Heidis Mutter kann, nach langem Üben, Dosen öffnen. Und sie kennt genau 23 Wörter. Heidi weiß von ihr nicht viel mehr als ihren Namen. Dennoch ist das Leben mit ihrer geistig behinderten Mutter und der gemeinsamen Freundin Bernadette für sie das Normalste von der Welt. Fragen nach ihrer Herkunft stellt Heidi erst, als sie eines Tages Fotos findet, die ihre Mutter in einem Heim für Behinderte zeigen. Ganz allein macht sie sich auf eine ungewöhnliche Reise in die Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005Dreiundzwanzig Wörter
Eine Geschichte vom Glück: "So B. It" von Sarah Weeks
Die Geschichte, die Sarah Weeks von dem Mädchen Heidi erzählt, ist in hohem Maße unglaubwürdig. Aber was ist schon unmöglich in der Menschenwelt und gar in Nordamerika? Ohnehin gilt der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit für die vermischten Nachrichten der Zeitung, nicht für die Literatur. Für sie genügt es, daß das Erzählte in sich stimmig ist, daß es "aufgeht" wie ein Kreuzworträtsel und doch auch wieder nicht völlig aufgeht - etwas muß widerständig, geheimnisvoll, ungelöst und vielleicht auch unerlöst bleiben. Eine solche Erzählung ist Sarah Weeks mit Heidis Geschichte gelungen.
Sie läßt Heidi selbst von ihrem Leben erzählen, in dem es bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr außer der geistig stark behinderten Mutter und der Nachbarin Bernadette keinen weiteren erwachsenen Menschen gibt. Bernadette kann aufgrund einer schweren Phobie nicht ihre Wohnung verlassen und ist dennoch für Heidi alles: Mutter und Großmutter, Betreuerin und Pflegerin ihrer Mutter, Ernährerin und Lehrerin. Denn zum Glück gibt es eine Verbindungstür zwischen den beiden Wohnungen.
Die drei Menschen dieses ungewöhnlichen Doppel-Haushalts lieben einander. Alles andere leisten Telefon und Lieferdienste. Als sie groß genug ist, geht Heidi einkaufen und in die Bibliothek. Heidi vermißt nichts. Und dennoch vermißt sie alles - sich selbst, ihre Geschichte. Ihre Mutter kann nur dreiundzwanzig Wörter sprechen, sie kann nicht erzählen, wer sie ist, wer Heidis Vater ist, welche Ereignisse vor zwölf Jahren sie - hilflos mit ihrem neugeborenen Kind - vor Bernadettes Tür gebracht haben und warum niemand Mietzahlungen für ihre Wohnung reklamiert. Als Bernadette sie damals nach ihrem Namen fragte, gab sie zu verstehen, die Kleine heiße Heidi und sie "So Be It". Bernadette findet es gemein, eine Tochter "Amen" zu nennen, aber sie macht daraus So B. It, damit hat auch Heidi einen Nachnamen - It.
Je älter Heidi wird, desto dringender wird ihr Wunsch, ihre Geschichte zu erfahren und zu wissen, was das unverständliche Wort "Soof" im begrenzten Wortschatz ihrer Mutter bedeutet. Ein zufällig entdeckter belichteter Film spielt ihr eine Spur in die Hand, an der es ihr schließlich nach großen Schwierigkeiten gelingt, "Soof" zu verstehen und ihre in jeder Hinsicht dunkle Familiengeschichte aufzuklären.
Sarah Weeks legt noch eine andere Spur als roten Faden durch ihre Erzählung: Heidis Auseinandersetzung mit Wahrheit und Lüge. Wenn sie mit dem Jungen Zander aus ihrem Haus auf der Treppe sitzt und seinen tollen Lügengeschichten zuhört, ist sie davon fasziniert und versucht zugleich die Wahrheit herauszufinden. Später auf ihrer langen Suchreise durch Amerika erzählt sie Lügengeschichten über sich und merkt, wie leicht ihr das fällt. Auch versteht sie, daß Menschen lügen, um allzu harten Wahrheiten auszuweichen. Schließlich muß sie, am Ziel angekommen, für die leidenschaftliche und nicht selten rücksichtslose Suche nach ihrer Lebenswahrheit einen hohen Preis zahlen. Sie begreift, daß ihr schwer erkämpftes Wissen ihr Leben verändert, aber nicht die unwandelbare Vergangenheit. Das Rätsel ihrer Herkunft ist gelöst, die Toten bleiben unerlöst.
In Heidis Leben gibt es keinen Menschen, der nicht von Unglück gezeichnet ist, und dennoch erzählt Sarah Weeks eine Geschichte vom Glück. Glück haben die beiden jungen behinderten Menschen erlebt, die Heidis Eltern wurden, als sie einander begegneten und zueinander paßten als glückliches Liebespaar. Ähnlich paßgenau läßt der glückliche Zufall die einsame Bernadette die verwirrte So B. It mit ihrem Säugling finden, ohne den für sie so schrecklichen Schritt vor ihre Wohnungstür machen zu müssen. Und eines Tages entdeckt Bernadette, daß Heidi immer richtig rät, ob beim Memory, am Spielautomaten oder beim Münzwurf.
Dies eigentümlich irrational wirkende Motiv in der sonst der Wahrscheinlichkeit verpflichteten Erzählung ist mehr als das Geschenk eines unsichtbaren deus ex machina. Als solches wäre es reichlich plump. Die Luzidität, mit der Heidi auf Anhieb rät, wie viele Jelly Beans in einem großen Glas stecken, ist das literarische Gegengewicht gegen die Dunkelheit ihrer Vergangenheit - deshalb verliert sie dies Vermögen, als sie erfährt, woher sie kommt. Heidis Glücksbegabung bringt die poetische Gerechtigkeit des Spiels in die Geschichte und verweist damit auf die Literatur selbst - die Glücksspielerin inmitten des Unglücks, dessen Wahrheit sie preisgibt, ohne die Lüge zu verraten.
GUNDEL MATTENKLOTT
Sarah Weeks: "So B. It". Heidis Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Hanser Verlag, München 2005. 224 S., geb., 16,40 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Geschichte vom Glück: "So B. It" von Sarah Weeks
Die Geschichte, die Sarah Weeks von dem Mädchen Heidi erzählt, ist in hohem Maße unglaubwürdig. Aber was ist schon unmöglich in der Menschenwelt und gar in Nordamerika? Ohnehin gilt der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit für die vermischten Nachrichten der Zeitung, nicht für die Literatur. Für sie genügt es, daß das Erzählte in sich stimmig ist, daß es "aufgeht" wie ein Kreuzworträtsel und doch auch wieder nicht völlig aufgeht - etwas muß widerständig, geheimnisvoll, ungelöst und vielleicht auch unerlöst bleiben. Eine solche Erzählung ist Sarah Weeks mit Heidis Geschichte gelungen.
Sie läßt Heidi selbst von ihrem Leben erzählen, in dem es bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr außer der geistig stark behinderten Mutter und der Nachbarin Bernadette keinen weiteren erwachsenen Menschen gibt. Bernadette kann aufgrund einer schweren Phobie nicht ihre Wohnung verlassen und ist dennoch für Heidi alles: Mutter und Großmutter, Betreuerin und Pflegerin ihrer Mutter, Ernährerin und Lehrerin. Denn zum Glück gibt es eine Verbindungstür zwischen den beiden Wohnungen.
Die drei Menschen dieses ungewöhnlichen Doppel-Haushalts lieben einander. Alles andere leisten Telefon und Lieferdienste. Als sie groß genug ist, geht Heidi einkaufen und in die Bibliothek. Heidi vermißt nichts. Und dennoch vermißt sie alles - sich selbst, ihre Geschichte. Ihre Mutter kann nur dreiundzwanzig Wörter sprechen, sie kann nicht erzählen, wer sie ist, wer Heidis Vater ist, welche Ereignisse vor zwölf Jahren sie - hilflos mit ihrem neugeborenen Kind - vor Bernadettes Tür gebracht haben und warum niemand Mietzahlungen für ihre Wohnung reklamiert. Als Bernadette sie damals nach ihrem Namen fragte, gab sie zu verstehen, die Kleine heiße Heidi und sie "So Be It". Bernadette findet es gemein, eine Tochter "Amen" zu nennen, aber sie macht daraus So B. It, damit hat auch Heidi einen Nachnamen - It.
Je älter Heidi wird, desto dringender wird ihr Wunsch, ihre Geschichte zu erfahren und zu wissen, was das unverständliche Wort "Soof" im begrenzten Wortschatz ihrer Mutter bedeutet. Ein zufällig entdeckter belichteter Film spielt ihr eine Spur in die Hand, an der es ihr schließlich nach großen Schwierigkeiten gelingt, "Soof" zu verstehen und ihre in jeder Hinsicht dunkle Familiengeschichte aufzuklären.
Sarah Weeks legt noch eine andere Spur als roten Faden durch ihre Erzählung: Heidis Auseinandersetzung mit Wahrheit und Lüge. Wenn sie mit dem Jungen Zander aus ihrem Haus auf der Treppe sitzt und seinen tollen Lügengeschichten zuhört, ist sie davon fasziniert und versucht zugleich die Wahrheit herauszufinden. Später auf ihrer langen Suchreise durch Amerika erzählt sie Lügengeschichten über sich und merkt, wie leicht ihr das fällt. Auch versteht sie, daß Menschen lügen, um allzu harten Wahrheiten auszuweichen. Schließlich muß sie, am Ziel angekommen, für die leidenschaftliche und nicht selten rücksichtslose Suche nach ihrer Lebenswahrheit einen hohen Preis zahlen. Sie begreift, daß ihr schwer erkämpftes Wissen ihr Leben verändert, aber nicht die unwandelbare Vergangenheit. Das Rätsel ihrer Herkunft ist gelöst, die Toten bleiben unerlöst.
In Heidis Leben gibt es keinen Menschen, der nicht von Unglück gezeichnet ist, und dennoch erzählt Sarah Weeks eine Geschichte vom Glück. Glück haben die beiden jungen behinderten Menschen erlebt, die Heidis Eltern wurden, als sie einander begegneten und zueinander paßten als glückliches Liebespaar. Ähnlich paßgenau läßt der glückliche Zufall die einsame Bernadette die verwirrte So B. It mit ihrem Säugling finden, ohne den für sie so schrecklichen Schritt vor ihre Wohnungstür machen zu müssen. Und eines Tages entdeckt Bernadette, daß Heidi immer richtig rät, ob beim Memory, am Spielautomaten oder beim Münzwurf.
Dies eigentümlich irrational wirkende Motiv in der sonst der Wahrscheinlichkeit verpflichteten Erzählung ist mehr als das Geschenk eines unsichtbaren deus ex machina. Als solches wäre es reichlich plump. Die Luzidität, mit der Heidi auf Anhieb rät, wie viele Jelly Beans in einem großen Glas stecken, ist das literarische Gegengewicht gegen die Dunkelheit ihrer Vergangenheit - deshalb verliert sie dies Vermögen, als sie erfährt, woher sie kommt. Heidis Glücksbegabung bringt die poetische Gerechtigkeit des Spiels in die Geschichte und verweist damit auf die Literatur selbst - die Glücksspielerin inmitten des Unglücks, dessen Wahrheit sie preisgibt, ohne die Lüge zu verraten.
GUNDEL MATTENKLOTT
Sarah Weeks: "So B. It". Heidis Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Hanser Verlag, München 2005. 224 S., geb., 16,40 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Angelika Ohland macht eine parallele Entwicklung im Journalismus wie auch im Bereich des Jugendbuchs aus: Die Zeiten der Sozialdramen, in denen Gut und Böse von vornherein feststehen, sind vorbei. Anhand von Sarah Weeks Geschichte über ein Mädchen, seine behinderte Mutter und die Suche nach ihrer Herkunft untermauert Ohland diese Feststellung. Das Leben des Mädchens mit ihrer geistig schwerstbehinderten Mutter, ohne Schulbesuch und ohne Freunde ist ein etwas unwahrscheinliches Idyll, meint die Rezensentin, doch werde es ohnehin (und zur Erleichterung des Lesers) dadurch zerrissen, dass sich die junge Protagonistin auf die Suche nach ihrer Vergangenheit macht. Am Ende dieser "spannend erzählten" Geschichte, die letztlich eine Mischung aus Roadmovie und Krimi sei, stehe die Erkenntnis, dass für die neu errungene Freiheit auch ein Preis zu zahlen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"In Heidis Leben gibt es keinen Menschen, der nicht vom Unglück gezeichnet ist, und dennoch erzählt Sarah Weeks eine Geschichte vom Glück." Gundel Mattenklott, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2005 "Der Songwriterin und Kinderbuchautorin Weeks sind umwerfende Szenen gelungen; komische, melancholische, zu Herzen gehende. Ihre Figuren leben ein Leben jenseits normierter Vorstellungen, und sie machen das Beste daraus. Eine märchenhafte Road-Novel für Kinder." Annafried Wehner, Die Welt, 15.10.05 "Sarah Weeks (...) hat sich einen schwierigen Stoff vorgenommen - und ihn wunderbar einfühlsam, unsentimental und spannend aufbereitet. Leichthändig und mit leisem Humor erzählt sie ihre Geschichte." Gabi Seitz, Nürnberger Zeitung, 09.09.05