Ein renommierter junger Autor zerpflückt kompetent die Dogmen des digitalen Zeitalters
Dem Silicon Valley verdanken wir die technischen Errungenschaften, die unsere Welt so ganz anders machen, als sie einst war. Mehr noch, die Vordenker aus den Eckbüros von Google, Apple und Facebook lieferten die dazugehörige Philosophie gleich mit - und wir alle haben sie verinnerlicht. Das Internetzeitalter gilt als epochaler Einschnitt. Die digitale Revolution stellt die Daseinsberechtigung althergebrachter Strukturen und Institutionen infrage. Politik, Wirtschaft, Kultur und unsere Lebenswege sind heute transparent, individualisiert und jederzeit abrufbar. Evgeny Morozov hinterfragt diese smarte neue Welt mit Verve. Ist sie wirklich besser, sicherer, lebenswerter?
Evgeny Morozov entlarvt diese digitale Utopie in seinem weitgreifenden Werk als gefährliche Ideologie. Durch die Brille der digitalen Utopisten sehen wir ineffizient, unberechenbar und ungenügend, kurz: nicht optimiert aus. Wir sind nicht smart genug. Und die Lösung für dieses vermeintliche Problem heißt: mehr Technik - mehr Daten, mehr Algorithmen, mehr Kontrolle. Mit "Smarte neue Welt" drängt Morozov darauf, diese Brille abzusetzen und differenziert darüber nachzudenken, wie wir das digitale Universum mit unserem analogen Dasein sinnvoll in Einklang bringen und Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung retten können.
Dem Silicon Valley verdanken wir die technischen Errungenschaften, die unsere Welt so ganz anders machen, als sie einst war. Mehr noch, die Vordenker aus den Eckbüros von Google, Apple und Facebook lieferten die dazugehörige Philosophie gleich mit - und wir alle haben sie verinnerlicht. Das Internetzeitalter gilt als epochaler Einschnitt. Die digitale Revolution stellt die Daseinsberechtigung althergebrachter Strukturen und Institutionen infrage. Politik, Wirtschaft, Kultur und unsere Lebenswege sind heute transparent, individualisiert und jederzeit abrufbar. Evgeny Morozov hinterfragt diese smarte neue Welt mit Verve. Ist sie wirklich besser, sicherer, lebenswerter?
Evgeny Morozov entlarvt diese digitale Utopie in seinem weitgreifenden Werk als gefährliche Ideologie. Durch die Brille der digitalen Utopisten sehen wir ineffizient, unberechenbar und ungenügend, kurz: nicht optimiert aus. Wir sind nicht smart genug. Und die Lösung für dieses vermeintliche Problem heißt: mehr Technik - mehr Daten, mehr Algorithmen, mehr Kontrolle. Mit "Smarte neue Welt" drängt Morozov darauf, diese Brille abzusetzen und differenziert darüber nachzudenken, wie wir das digitale Universum mit unserem analogen Dasein sinnvoll in Einklang bringen und Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung retten können.
"Jenseits von Wikipedia-Wissen! Fundiert! Gelehrt! Sorgfältig!" Maximilian Probst, Die Zeit
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Evgeny Morozov ist das, was man im modernen Netzsprech einen "Troll" nennt, einer, der mit polemischen Kommentaren provoziert und Aufmerksamkeit auf sich lenkt, erklärt Eduard Kaeser. Sein erklärtes Ziel: die "Zerstörung der Ideologiepfeiler des Internets", und genau darum geht es auch in seinem Buch "Smarte neue Welt", berichtet der Rezensent. Das Mittel seiner Wahl ist das Ad-absurdum-Führen von utopischen oder auch sehr realen Tendenzen des Internets, das alle Probleme mit einem Klick beheben möchte, dafür aber erst einmal die Probleme so definieren muss, dass sie auf diese Weise lösbar werden, fasst Kaeser zusammen. Das Buch ist ziemlich witzig und gänzlich unbesorgt übersteht man es nicht, verspricht der Rezensent - dem Dialog, der Alternativen verspricht, winkt es allerdings nur aus der Peripherie, bedauert Kaeser.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2013Ist Ingenieur sein denn glamourös?
Elektronisches Gerät an, gesunder Menschenverstand aus? Evgeny Morozov wirft den Technikenthusiasten in seinem Buch "Smarte neue Welt" vor, die soziale Urteilskraft allzu leicht über Bord zu werfen.
Dieses Buch ist zu umfangreich, es hat zu viele Themen, und sein Autor regt sich zu sehr auf. Und dieses Buch ist fabelhaft, eine unglaubliche Fundgrube. Geschrieben hat es der neunundzwanzigjährige Evgeny Morozov, der gerade am Fachbereich für Wissenschaftsgeschichte der Harvard University promoviert. Hier legt er unter dem Titel "Smarte neue Welt" eine Zeitdiagnose vor. Wie andere Zeitdiagnosen hält auch sie sich an die neueste Technologie, um zu beschreiben, in welcher Gesellschaft wir leben.
Die neueste Technologie ist die digitale. Morozov erörtert, was mit der Nutzung von Smartphones, Suchmaschinen und elektronischen Bekanntschaftsnetzwerken alles einhergeht: an Nutzen, an Schaden, an unbeabsichtigten Folgen. Dabei bezieht Morozov seine Motive weniger aus der Technik selbst. Es geht ihm vielmehr vorrangig um die Versprechungen, die an sie geknüpft werden, die Phantasie, die sie entbindet, den Denkstil ihrer Enthusiasten. Denn es gibt kein gesellschaftliches Gebiet mehr, auf dem nicht digitale Technologien die Verbesserung des öffentlichen wie privaten Universums in Aussicht stellen.
Beispiele? Die Website hunch.com verspricht jedem Nutzer, aus seinen Antworten auf Testfragen, seinem Verhalten im Netz und den Präferenzen seiner "Freunde" optimale Kaufempfehlungen für alles zu errechnen. Die Logik, die dahintersteckt: Männer um die vierzig, die abends grünen Tee trinken, lesen auch gerne Micky Maus. Oder das Beispiel, mit dem Morozov einsteigt: BinCam. Das ist ein Projekt, bei dem Smartphones auf der Innenseite von Müllereimerdeckeln fotografieren, was weggeworfen wird, um die Bilder auswerten zu lassen und auf Facebook hochzuladen, wo dann ein Wettbewerb um das nachhaltigste Wegwerfverhalten einsetzen soll.
Oder nehmen wir die Webseite eines Argentiniers aus Bahía Blanca, die öffentliche Ausgaben der Stadt in leicht verständliche Grafiken umsetzt. Ist das im Sinne der Transparenz und Bürgerbeteiligung nicht vorbildlich? Und war der Aufschrei, als die Stadtverwaltung zwar nach wie vor alle Zahlen im Netz veröffentlichte, aber Algorithmen wie denen des jungen Programmierers den Zugriff auf sie versperrte, nicht berechtigt?
Morozov zweifelt. Denn für ihn sind das alles Beispiele einer Ideologie, die er "Solutionisms" nennt. Damit bezeichnet er die Neigung, gesellschaftliche Probleme - zum Beispiel Klimawandel, Politikverdrossenheit, ungesunde Ernährung, die Verteilung von Geldern - lösen zu wollen, bevor man sie verstanden hat. Oder etwas - Was soll ich lesen? - zu einem technischen Problem zu erklären, weil man im Besitz einer universellen Lösungstechnik ist. Wie würde man beispielsweise "Transparenz" beurteilen, wenn es nicht um öffentliche Ausgaben, sondern um Planungsdiskussionen in Verwaltungen ginge? Webcams in jedes Sitzungszimmer? In Amerika wird, seit die Protokolle von Treffen der Notenbanker öffentlich sind, in den Sitzungen nachweislich weniger kontrovers diskutiert. Und seit dort die Anwesenheit von Politikern bei Abstimmungen veröffentlicht wird, sind die Sitzungssäle auch dann voll, wenn es um unwichtige Abstimmungen geht und viele die Zeit besser nutzen könnten.
Ob Transparenz nützlich ist oder nur dazu führt, dass bestimmte Interessenten Lärm machen, woraufhin sich das Verhalten der Beobachteten ändert, ist eine fallweise zu klärende Frage. Doch, so Morozov, wenn faszinierende Technologien zuhanden sind, wird die technische Lösung auch ohne ein soziales Problemverständnis favorisiert. Die Leute werfen Nahrungsmittel weg? Lasst uns Fotos von ihren Mülleimern posten. Aber wenn sie dann die Nahrungsmittel in einen anderen werfen? Steht am Ende die Komplettüberwachung aller Haushalte?
Es ist also der Verzicht auf soziale Urteilskraft, die Morozov den Technikenthusiasten vorhält. Während Unsummen in "Open Access" zu wissenschaftlichen Aufsätzen gesteckt werden, liegt deren Durchschnittsleserzahl bei ungefähr 1 und wissen Romanisten im sechsten Semester nicht, wer Flaubert ist. Das spricht nicht gegen die Digitalisierung, aber gegen die "solutionistischen" Erwartungen. Die größten Gewinne der technologischen Versprechen fallen meist nicht dort an, wo die Probleme liegen, sondern bei den Ausrüstern.
Der Verzicht auf Urteilskraft führt auch zur Blindheit gegenüber Nebenfolgen: Man ist fasziniert von der Möglichkeit, die Kriminalitätsraten verschiedener Stadtquartiere ins Netz zu stellen. Dass aber elf Prozent der von einem Versicherungsunternehmen Befragten angaben, einen Vorfall nicht angezeigt zu haben, weil das den Wert ihrer Immobilie beinträchtige, sollte die Freude über digitale Aufklärung bremsen. "Langfristig", so der Technologieprophet und Anhänger der Selbstvermessung Kevin Kelly, "ist bisher alles besser geworden, was wir quantifizieren konnten." Das ist so idiotisch, dass man es gar nicht diskutieren muss. Vom Wiegen werden die Schweine nicht fetter, und selbst wenn das Wiegen eine Voraussetzung dafür sein mag, sie gezielt fetter zu machen, ist es eine offene Frage, für wen die fetteren die besseren Schweine sind.
Wer einwendet, für den Zahlenaberglauben könnten doch digitale Technologien nichts, rennt bei Morozov - trotz seiner Kapitel über den engen Zusammenhang von Quantifizierung und elektronischem Datensammeln und -auswerten - offene Türen ein. Denn die andere zeitgenössische Ideologie besteht für ihn im Glauben, durch das Internet träten wir in eine neue Epoche ein, in der nichts mehr gilt, was wir bis dahin dachten. Morozov ist kein Kulturpessimist, er regt sich nur über Phrasen auf, so sehr, dass er sich sogar von mehr ethischer Besinnung etwas verspricht. Nicht die Ansammlung heterogener Tatbestände, die wir das Internet nennen, ist also für ihn problematisch, sondern die teils törichten, teils geschäftstüchtigen Projektionen, nichts könne mehr ohne sie gut werden.
Bildung? Schulen ans Netz! Gesundheitsprobleme? Self-Tracking und DNA-Analyse! Demokratieverdruss? Rund-um-die-Uhr-Demoskopie und Open Government! All dies mündet in Sprüche wie "Das Wissen ist jetzt im Besitz des Netzes", als habe es zuvor keine Netzwerke gegeben, oder "Die Teilhabe von allen an allem jederzeit", als würde etwas schon dadurch besser, dass man es leichter versenden kann.
Viele Enthusiasten des Internets pflegen dabei, so Morozov, Ressentiments gegen den Staat und traditionelle Berufsrollen. Dass weder das Internet noch die Post, weder die Universitäten noch der Rundfunk, weder die Zeitungen noch Eisenbahnen ohne staatliches Handeln sich entwickelt hätten, wird verschwiegen. Dass andererseits das Internet gewiss keine Technik ist, die Vermachtung und Monopolbildung ausschließt, sollte inzwischen der letzte "2.0"-Anhänger oder "Weg mit den Privilegien"-Blogger begriffen haben. Wenn ein Viertel der gesamten Textmenge auf Wikipedia aus Debatten über die Redaktionspolitik besteht, dürfte sich auch die Illusion vom Netz als einer bürokratiefreien Zone erübrigen.
Weil alles "im Internet" ist und der Begriff "Information" sich auf alles anwenden lässt - auch auf Desinformation -, fließt Morozovs Buch vor Themen über. Die angebliche Ersetzung von Restaurantkritik durch Gästebewertungen nimmt er sich ebenso vor wie die Rufschädigung von Personen durch Googles "Autocomplete"-Funktion, die zum Namen gleich noch ein Attribut anbietet. Er handelt über Kommunikationskaskaden im Netz, die große PR-Industrien begünstigen, und über die "prädikative Überwachung" durch amerikanische Polizeibehörden, die sich auf algorithmisch ermittelte Urteile des Typs "Wer eine Straftat begeht, twittert kurz zuvor bestimmte Worte" verlässt.
Keine soziale Phantasie, zu der es nicht eine Software gibt und eine Fangruppe, die sich "datensexuell" verhält wie diejenigen, die sich mittels ihrer smarten Geräte in allen Lebensdimensionen selbst überwachen. Der Autor selbst liest offenbar Tag und Nacht, auf jeder Seite bekommt der Leser neue Hinweise auf jüngste technologische Erfindungen - und auf die Dummheit, die gerade bei denen nicht ausstirbt, die sich für besonders avanciert halten. Das ist es, was ihn aufregt: wie viele, die sich besonders schlau und als Zukunft vorkommen, den gesunden Menschenverstand ausschalten, wenn sie ein elektronisches Gerät sehen.
Mit dem moralischen Überschuss des Anti-Propheten haut Morozov ihnen ihre Phrase um die Ohren, weist auf Forschung hin, die es zu ihren Versprechungen gibt, erinnert daran, dass "Effizienz" auch ein anderer Name für "Unfug" sein kann und dass Ingenieur zu sein nicht reicht, um ein guter Ingenieur zu sein. Das gilt besonders für Sozialingenieure.
JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elektronisches Gerät an, gesunder Menschenverstand aus? Evgeny Morozov wirft den Technikenthusiasten in seinem Buch "Smarte neue Welt" vor, die soziale Urteilskraft allzu leicht über Bord zu werfen.
Dieses Buch ist zu umfangreich, es hat zu viele Themen, und sein Autor regt sich zu sehr auf. Und dieses Buch ist fabelhaft, eine unglaubliche Fundgrube. Geschrieben hat es der neunundzwanzigjährige Evgeny Morozov, der gerade am Fachbereich für Wissenschaftsgeschichte der Harvard University promoviert. Hier legt er unter dem Titel "Smarte neue Welt" eine Zeitdiagnose vor. Wie andere Zeitdiagnosen hält auch sie sich an die neueste Technologie, um zu beschreiben, in welcher Gesellschaft wir leben.
Die neueste Technologie ist die digitale. Morozov erörtert, was mit der Nutzung von Smartphones, Suchmaschinen und elektronischen Bekanntschaftsnetzwerken alles einhergeht: an Nutzen, an Schaden, an unbeabsichtigten Folgen. Dabei bezieht Morozov seine Motive weniger aus der Technik selbst. Es geht ihm vielmehr vorrangig um die Versprechungen, die an sie geknüpft werden, die Phantasie, die sie entbindet, den Denkstil ihrer Enthusiasten. Denn es gibt kein gesellschaftliches Gebiet mehr, auf dem nicht digitale Technologien die Verbesserung des öffentlichen wie privaten Universums in Aussicht stellen.
Beispiele? Die Website hunch.com verspricht jedem Nutzer, aus seinen Antworten auf Testfragen, seinem Verhalten im Netz und den Präferenzen seiner "Freunde" optimale Kaufempfehlungen für alles zu errechnen. Die Logik, die dahintersteckt: Männer um die vierzig, die abends grünen Tee trinken, lesen auch gerne Micky Maus. Oder das Beispiel, mit dem Morozov einsteigt: BinCam. Das ist ein Projekt, bei dem Smartphones auf der Innenseite von Müllereimerdeckeln fotografieren, was weggeworfen wird, um die Bilder auswerten zu lassen und auf Facebook hochzuladen, wo dann ein Wettbewerb um das nachhaltigste Wegwerfverhalten einsetzen soll.
Oder nehmen wir die Webseite eines Argentiniers aus Bahía Blanca, die öffentliche Ausgaben der Stadt in leicht verständliche Grafiken umsetzt. Ist das im Sinne der Transparenz und Bürgerbeteiligung nicht vorbildlich? Und war der Aufschrei, als die Stadtverwaltung zwar nach wie vor alle Zahlen im Netz veröffentlichte, aber Algorithmen wie denen des jungen Programmierers den Zugriff auf sie versperrte, nicht berechtigt?
Morozov zweifelt. Denn für ihn sind das alles Beispiele einer Ideologie, die er "Solutionisms" nennt. Damit bezeichnet er die Neigung, gesellschaftliche Probleme - zum Beispiel Klimawandel, Politikverdrossenheit, ungesunde Ernährung, die Verteilung von Geldern - lösen zu wollen, bevor man sie verstanden hat. Oder etwas - Was soll ich lesen? - zu einem technischen Problem zu erklären, weil man im Besitz einer universellen Lösungstechnik ist. Wie würde man beispielsweise "Transparenz" beurteilen, wenn es nicht um öffentliche Ausgaben, sondern um Planungsdiskussionen in Verwaltungen ginge? Webcams in jedes Sitzungszimmer? In Amerika wird, seit die Protokolle von Treffen der Notenbanker öffentlich sind, in den Sitzungen nachweislich weniger kontrovers diskutiert. Und seit dort die Anwesenheit von Politikern bei Abstimmungen veröffentlicht wird, sind die Sitzungssäle auch dann voll, wenn es um unwichtige Abstimmungen geht und viele die Zeit besser nutzen könnten.
Ob Transparenz nützlich ist oder nur dazu führt, dass bestimmte Interessenten Lärm machen, woraufhin sich das Verhalten der Beobachteten ändert, ist eine fallweise zu klärende Frage. Doch, so Morozov, wenn faszinierende Technologien zuhanden sind, wird die technische Lösung auch ohne ein soziales Problemverständnis favorisiert. Die Leute werfen Nahrungsmittel weg? Lasst uns Fotos von ihren Mülleimern posten. Aber wenn sie dann die Nahrungsmittel in einen anderen werfen? Steht am Ende die Komplettüberwachung aller Haushalte?
Es ist also der Verzicht auf soziale Urteilskraft, die Morozov den Technikenthusiasten vorhält. Während Unsummen in "Open Access" zu wissenschaftlichen Aufsätzen gesteckt werden, liegt deren Durchschnittsleserzahl bei ungefähr 1 und wissen Romanisten im sechsten Semester nicht, wer Flaubert ist. Das spricht nicht gegen die Digitalisierung, aber gegen die "solutionistischen" Erwartungen. Die größten Gewinne der technologischen Versprechen fallen meist nicht dort an, wo die Probleme liegen, sondern bei den Ausrüstern.
Der Verzicht auf Urteilskraft führt auch zur Blindheit gegenüber Nebenfolgen: Man ist fasziniert von der Möglichkeit, die Kriminalitätsraten verschiedener Stadtquartiere ins Netz zu stellen. Dass aber elf Prozent der von einem Versicherungsunternehmen Befragten angaben, einen Vorfall nicht angezeigt zu haben, weil das den Wert ihrer Immobilie beinträchtige, sollte die Freude über digitale Aufklärung bremsen. "Langfristig", so der Technologieprophet und Anhänger der Selbstvermessung Kevin Kelly, "ist bisher alles besser geworden, was wir quantifizieren konnten." Das ist so idiotisch, dass man es gar nicht diskutieren muss. Vom Wiegen werden die Schweine nicht fetter, und selbst wenn das Wiegen eine Voraussetzung dafür sein mag, sie gezielt fetter zu machen, ist es eine offene Frage, für wen die fetteren die besseren Schweine sind.
Wer einwendet, für den Zahlenaberglauben könnten doch digitale Technologien nichts, rennt bei Morozov - trotz seiner Kapitel über den engen Zusammenhang von Quantifizierung und elektronischem Datensammeln und -auswerten - offene Türen ein. Denn die andere zeitgenössische Ideologie besteht für ihn im Glauben, durch das Internet träten wir in eine neue Epoche ein, in der nichts mehr gilt, was wir bis dahin dachten. Morozov ist kein Kulturpessimist, er regt sich nur über Phrasen auf, so sehr, dass er sich sogar von mehr ethischer Besinnung etwas verspricht. Nicht die Ansammlung heterogener Tatbestände, die wir das Internet nennen, ist also für ihn problematisch, sondern die teils törichten, teils geschäftstüchtigen Projektionen, nichts könne mehr ohne sie gut werden.
Bildung? Schulen ans Netz! Gesundheitsprobleme? Self-Tracking und DNA-Analyse! Demokratieverdruss? Rund-um-die-Uhr-Demoskopie und Open Government! All dies mündet in Sprüche wie "Das Wissen ist jetzt im Besitz des Netzes", als habe es zuvor keine Netzwerke gegeben, oder "Die Teilhabe von allen an allem jederzeit", als würde etwas schon dadurch besser, dass man es leichter versenden kann.
Viele Enthusiasten des Internets pflegen dabei, so Morozov, Ressentiments gegen den Staat und traditionelle Berufsrollen. Dass weder das Internet noch die Post, weder die Universitäten noch der Rundfunk, weder die Zeitungen noch Eisenbahnen ohne staatliches Handeln sich entwickelt hätten, wird verschwiegen. Dass andererseits das Internet gewiss keine Technik ist, die Vermachtung und Monopolbildung ausschließt, sollte inzwischen der letzte "2.0"-Anhänger oder "Weg mit den Privilegien"-Blogger begriffen haben. Wenn ein Viertel der gesamten Textmenge auf Wikipedia aus Debatten über die Redaktionspolitik besteht, dürfte sich auch die Illusion vom Netz als einer bürokratiefreien Zone erübrigen.
Weil alles "im Internet" ist und der Begriff "Information" sich auf alles anwenden lässt - auch auf Desinformation -, fließt Morozovs Buch vor Themen über. Die angebliche Ersetzung von Restaurantkritik durch Gästebewertungen nimmt er sich ebenso vor wie die Rufschädigung von Personen durch Googles "Autocomplete"-Funktion, die zum Namen gleich noch ein Attribut anbietet. Er handelt über Kommunikationskaskaden im Netz, die große PR-Industrien begünstigen, und über die "prädikative Überwachung" durch amerikanische Polizeibehörden, die sich auf algorithmisch ermittelte Urteile des Typs "Wer eine Straftat begeht, twittert kurz zuvor bestimmte Worte" verlässt.
Keine soziale Phantasie, zu der es nicht eine Software gibt und eine Fangruppe, die sich "datensexuell" verhält wie diejenigen, die sich mittels ihrer smarten Geräte in allen Lebensdimensionen selbst überwachen. Der Autor selbst liest offenbar Tag und Nacht, auf jeder Seite bekommt der Leser neue Hinweise auf jüngste technologische Erfindungen - und auf die Dummheit, die gerade bei denen nicht ausstirbt, die sich für besonders avanciert halten. Das ist es, was ihn aufregt: wie viele, die sich besonders schlau und als Zukunft vorkommen, den gesunden Menschenverstand ausschalten, wenn sie ein elektronisches Gerät sehen.
Mit dem moralischen Überschuss des Anti-Propheten haut Morozov ihnen ihre Phrase um die Ohren, weist auf Forschung hin, die es zu ihren Versprechungen gibt, erinnert daran, dass "Effizienz" auch ein anderer Name für "Unfug" sein kann und dass Ingenieur zu sein nicht reicht, um ein guter Ingenieur zu sein. Das gilt besonders für Sozialingenieure.
JÜRGEN KAUBE
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