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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2008

Die hohe Schule des Schnüffelns

Wie beurteilen wir Menschen, die wir noch nie gesehen haben? Zum Beispiel anhand ihrer schmutzigen Wäsche. Aber eine E-Mail-Adresse reicht auch schon.

VON JOACHIM MARSCHALL

In der Fernsehsendung "Schlüsselreiz" dürfen sich Singles in fremden Wohnungen umsehen, um zu entscheiden, mit welchem der abwesenden Bewohner sie am liebsten ausgehen wollen. Immerhin: Geschmacklose Deko und schlecht kaschierte Wäscheberge scheinen eine ehrlichere Sprache zu sprechen als die meisten Kontaktanzeigen. Aber vermitteln sie auch ein brauchbares Bild unserer Persönlichkeit?

Der britische Psychologe Samuel Gosling, der an der University of Texas lehrt, würde das bejahen. Seit zehn Jahren erforscht Gosling genau die Frage, die der Kuppel-Show auf Pro 7 zugrunde liegt: Auf welche Weise entsteht ein erster Eindruck aufgrund der Dinge, mit denen sich Menschen umgeben? Und wie zutreffend ist dieses Bild?

Über seine Erkenntnisse hat Gosling nun ein Buch geschrieben, eine Anleitung zum "Schnüffeln". Darin erklärt er, was andere Menschen durch unsere Büros, unseren Musikgeschmack und unsere private Website über uns erfahren können. "Schlafzimmer etwa verraten fast immer etwas", sagt Gosling. Für eine Studie schickte er die Teilnehmer in die Zimmer von Studenten seiner Universität. In jedem Raum galt es, die Persönlichkeit des abwesenden Bewohners auf einem standardisierten Fragebogen einzuschätzen: War er oder sie wohl ein geselliger oder ein eigenbrötlerischer Typ? Eher vertrauensselig oder misstrauisch? Die Antworten der Beurteiler verglich Gosling mit den Selbsteinschätzungen der Bewohner.

Ohne die Mieter je zu Gesicht bekommen zu haben, lagen die Beurteiler bei fast allen Eigenschaften erstaunlich nahe an deren Selbsteinschätzung. Das galt beispielsweise für "Gewissenhaftigkeit" - vielleicht schnell bei einem Blick unter das Bett zu erkennen -, aber ebenso für "Neurotizismus". Mit dieser Skala messen Psychologen unter anderem, wie ängstlich, empfindlich oder reizbar eine Person ist, Eigenschaften also, die man für gewöhnlich nicht mit Möbel- und Bilder-Vorlieben in Verbindung bringt. Am genauesten waren die Urteile allerdings bei "Offenheit für Erfahrungen". Ein kurzer Blick in ein fremdes Zimmer verrät also am meisten etwas darüber, wie phantasievoll und umtriebig der Bewohner ist.

Wie kommen diese Einschätzungen zustande? Um das herauszufinden, ließ Gosling auch möglichst objektive Details festhalten: Wie sauber war das Zimmer? Wie gut beleuchtet? Gab es viele Bücher oder wenige? Dadurch konnte er einerseits feststellen, welche Schlüsselreize seine Schnüffler beachtet hatten, und andererseits, welche Indizien wirklich mit der Selbsteinschätzung der Bewohner zusammenhingen. So war etwa die Beleuchtung tatsächlich aufschlussreich: Wer in einem helleren Zimmer lebte, beschrieb sich selbst tendenziell als ordentlicher und organisierter. Dasselbe galt für eine moderne Einrichtung. Allerdings ließen sich die Beurteiler auch von vielen vermeintlichen Hinweisen in die Irre führen. So interpretierten sie ein farbenfrohes, heiteres Zimmer als Fingerzeig auf einen verträglichen, harmonieliebenden Charakter - ein Zusammenhang, der aus der Luft gegriffen war.

Goslings Forschung spricht dafür, dass der erste Eindruck tatsächlich einigermaßen valide ist. Das gilt nicht nur für Schlafzimmer oder Büros, sondern auch für virtuelle Räume: In einer Studie fanden Gosling und seine Mitarbeiterin Simine Vazire heraus, dass private Websites sogar noch genauere Rückschlüsse auf ihre Urheber erlauben als deren Wohnungen. Die Psychologen glauben sogar, dass man einen Fremden nach einem kurzen Besuch auf seiner Homepage in manchen Dingen ebenso gut einschätzen kann wie dessen engste Bekannte.

Mittlerweile ist diese Forschung im sogenannten Web 2.0 angekommen. Zusammen mit dem Psychologen und Marktforscher David Evans und dem Programmierer Anthony Carroll hat Gosling eine eigene Internetseite entworfen, ein soziales Netzwerk, ähnlich wie etwa StudiVZ oder MySpace. Die persönlichen Profile auf YouJustGetMe.com werden jedoch nur zu einem einzigen Zweck eingestellt: um sich und andere auf einem kurzen Persönlichkeits-Fragebogen einzuschätzen. Über 6000 Nutzer hat die Forschungs-Plattform schon, einer der Neuzugänge ist der 75-jährige Stanford-Professor Philip Zimbardo, eine Koryphäe der Sozialpsychologie.

Ende März präsentierten die drei Forscher auf einer Konferenz einstweilige Ergebnisse ihrer Online-Feldstudie. Auch über die Profilseiten auf sozialen Netzwerken, so ihr Fazit, stimmen die Selbst- und Fremdbeurteilungen oft erstaunlich gut überein. Bestimmte Angaben scheinen dabei besonders informativ zu sein. So war der erste Eindruck präziser, wenn die Nutzer einen Link zu einem ihrer Meinung nach lustigen Online-Video angegeben hatten, wenn sie auf die Fragen nach ihrer "peinlichsten" und "stolzesten" Tat eine Antwort gegeben hatten und wenn sie anderen etwas über ihre Spiritualität mitteilten. Die in fast allen Profilen genannten Bücher-, Film- und Musikvorlieben scheinen dagegen weniger aussagekräftig zu sein. Eine genauere Kenntnis dieser Prozesse ist nach Ansicht der Forscher nötig, unter anderem, da die Netzwerk-Seiten nicht nur unter kontaktfreudigen jungen Leuten immer beliebter werden, sondern auch bei Arbeitgebern, die sich über Bewerber informieren.

Dass manchmal sogar noch weniger Information ausreicht, um seine Persönlichkeit im Cyberspace zu offenbaren, erforschten in einer aktuellen Studie Psychologen der Universität Leipzig. Sie ließen ihre Teilnehmer insgesamt sechshundert Personen einschätzen, und zwar nur aufgrund deren privater E-Mail-Adresse. Trotz dieser schmalen Datenlage waren sich die Beurteiler größtenteils einig: Die Inhaber von Adressen mit einer .de-Domain wurden beispielsweise als gewissenhafter eingeschätzt als solche mit einer .com-Adresse. Witzige, kreative oder phantasievolle Namen sprachen für einen extravertierten, intellektuell offenen Absender. Niedliche Namensbestandteile wie "maeuschen" machten einen verträglichen Eindruck, angeberisch klingende oder anzügliche Namen wurden narzisstischen Personen zugerechnet.

Diese Schlüsse waren tendenziell auch zutreffend. "Die E-Mail-Adresse ist das kleinste Ausmaß an Information, das wir im Internet preisgeben", sagt Mitja Back, Leiter der Studie. "Man kann dadurch einzelne Personen zwar nicht sehr gründlich einschätzen, aber der entstehende Eindruck ist auch nicht ganz zufällig."

Wie entsteht diese Fähigkeit, von kleinsten Details auf Persönlichkeitseigenschaften zu schließen? Anscheinend ruft jede noch so unbedeutende Information ein dazu passendes Stereotyp ins Bewusstsein. Insbesondere bei Personen, über die man sonst wenig weiß, verlässt man sich dann auf diese schnell verfügbaren Urteile.

Etwa, wenn es um die Ängstlichkeit einer Person geht. Back und Gosling konnten zeigen, dass ihre Beurteiler offenbar zunächst von den verfügbaren Hinweisen auf das Geschlecht der Personen schlossen - eine der leichtesten Schnüffler-Übungen. Deuteten aber eine E-Mail von "die-kleine-karin" oder die Anwesenheit von Kerzen und Kuscheltieren im Schlafzimmer auf eine Frau hin, war es auch vernünftig anzunehmen, dass die Person tendenziell eher ein ängstlicher Typ ist. Denn statistisch schätzen sich Frauen tatsächlich immer wieder als "neurotischer" ein als Männer.

Aus demselben Grund, fand Gosling heraus, lohnt sich für Hobby-Detektive dann doch ein Blick auf die CD-Sammlung oder die Visitenkarte. Denn auch manche Vorurteile über die Freunde verschiedener Musikstile oder über die Eigenheiten bestimmter Regionen träfen tendenziell zu. So seien Jazz-Liebhaber im Allgemeinen tatsächlich etwas entspanntere Menschen, und New Yorker eifern in puncto Neurotizismus eher Woody Allen nach als die relaxten Kalifornier. "Unsere Forschung zeigt, dass Vorurteile trotz ihres schlechten Rufs eine wichtige Rolle dabei spielen, wie wir uns Eindrücke von anderen bilden", sagt Gosling, "auch wenn das ein harter Schlag ist für alle, die hofften, mehr an ihren Taten als an ihrem Äußeren gemessen zu werden."

Literatur: Samuel Gosling, "Snoop. What Your Stuff Says About You". Basic Books, New York 2008.

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