wichtig wie seine Sammlung historischer Fotografien. Doch seit die Amputation ihn zwingt, den vorgeplanten Lebensweg auf Krücken fortzusetzen, verliert sich mit dem Gleichgewicht die Gleichgültigkeit des alten Daseins. Mit einem Mal erkennt er sein "verkrüppeltes Ich" - "ein krasses Wort, aber warum um die Sache herumreden?" - und versucht fortan, tätige Verantwortung für seine Mitwelt zu üben. Dem Sohn seiner Pflegerin, einer kroatischen Einwanderin mit sehr bescheidenen Mitteln, will er den Besuch einer teuren Privatschule ermöglichen. Als Pflegefall will Rayment endlich auch für jemand anderen Sorge tragen, am liebsten wie für einen eigenen Sohn, den er nie wollte und jetzt doch herbeisehnt. Das ist der Grund, warum er seiner Pflegerin im zwölften Kapitel eine Liebeserklärung macht: Er braucht sie als Leihmutter, um den Phantomschmerz seiner Vaterschaft zu stillen. Sie lehnt ab. Dann schrillt die Klingel.
Die unwillkommene Besucherin heißt Elizabeth Costello und ist Coetzee-Lesern spätestens seit seinem letzten Buch bekannt. Unter ihrem Namen veröffentlichte er vor zwei Jahren eine Sammlung von acht sogenannten "Lehrstücken", philosophischen und literarischen Reflexionen über "Das Leben der Tiere" beispielsweise, über "Eros" oder den "Roman in Afrika", die jeweils als Beiträge der Titelfigur ausgegeben wurden und in den knapp skizzierten fiktionalen Rahmen ihres Lebens eingelagert waren. Darin erschien Elizabeth Costello als hochbedeutende und vielgeehrte alternde Autorin, die noch gern zu öffentlichen Anlässen und Festvorträgen eingeladen wird, im Grunde aber längst den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft hinter sich hat und seither eher widerstrebend den Forderungen des Literaturbetriebs nachkommt - eine Sprechrollenfigur des Autors Coetzee also, mit deren Hilfe er sich alle Zumutungen der meinungsfrohen Öffentlichkeit gern vom Leib hielte. Der Eindruck bestätigt und verschärft sich jetzt, da diese Figur unvermittelt in den neuen Roman einbricht.
Dem konsternierten Rayment wie dem Leser nämlich erklärt Costello unverblümt, sie sei gekommen, weil sie "selbst erkunden wollte, was für ein Wesen Sie sind". Die aufsässige Schriftstellerin kehrt kurzerhand den Spieß um und fordert Rechenschaft von ihrem Geschöpf ebenso wie zugleich von den Lesern, will wissen, was uns eigentlich bewegt und was wir von dem Fortgang der Geschichte wohl erwarten. Wer immer bislang also auf die Allmacht eines Autors bauen mochte, eine Wirklichkeit nicht einfach zu erfinden, sondern zugleich unsere Welt durch Interpretationen zu verändern, muß sich hier heftig vor den Kopf gestoßen fühlen. Und wie zum Beweis ihrer Rolle zitiert Costello gleich den ersten Satz, mit dem Coetzees Roman begann: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet" - und so weiter. Da hilft es nichts, daß Rayment abwehrt und erklärt, er habe sie nicht eingeladen und wünsche keine weitere Belästigung. Sein Autor kann von einer Romanfigur nun mal nicht einfach amputiert werden.
Von diesem Punkt an setzt sich die Erzählung wie im Paßgang fort. Auf der einen Seite heben ständig weitere Entwicklungen in Rayments neuem Leben an und verstricken ihn zusehends in das mühevolle Leben der kroatischen Familie, der er sich als Wohltäter aufdrängt. Auf der anderen Seite zieht Costello weiterhin die Fäden, verwickelt ihn in eine seltsame Affäre mit einem blinden Mädchen und spinnt allerhand Geschichten für ihn aus, als habe sie, wie er selbst sagt, in seinem nie geschriebenen Tagebuch gelesen. Allwissend ist sie gewiß nicht - warum müßte sie ihn sonst bedrängen? -, dennoch scheint sie den Figuren stets um einen kleinen Schritt voraus zu sein. Sie verhält sich daher zum Roman, den wir hier lesen, genauso wie die Krücken zum Krüppel: Ohne sie geht es nicht vorwärts.
Seit John Fowles 1969 im 13. Kapitel von "The French Lieutenant's Woman" eine beginnende Liebeshandlung unterbrach und statt dessen mit dem Leser über die Autorenfunktion im realistischen Roman räsonierte, haben wir viele postmoderne Geschichten über das Geschichtenschreiben gelesen. Daß Autoren traditionell Autoritäten sind, deren göttergleichem Machtgehabe wir tunlichst mißtrauen sollten, gehört seither zu jenen Grundeinsichten des aufgeklärten Lesers. Selten aber ist uns alle Ausflucht des Erzählens so nachhaltig verwehrt geblieben wie in "Zeitlupe", denn lange hat uns kein Erzähler erst mit so souveräner Meisterschaft zur Anteilnahme am Leben eines Menschen angeregt, um unserer Erregbarkeit sodann kurzen Prozeß zu machen. Die Erfahrung ist so unbequem wie unausweichlich. Denn wie fast immer bei Coetzee können wir auch diesmal seine irritierende Geschichte, obwohl sie wirklich quälend langsam fortschreitet, nicht einfach aus der Hand legen. Fortwährend wollen wir den Autor am liebsten selbst zur Rede stellen, weil wir das sichere Gefühl haben, das Entscheidende der Handlung sei uns entweder entgangen oder gezielt vorenthalten worden. Statt dessen aber schickt er seine Stellvertreterin aufs Feld.
"Das heißt Schreiben: es sich immer wieder überlegen, x-mal", läßt er uns mit Elizabeth Costello wissen und erhebt damit das fortgesetzte Zweifeln zum Programm. Wer also, wie ein großer Teil der englischen Kritik, vom neuen Coetzee rundheraus enttäuscht ist und nach mehr Glaubwürdigkeit für den Roman verlangt, muß bedenken, daß genau diese auf dem Spiel steht, wenn ein Radikalskeptiker schreibt. Seine Geschichte von Rayment und Costello endet übrigens mit einem freundschaftlichen Abschiedskuß. Als Leser aber wollen wir dringend hoffen, daß Coetzee es sich doch wieder überlegt.
TOBIAS DÖRING
J. M. Coetzee: "Zeitlupe". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 303 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2005Die Schreibmaschine der Götter
Abschied vom Imperfekt und Reise ins Land des Alters: John M. Coetzees neuer Roman „Zeitlupe”
Ein Mann, der eben noch ein Fahrradfahrer war, fliegt durch die Luft. Nach wenigen Zeilen schlägt er auf dem Asphalt auf, nach wenigen Seiten hat ihn sein Autor, wo er ihn haben will: im Unglück. Das rechte Bein ist amputiert, oberhalb des Knies, denn der Mann ist zu alt, als dass sich die Rekonstruktion des Knies noch gelohnt hätte. Das Bein ist verloren, aber es ist nicht fort. Aus der Abwesenheit macht es eine Stärke, es ist eine Hauptfigur des Romans, nicht anders als Paul Rayment, der eine Prothese ablehnt, der hartnäckig seiner verlorenen Unversehrtheit die Treue hält. „Slow Man” heißt der Roman im Original, und darin steckt nicht nur die Verlangsamung und Mühsal der Bewegung, die der deutsche Titel „Zeitlupe” betont. Denn Paul Rayment ist zugleich eine Figur beschleunigter Zeit: der Unfall katapultiert ihn vom Beginn ans Ende des Alters, stößt ihn als Pflegefall in die Welt der Gebrechlichkeit.
John M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt, Nobelpreisträger des Jahres 2003, gehört innerhalb der internationalen Romanliteratur zu den Protagonisten des Abschieds vom Imperfekt, in das über Jahrhunderte hinweg die Geschichten einliefen wie in einen sicheren Hafen des Epischen, auch wenn sie augenzwinkernd zu verstehen gaben, sie trügen nur fiktive Last. Schon aus seinem Roman „Disgrace” (dt.„Schande”) hat Coetzee das epische Imperfekt und einen Herrn herausgehalten: den Erzähler, der sich früher als Figur eigenen Rechts den Romanfiguren zugesellte, sich als besorgter oder ironischer Kommentator über sie beugte und überdies nicht selten den Leser in launige oder tiefsinnige Konversationen verwickelte.
Die Schrecksekunde, in der Paul Rayment durch die Luft fliegt, bannt Coetzee ins Präsens. Aber es ist nicht das historische Präsens, das ein versierter Erzähler in dramatischen Momenten einsetzt, um dann zum Imperfekt zurückzukehren. Coetzees Präsens ist keine Unterbrechung, es ist eine kühle, feste Glaswand, hinter der sich das Romangeschehen insgesamt vollzieht. Sie ähnelt den nur von einer Seite durchsichtigen Scheiben, durch die man in Krimis in Verhörräume oder auf Verdächtige blicken kann, ohne dass diese davon wissen.
So blickt in Coetzees Roman der Leser auf den Unfallort und in das Unfallopfer hinein. Keine Schwundstufe des Erzählers steht neben ihm, sondern eine stumme, konturlose Gestalt, die an keiner Stelle des Romans ihre Anonymität aufgeben oder gar den Leser ansprechen wird. Wo einmal der Erzähler war, ist nur eine wortlose Geste geblieben: Sieh hin, hör zu, was geschieht! Erwarte keine inneren Monologe, hier wird den Figuren die Schädeldecke von außen aufgeklappt, hier fährt das Präsens in ihre Herzen hinein wie die Sonde eines Chirurgen, der nicht die geringste Bewegung entgeht: „Was geht hier vor? Wenn er die Augen öffnen würde, wüsste er es. Aber das kann er jetzt noch nicht. Etwas dringt zu ihm. Buchstabe für Buchstabe, klack, klack, klack, eine Botschaft wird getippt auf einem rosaroten Bildschirm, der bei jedem Wimpernschlag wie Wasser zittert und daher höchstwahrscheinlich sein eigenes inneres Augenlid ist. E-R-T-Y, sagen die Buchstaben, dann F-R-I-V-O-L, dann Zittern dann E, dann Q-W-E-R-T-Y, wieder und wieder.”
Was geht hier vor? Warum träumt ein narkotisiertes Unfallopfer die Anfangsbuchstaben der (angelsächsischen) Tastatur von Schreibmaschinen und Computern: Q-W-E-R-T-Y? Und wer ist es, der diese Buchstaben tippt? Der Roman gibt eine überraschende Antwort: Es sind die Götter, sie tippen „auf ihrer okkulten Schreibmaschine”. Ein negativer deus ex machina hat ein wenig mit der Tastatur gespielt, und schon muss Paul Rayment sein Bein verlieren. Was geht hier vor? Was ist das für eine Grausamkeit?
Es ist die Grausamkeit der alten Götter, wie sie in der antiken Mythologie festgehalten ist: Sie nähern sich den Sterblichen in Verkleidung, schlagen sie mit Blindheit, machen sie zu Tieren oder zu Krüppeln. Paul Rayment haben sie zum „Slow Man” gemacht. Und sein Autor, J.M. Coetzee, folgt einer seit dem frühen 20. Jahrhundert in der Literatur verpuppten Einsicht: dass an die Stelle, an der in der Antike die Willkür der Götter stand, in der modernen Gesellschaft der Unfall getreten ist. Er ist der Blitz, der in einen Sterblichen hineinfährt, das Unvorhergesehene, in dem sich das Schicksal als Zufall maskiert.
Mr. Rayment lernt den Unfallfahrer kennen, einen jungen Mann namens Wayne Blight, der die Zerstörung im Namen trägt. Aber die Auseinandersetzung mit diesem Nachfahren der alten Götterboten überlässt er der Versicherung. Wichtiger als die Klärung der Schuldfrage ist ihm die Rebellion gegen das Diktat der okkulten Schreibmaschine. So gewinnt Coetzees Roman den Raum für seine Geschichte der ebenso hartnäckigen wie aussichtslosen Liebe des einbeinigen Mr. Paul Rayment zu seiner Pflegerin, der verheirateten, mit ihrer Familie aus Kroatien eingewanderten Pflegerin Marijana. Rayment, selbst kinderlos geschieden, träumt sich als Marijanas Liebhaber und in diese Familie hinein, will dem Sohn Drago gar ein Stipendium für ein teures Privatcollege finanzieren. Aber er bleibt am Ende allein.
Doch dieser Roman handelt nicht nur vom Streit zwischen den Dämonen des Alters und des Verfalls und denen der Liebe und Vitalität. Er ist zugleich ein Einwanderer-Roman, der erste Roman von Coetzee, in dem Australien, seine Wahlheimat seit einigen Jahren, Gestalt gewinnt. Paul Rayment, in Frankreich geboren, im Englischen nie vollständig heimisch geworden, hat die europäischen Götter mit nach Adelaide gebracht. Und er war einmal Porträtfotograf. Das Fotografieren hat er im Zeitalter der Digitalisierung aufgegeben. Für ihn müssen Fotografien sein, was Geschichten kaum sein können: verlässliche Zeugen des Lebens. Er hat eine Sammlung australischer Fotografie des 19. Jahrhunderts aufgebaut, mit Bildern von Eingeborenen, Strafgefangenen, Goldgräbern. So unaufdringlich wie kunstvoll hat Coetzee diese Geschichte der Verwurzelung im Bilderkosmos der Neuen Welt der Geschichte des bösen Spiels unterlegt, das der moderne „deus ex machina” mit Paul Rayment treibt.
Gebt mir einen beliebigen Stoff, sagt jemand am Anfang eines Woody Allen-Films, und ich zeige euch, dass man daraus ebenso gut eine Komödie wie ein Melodram machen kann. So hält es auch Coetzee in diesem Roman, macht aus Rayments Annäherungsversuchen einen traurig-komischen Slapstick, verordnet dem Lahmen gar ein groteskes erotisches Abenteuer mit einer Blinden. Aber immer hält das Unglück, halten die drastischen Blicke auf das Körperdrama des alternden Helden und die bösen Scherze der Götter die Komödie in Schach.
Auf beiden Seiten mischt Elizabeth Costello mit, die australische Schriftstellerin irischer Herkunft, die Coetzee zuerst in seinen Essays als eine Abenteurerin des Geistes und unberechenbaren Kobold des Erzählens hat auftreten lassen. Sie stößt hier dem Helden zu, wie der Unfall ihm zugestoßen ist: aus heiterem Himmel. Er wird sie nicht mehr los, diese durchtriebene, herzkranke Kupplerin, die wie ein Erzähler alten Schlages in die Geschichte eingreifen und den Helden mit seinem Schicksal versöhnen will. Wie sich Paul Rayment gegen diese Plage zur Wehr setzt, ist ein erzählerisches Kabinettstück von spröder, aber beträchtlicher Komik. Ja, die Glaswand des Mr. Coetzee ist kühl, und der Erzähler ist aus seiner Prosa vertrieben. Aber stark wie eh und je schlägt in diesem Buch das Herz des Romans. LOTHAR MÜLLER
J.M. COETZEE: Zeitlupe. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 304 Seiten, 18,90 Euro.
J.M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt, lebt seit einigen Jahren im australischen Adelaide. Dort lebt auch der Held seines neuen Romans, der eine Sammlung zur australischen Fotografie des 19. Jahrhunderts aufgebaut hat. Auch unser Foto von Aboriginals stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Fotos: © Hulton-Deutsch Collection/CORBIS; action press
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Abschied vom Imperfekt und Reise ins Land des Alters: John M. Coetzees neuer Roman „Zeitlupe”
Ein Mann, der eben noch ein Fahrradfahrer war, fliegt durch die Luft. Nach wenigen Zeilen schlägt er auf dem Asphalt auf, nach wenigen Seiten hat ihn sein Autor, wo er ihn haben will: im Unglück. Das rechte Bein ist amputiert, oberhalb des Knies, denn der Mann ist zu alt, als dass sich die Rekonstruktion des Knies noch gelohnt hätte. Das Bein ist verloren, aber es ist nicht fort. Aus der Abwesenheit macht es eine Stärke, es ist eine Hauptfigur des Romans, nicht anders als Paul Rayment, der eine Prothese ablehnt, der hartnäckig seiner verlorenen Unversehrtheit die Treue hält. „Slow Man” heißt der Roman im Original, und darin steckt nicht nur die Verlangsamung und Mühsal der Bewegung, die der deutsche Titel „Zeitlupe” betont. Denn Paul Rayment ist zugleich eine Figur beschleunigter Zeit: der Unfall katapultiert ihn vom Beginn ans Ende des Alters, stößt ihn als Pflegefall in die Welt der Gebrechlichkeit.
John M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt, Nobelpreisträger des Jahres 2003, gehört innerhalb der internationalen Romanliteratur zu den Protagonisten des Abschieds vom Imperfekt, in das über Jahrhunderte hinweg die Geschichten einliefen wie in einen sicheren Hafen des Epischen, auch wenn sie augenzwinkernd zu verstehen gaben, sie trügen nur fiktive Last. Schon aus seinem Roman „Disgrace” (dt.„Schande”) hat Coetzee das epische Imperfekt und einen Herrn herausgehalten: den Erzähler, der sich früher als Figur eigenen Rechts den Romanfiguren zugesellte, sich als besorgter oder ironischer Kommentator über sie beugte und überdies nicht selten den Leser in launige oder tiefsinnige Konversationen verwickelte.
Die Schrecksekunde, in der Paul Rayment durch die Luft fliegt, bannt Coetzee ins Präsens. Aber es ist nicht das historische Präsens, das ein versierter Erzähler in dramatischen Momenten einsetzt, um dann zum Imperfekt zurückzukehren. Coetzees Präsens ist keine Unterbrechung, es ist eine kühle, feste Glaswand, hinter der sich das Romangeschehen insgesamt vollzieht. Sie ähnelt den nur von einer Seite durchsichtigen Scheiben, durch die man in Krimis in Verhörräume oder auf Verdächtige blicken kann, ohne dass diese davon wissen.
So blickt in Coetzees Roman der Leser auf den Unfallort und in das Unfallopfer hinein. Keine Schwundstufe des Erzählers steht neben ihm, sondern eine stumme, konturlose Gestalt, die an keiner Stelle des Romans ihre Anonymität aufgeben oder gar den Leser ansprechen wird. Wo einmal der Erzähler war, ist nur eine wortlose Geste geblieben: Sieh hin, hör zu, was geschieht! Erwarte keine inneren Monologe, hier wird den Figuren die Schädeldecke von außen aufgeklappt, hier fährt das Präsens in ihre Herzen hinein wie die Sonde eines Chirurgen, der nicht die geringste Bewegung entgeht: „Was geht hier vor? Wenn er die Augen öffnen würde, wüsste er es. Aber das kann er jetzt noch nicht. Etwas dringt zu ihm. Buchstabe für Buchstabe, klack, klack, klack, eine Botschaft wird getippt auf einem rosaroten Bildschirm, der bei jedem Wimpernschlag wie Wasser zittert und daher höchstwahrscheinlich sein eigenes inneres Augenlid ist. E-R-T-Y, sagen die Buchstaben, dann F-R-I-V-O-L, dann Zittern dann E, dann Q-W-E-R-T-Y, wieder und wieder.”
Was geht hier vor? Warum träumt ein narkotisiertes Unfallopfer die Anfangsbuchstaben der (angelsächsischen) Tastatur von Schreibmaschinen und Computern: Q-W-E-R-T-Y? Und wer ist es, der diese Buchstaben tippt? Der Roman gibt eine überraschende Antwort: Es sind die Götter, sie tippen „auf ihrer okkulten Schreibmaschine”. Ein negativer deus ex machina hat ein wenig mit der Tastatur gespielt, und schon muss Paul Rayment sein Bein verlieren. Was geht hier vor? Was ist das für eine Grausamkeit?
Es ist die Grausamkeit der alten Götter, wie sie in der antiken Mythologie festgehalten ist: Sie nähern sich den Sterblichen in Verkleidung, schlagen sie mit Blindheit, machen sie zu Tieren oder zu Krüppeln. Paul Rayment haben sie zum „Slow Man” gemacht. Und sein Autor, J.M. Coetzee, folgt einer seit dem frühen 20. Jahrhundert in der Literatur verpuppten Einsicht: dass an die Stelle, an der in der Antike die Willkür der Götter stand, in der modernen Gesellschaft der Unfall getreten ist. Er ist der Blitz, der in einen Sterblichen hineinfährt, das Unvorhergesehene, in dem sich das Schicksal als Zufall maskiert.
Mr. Rayment lernt den Unfallfahrer kennen, einen jungen Mann namens Wayne Blight, der die Zerstörung im Namen trägt. Aber die Auseinandersetzung mit diesem Nachfahren der alten Götterboten überlässt er der Versicherung. Wichtiger als die Klärung der Schuldfrage ist ihm die Rebellion gegen das Diktat der okkulten Schreibmaschine. So gewinnt Coetzees Roman den Raum für seine Geschichte der ebenso hartnäckigen wie aussichtslosen Liebe des einbeinigen Mr. Paul Rayment zu seiner Pflegerin, der verheirateten, mit ihrer Familie aus Kroatien eingewanderten Pflegerin Marijana. Rayment, selbst kinderlos geschieden, träumt sich als Marijanas Liebhaber und in diese Familie hinein, will dem Sohn Drago gar ein Stipendium für ein teures Privatcollege finanzieren. Aber er bleibt am Ende allein.
Doch dieser Roman handelt nicht nur vom Streit zwischen den Dämonen des Alters und des Verfalls und denen der Liebe und Vitalität. Er ist zugleich ein Einwanderer-Roman, der erste Roman von Coetzee, in dem Australien, seine Wahlheimat seit einigen Jahren, Gestalt gewinnt. Paul Rayment, in Frankreich geboren, im Englischen nie vollständig heimisch geworden, hat die europäischen Götter mit nach Adelaide gebracht. Und er war einmal Porträtfotograf. Das Fotografieren hat er im Zeitalter der Digitalisierung aufgegeben. Für ihn müssen Fotografien sein, was Geschichten kaum sein können: verlässliche Zeugen des Lebens. Er hat eine Sammlung australischer Fotografie des 19. Jahrhunderts aufgebaut, mit Bildern von Eingeborenen, Strafgefangenen, Goldgräbern. So unaufdringlich wie kunstvoll hat Coetzee diese Geschichte der Verwurzelung im Bilderkosmos der Neuen Welt der Geschichte des bösen Spiels unterlegt, das der moderne „deus ex machina” mit Paul Rayment treibt.
Gebt mir einen beliebigen Stoff, sagt jemand am Anfang eines Woody Allen-Films, und ich zeige euch, dass man daraus ebenso gut eine Komödie wie ein Melodram machen kann. So hält es auch Coetzee in diesem Roman, macht aus Rayments Annäherungsversuchen einen traurig-komischen Slapstick, verordnet dem Lahmen gar ein groteskes erotisches Abenteuer mit einer Blinden. Aber immer hält das Unglück, halten die drastischen Blicke auf das Körperdrama des alternden Helden und die bösen Scherze der Götter die Komödie in Schach.
Auf beiden Seiten mischt Elizabeth Costello mit, die australische Schriftstellerin irischer Herkunft, die Coetzee zuerst in seinen Essays als eine Abenteurerin des Geistes und unberechenbaren Kobold des Erzählens hat auftreten lassen. Sie stößt hier dem Helden zu, wie der Unfall ihm zugestoßen ist: aus heiterem Himmel. Er wird sie nicht mehr los, diese durchtriebene, herzkranke Kupplerin, die wie ein Erzähler alten Schlages in die Geschichte eingreifen und den Helden mit seinem Schicksal versöhnen will. Wie sich Paul Rayment gegen diese Plage zur Wehr setzt, ist ein erzählerisches Kabinettstück von spröder, aber beträchtlicher Komik. Ja, die Glaswand des Mr. Coetzee ist kühl, und der Erzähler ist aus seiner Prosa vertrieben. Aber stark wie eh und je schlägt in diesem Buch das Herz des Romans. LOTHAR MÜLLER
J.M. COETZEE: Zeitlupe. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 304 Seiten, 18,90 Euro.
J.M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt, lebt seit einigen Jahren im australischen Adelaide. Dort lebt auch der Held seines neuen Romans, der eine Sammlung zur australischen Fotografie des 19. Jahrhunderts aufgebaut hat. Auch unser Foto von Aboriginals stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Fotos: © Hulton-Deutsch Collection/CORBIS; action press
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