Liebe, Leidenschaft und ein rätselhafter Todesfall - der große spanische Erzähler und Bestseller-Autor JAVIER MARÍAS in Höchstform Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der unglücklichen Ehe von Eduardo und Beatriz? Auch Juan, Freund und engster Vertrauter, kennt die Wahrheit nicht. Als er Beatriz' Geliebter wird, überstürzen sich erschütternde Ereignisse. Jahre später erkennt Juan: Wenn wir uns der Vergangenheit nicht stellen, wird alles Leben aus der Lüge kommen. Javier Marías ist ein erbarmungsloser Kenner der menschlichen Herzen, ihrer dunklen Seiten und verborgenen Winkel. Ein überwältigendes Meisterwerk.
Javier Marías ist ein Meister des Umkreisens. Er holt weit aus und seine Sätze umfassen nicht selten ein Drittel einer Seite. Doch wer sich darauf einlässt, von diesem Sprachfluss mitgetragen, mitgerissen zu werden, der wird in „So fängt das Schlimme an“ mit einem atemberaubenden, sprachgewaltigen Roman belohnt, in dem der Autor uns mit einem doppelten Spannungsbogen und zwei Geheimnissen fesselt, auf deren Enthüllung wir zutreiben. In einem Interview sagte Marías zu „So fängt das Schlimme an“ (ein Zitat aus „Hamlet“), dass sein Roman von der Möglichkeit handle, „das Schlimme zu akzeptieren, um das Schlimmste hinter sich zu lassen“. Er spielt um 1980 in Madrid, doch das Trauma der Franco-Diktatur steckt den Menschen noch immer in den Knochen und Herzen.
„Niemand erinnert sich gern daran, dass er besiegt worden oder ein Opfer gewesen ist, dass man Ungerechtigkeit oder Grausamkeit an ihm und den Seinen geübt hat, dass er sich hat ergeben und dem anderen Lager gefällig zeigen müssen, um zu überleben, dass er Gefährten verraten hat, um sich lieb Kind bei den erbarmungslosen neuen Machthabern zu machen, bei den unermüdlichen Verfolgern der Geschlagenen, oder dass er sich zu Lebzeiten tot gestellt hat, um so wenig wie möglich aufzufallen, dass er eine feige, unterwürfige Existenz gefristet, sich den schwachsinnigen Forderungen des siegreichen Regimes gebeugt hat […]“
Ein böses Gerücht und ein Auftrag für den jungen Juan de Vere
Die Amnesie soll all den Verrat und all die Bespitzelung, die Grausamkeit und all die Toten, die bei „Spazierfahrten“ erschossen wurden, zudecken. Einen Neuanfang ermöglichen. Zu der Zeit, als der Roman einsetzt, „begann man sich allmählich im privaten Kreis weit zurückliegende Geschichten zu erzählen, die viele Spanier jahrzehntelang in der Öffentlichkeit verschweigen mussten“. So dringt auch eine böse Geschichte zu einer unserer Hauptfiguren vor, dem Regisseur Eduardo Muriel. Er geht auf die Fünfzig zu und das erste, was an dem gutaussehenden Mann auffällt, ist seine Augenklappe. Schwarz bedeckt sie die Höhle des rechten Auges, das gesunde linke Auge trägt die Farbe eines tiefen, dunklen Blaus, ein „Meeresauge“. Er lebt mit seiner Frau Beatriz und den Kindern in wohlhabenden Verhältnissen. Seit einiger Zeit begleitet ihn der 23-jährige Juan de Vere als eine Art Privatsekretär. Eduardo und Beatriz zählen zur guten Gesellschaft und sind beliebte Gastgeber voller Esprit. Mit zum engeren Freundeskreis gehört auch der Kinderarzt Jorge van Vechten.
Doktor van Vechten soll sich einer Frau gegenüber „schamlos verhalten haben“ …
Auf diesen Arzt nun setzt Eduardo seinen jungen Sekretär an. Juan soll van Vechten mit auf abendliche Streifzüge nehmen. Denn der Ruf van Vechtens ist der eines Raubtiers, was die Eroberung von Frauen angeht. Und Eduardo Muriel ist ein äußerst unschönes Gerücht zu Ohren gekommen, natürlich ein Gerücht aus dem Krieg, denn „immer noch hat fast alles mit dem Krieg zu tun, Juan, so oder so“, sagt Eduardo Muriel. Jorge van Vechten soll sich einer Frau gegenüber „schamlos verhalten haben“, womöglich nicht nur einer. Für Muriel etwas, das er verabscheut: „Tiefer kann man nicht fallen.“ Eduardo will, dass Juan besagtem van Vechten im Überschwang der nächtlichen Eroberungen, des Alkohols entlockt, ob dieses Gerücht wahr ist.
Juan de Vere willigt ein, rätselt aber darüber, warum Eduardo dieses angeblich schamlose Verhalten einer Frau gegenüber so zusetzt. Denn in der Ehe von Eduardo und Beatriz – sie wirkt nach außen hin normal – verhält Eduardo sich ungemein verletzend seiner Frau gegenüber. Er weist Beatriz ab, wedelt sie weg, als wäre sie eine lästige Fliege – und wenn sie nachts flehend vor seinem Schlafzimmer steht und um Einlass bittet, verhöhnt er sie. Wie kann ein Mann, der sonst so sensibel und wohlerzogen ist, dem diese Grobheiten ganz und gar gegen seine Natur gehen, seine eigene Frau so behandeln? Das fragt sich Juan de Vere … Natürlich gibt es für diese vorsätzlich erniedrigende Behandlung einen Grund.
Das private Geheimnis – eine „alte, dumme Geschichte“ oder der Beginn des Schlimmen?
Beatriz selbst tut die Sache als „alte dumme Geschichte“ ab. Doch wer gegen Ende des Buches erfährt, was sie getan hat, der könnte die Sache gänzlich anders beurteilen. Es ist eine verwerfliche Tat, immer noch, die sie ihm nach Jahren der Ehe gestanden hatte. Und Eduardo, der damals in einer unauflöslichen Ehe gefangen war – die Möglichkeit einer Scheidung existierte zu der Zeit in Spanien noch nicht –, kann Beatriz nicht verzeihen: „Wie kannst du es wagen, sie so zu nennen, noch heute, nach all dem, was sie uns gebracht hat und immer noch bringt. Ein Jux, nicht wahr? Eine kleine Flunkerei?, und in der Liebe gilt eben alles; wie witzig, wie schlau.“
„Wenn du mir nur nichts erzählt hättest.“ …
„Wenn du mir nur nichts erzählt hättest“, fügt Eduardo hinzu. Ist es besser, etwas Schlimmes zu verschweigen, um noch Schlimmeres zu verhindern? Wie umgehen mit privatem Verrat? Und wie damit umgehen, dass ein Schlächter des Franco-Regimes, ein Mörder, straffrei ausgeht, der vielleicht einen geliebten Menschen getötet hat? Wie umgehen mit all den Verleumdungen und Gerüchten über die Vergangenheit, wie entscheiden, was wahr ist und was gezielt als Verleumdung in die Welt gesetzt wurde? Und gibt es das überhaupt, die Wahrheit? Die Gerechtigkeit? Um diese Fragen und die großen Fragen des Lebens, kreist der Roman. Lohnt es, den Arzt van Vechten auf seine wirklich scheußlichen Taten nun, lange später, anzusprechen, offenzulegen, dass man weiß, was damals geschehen ist?
„Die Gerechtigkeit gibt es nicht. Oder nur als Ausnahme.“
Ja, Juan findet heraus, was sich der Arzt in der Franco-Zeit geleistet hat. Nachdem van Vechten eine junge Bekannte von Juan rumgekriegt hat, ist Juan verblüfft über den erotischen Erfolg und bettelt den Arzt an, ihm das Geheimnis seines Erfolges zu verraten. Van Vechten deutet zart an, dass für ihn nichts befriedigender sei, „als wenn sie nicht wollen, aber nicht nein sagen können“. Diese Aussage lässt Juan nicht los und er wird van Vechtens Geheimnis ganz lüften. Und das, obwohl Eduardo Muriel ihn längst zurückgepfiffen und kein Interesse mehr an einer Aufklärung der Sache hat. Er will nicht einmal hören, was Juan herausgefunden hat. Eduardos Antwort auf Juans Frage „und die Gerechtigkeit, Eduardo? Was ist mit dem, was geschehen ist, was stattgefunden hat?“ lautet:
„Die Gerechtigkeit gibt es nicht. Oder nur als Ausnahme: eine Handvoll Strafen, um den Schein zu wahren, nur bei einzelnen Verbrechen, mehr nicht. Pech für den, den es trifft.[…] Was glaubst du, wie viele Menschen in Deutschland Verbrechen begangen haben oder Komplizen waren, und wie viele wurden bestraft? Ich meine nicht in einem Prozess mit Urteil, das schon gar nicht, sondern etwas Realistischeres, Leichteres: Wie viele wurden gesellschaftlich oder privat bestraft? Wie viele wurden ausgegrenzt oder verstoßen, wie vielen ging man aus dem Weg, wie ich es deiner Meinung nach mit dem Doktor tun soll wegen dem, was du über ihn herausgefunden hast? Ein verschwindend geringer Teil. Bedeutungslos.“
Erzähler Juan de Vere wandelt sich im Lauf der Geschichte vom Zuschauer und Beobachter zum Mitspieler und trägt am Ende selbst einige dunkle Geheimnisse in sich. Auch seine Ehe mit einer Tochter von Eduardo und Beatriz könnte er mit einem Geständnis außer Lot bringen. So wie damals Beatriz es getan hat. Schweigen oder reden – womit fängt das Schlimme an?
„Die Gerechtigkeit gibt es nicht.“
Javier Marías ist ein Meister des Umkreisens. Er holt weit aus und seine Sätze umfassen nicht selten ein Drittel einer Seite. Doch wer sich darauf einlässt, von diesem Sprachfluss mitgetragen, mitgerissen zu werden, der wird in „So fängt das Schlimme an“ mit einem atemberaubenden, sprachgewaltigen Roman belohnt, in dem der Autor uns mit einem doppelten Spannungsbogen und zwei Geheimnissen fesselt, auf deren Enthüllung wir zutreiben. In einem Interview sagte Marías zu „So fängt das Schlimme an“ (ein Zitat aus „Hamlet“), dass sein Roman von der Möglichkeit handle, „das Schlimme zu akzeptieren, um das Schlimmste hinter sich zu lassen“. Er spielt um 1980 in Madrid, doch das Trauma der Franco-Diktatur steckt den Menschen noch immer in den Knochen und Herzen.
„Niemand erinnert sich gern daran, dass er besiegt worden oder ein Opfer gewesen ist, dass man Ungerechtigkeit oder Grausamkeit an ihm und den Seinen geübt hat, dass er sich hat ergeben und dem anderen Lager gefällig zeigen müssen, um zu überleben, dass er Gefährten verraten hat, um sich lieb Kind bei den erbarmungslosen neuen Machthabern zu machen, bei den unermüdlichen Verfolgern der Geschlagenen, oder dass er sich zu Lebzeiten tot gestellt hat, um so wenig wie möglich aufzufallen, dass er eine feige, unterwürfige Existenz gefristet, sich den schwachsinnigen Forderungen des siegreichen Regimes gebeugt hat […]“
Ein böses Gerücht und ein Auftrag für den jungen Juan de Vere
Die Amnesie soll all den Verrat und all die Bespitzelung, die Grausamkeit und all die Toten, die bei „Spazierfahrten“ erschossen wurden, zudecken. Einen Neuanfang ermöglichen. Zu der Zeit, als der Roman einsetzt, „begann man sich allmählich im privaten Kreis weit zurückliegende Geschichten zu erzählen, die viele Spanier jahrzehntelang in der Öffentlichkeit verschweigen mussten“. So dringt auch eine böse Geschichte zu einer unserer Hauptfiguren vor, dem Regisseur Eduardo Muriel. Er geht auf die Fünfzig zu und das erste, was an dem gutaussehenden Mann auffällt, ist seine Augenklappe. Schwarz bedeckt sie die Höhle des rechten Auges, das gesunde linke Auge trägt die Farbe eines tiefen, dunklen Blaus, ein „Meeresauge“. Er lebt mit seiner Frau Beatriz und den Kindern in wohlhabenden Verhältnissen. Seit einiger Zeit begleitet ihn der 23-jährige Juan de Vere als eine Art Privatsekretär. Eduardo und Beatriz zählen zur guten Gesellschaft und sind beliebte Gastgeber voller Esprit. Mit zum engeren Freundeskreis gehört auch der Kinderarzt Jorge van Vechten.
Doktor van Vechten soll sich einer Frau gegenüber „schamlos verhalten haben“ …
Auf diesen Arzt nun setzt Eduardo seinen jungen Sekretär an. Juan soll van Vechten mit auf abendliche Streifzüge nehmen. Denn der Ruf van Vechtens ist der eines Raubtiers, was die Eroberung von Frauen angeht. Und Eduardo Muriel ist ein äußerst unschönes Gerücht zu Ohren gekommen, natürlich ein Gerücht aus dem Krieg, denn „immer noch hat fast alles mit dem Krieg zu tun, Juan, so oder so“, sagt Eduardo Muriel. Jorge van Vechten soll sich einer Frau gegenüber „schamlos verhalten haben“, womöglich nicht nur einer. Für Muriel etwas, das er verabscheut: „Tiefer kann man nicht fallen.“ Eduardo will, dass Juan besagtem van Vechten im Überschwang der nächtlichen Eroberungen, des Alkohols entlockt, ob dieses Gerücht wahr ist.
Juan de Vere willigt ein, rätselt aber darüber, warum Eduardo dieses angeblich schamlose Verhalten einer Frau gegenüber so zusetzt. Denn in der Ehe von Eduardo und Beatriz – sie wirkt nach außen hin normal – verhält Eduardo sich ungemein verletzend seiner Frau gegenüber. Er weist Beatriz ab, wedelt sie weg, als wäre sie eine lästige Fliege – und wenn sie nachts flehend vor seinem Schlafzimmer steht und um Einlass bittet, verhöhnt er sie. Wie kann ein Mann, der sonst so sensibel und wohlerzogen ist, dem diese Grobheiten ganz und gar gegen seine Natur gehen, seine eigene Frau so behandeln? Das fragt sich Juan de Vere … Natürlich gibt es für diese vorsätzlich erniedrigende Behandlung einen Grund.
Das private Geheimnis – eine „alte, dumme Geschichte“ oder der Beginn des Schlimmen?
Beatriz selbst tut die Sache als „alte dumme Geschichte“ ab. Doch wer gegen Ende des Buches erfährt, was sie getan hat, der könnte die Sache gänzlich anders beurteilen. Es ist eine verwerfliche Tat, immer noch, die sie ihm nach Jahren der Ehe gestanden hatte. Und Eduardo, der damals in einer unauflöslichen Ehe gefangen war – die Möglichkeit einer Scheidung existierte zu der Zeit in Spanien noch nicht –, kann Beatriz nicht verzeihen: „Wie kannst du es wagen, sie so zu nennen, noch heute, nach all dem, was sie uns gebracht hat und immer noch bringt. Ein Jux, nicht wahr? Eine kleine Flunkerei?, und in der Liebe gilt eben alles; wie witzig, wie schlau.“
„Wenn du mir nur nichts erzählt hättest.“ …
„Wenn du mir nur nichts erzählt hättest“, fügt Eduardo hinzu. Ist es besser, etwas Schlimmes zu verschweigen, um noch Schlimmeres zu verhindern? Wie umgehen mit privatem Verrat? Und wie damit umgehen, dass ein Schlächter des Franco-Regimes, ein Mörder, straffrei ausgeht, der vielleicht einen geliebten Menschen getötet hat? Wie umgehen mit all den Verleumdungen und Gerüchten über die Vergangenheit, wie entscheiden, was wahr ist und was gezielt als Verleumdung in die Welt gesetzt wurde? Und gibt es das überhaupt, die Wahrheit? Die Gerechtigkeit? Um diese Fragen und die großen Fragen des Lebens, kreist der Roman. Lohnt es, den Arzt van Vechten auf seine wirklich scheußlichen Taten nun, lange später, anzusprechen, offenzulegen, dass man weiß, was damals geschehen ist?
„Die Gerechtigkeit gibt es nicht. Oder nur als Ausnahme.“
Ja, Juan findet heraus, was sich der Arzt in der Franco-Zeit geleistet hat. Nachdem van Vechten eine junge Bekannte von Juan rumgekriegt hat, ist Juan verblüfft über den erotischen Erfolg und bettelt den Arzt an, ihm das Geheimnis seines Erfolges zu verraten. Van Vechten deutet zart an, dass für ihn nichts befriedigender sei, „als wenn sie nicht wollen, aber nicht nein sagen können“. Diese Aussage lässt Juan nicht los und er wird van Vechtens Geheimnis ganz lüften. Und das, obwohl Eduardo Muriel ihn längst zurückgepfiffen und kein Interesse mehr an einer Aufklärung der Sache hat. Er will nicht einmal hören, was Juan herausgefunden hat. Eduardos Antwort auf Juans Frage „und die Gerechtigkeit, Eduardo? Was ist mit dem, was geschehen ist, was stattgefunden hat?“ lautet:
„Die Gerechtigkeit gibt es nicht. Oder nur als Ausnahme: eine Handvoll Strafen, um den Schein zu wahren, nur bei einzelnen Verbrechen, mehr nicht. Pech für den, den es trifft.[…] Was glaubst du, wie viele Menschen in Deutschland Verbrechen begangen haben oder Komplizen waren, und wie viele wurden bestraft? Ich meine nicht in einem Prozess mit Urteil, das schon gar nicht, sondern etwas Realistischeres, Leichteres: Wie viele wurden gesellschaftlich oder privat bestraft? Wie viele wurden ausgegrenzt oder verstoßen, wie vielen ging man aus dem Weg, wie ich es deiner Meinung nach mit dem Doktor tun soll wegen dem, was du über ihn herausgefunden hast? Ein verschwindend geringer Teil. Bedeutungslos.“
Erzähler Juan de Vere wandelt sich im Lauf der Geschichte vom Zuschauer und Beobachter zum Mitspieler und trägt am Ende selbst einige dunkle Geheimnisse in sich. Auch seine Ehe mit einer Tochter von Eduardo und Beatriz könnte er mit einem Geständnis außer Lot bringen. So wie damals Beatriz es getan hat. Schweigen oder reden – womit fängt das Schlimme an?
buecher-magazin.deEin junger Mann findet Anfang der 1980er-Jahre in Madrid einen Job als Privatsekretär bei dem Filmregisseur Eduardo Muriel. Er bezieht ein Zimmer in dessen Wohnung und verwickelt sich zunehmend in die privaten Dramen und Machtspiele seines Arbeitgebers. Der Fokus des Erzählers richtet sich auf die sinnlich schöne Ehefrau des Filmregisseurs, Beatriz Noguera, die wegen einer alten Lüge mit Verachtung und Liebesentzug von ihrem Ehemann bestraft wird. Der junge Untermieter spioniert dieser ebenso faszinierenden wie unglücklichen Frau nach, beobachtet sie bei heimlichen Treffen mit zwielichtigen Männern, es entsteht eine subtile Atmosphäre des Begehrens, voyeuristischen Beobachtens und Verführens. Der Autor versteht es, durch Verzögerungen und gedankliche Exkurse die Spannung scheinbar endlos zu steigern. Die Pointe irritiert am Ende, dreht sich im Kern aber um die Frage, was ein Mensch verzeihen kann und wie willkürlich oft eine kleine Schandtat unentschuldbar bleibt, während andere große Verbrechen unter den Teppich gekehrt werden. Das Ehedrama zwischen Eduardo Muriel und Beatriz Noguera wird zur exemplarischen Privatversion der kollektiven Verdrängung und des verlogenen Umgangs mit der faschistischen Vergangenheit in Spanien nach der Franco-Diktatur.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jan Wiele muss schon manchmal schmunzeln angesichts der Ohrensesselhaftigkeit des alten Meisters Javier Marias. Wenn der bildungssatt und glamourös von den Verfehlungen der Liebe und der Franco-Diktatur erzählt, den Leser gekonnt auf die Folter spannt, tödliche Zuspitzungen schnitzt, philosophische Exkurse anlegt und jede Menge historisches Personal auftreten lässt, fühlt er sich dennoch bestens unterhalten. Nach alter Marias-Manier zaubert der Meister wieder eine unerhörte Begebenheit, deren formvollendete Entfaltung Wiele fesselt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Nur der Mond war Zeuge
Von Ehen und anderen Diktaturen: Javier Marías erzählt seinen großen neuen Roman formvollendet aus dem Ohrensessel.
Von Jan Wiele
Tief in der Nacht wird alles wahrscheinlich, erhält andere Dimensionen": Dieser Satz kann als paradigmatisch für den spanischen Erzähler Javier Marías gelten. Er birgt sowohl das romantische Potential der Nacht, in der erotisch alles möglich ist (auch in diesem Roman geht wieder einiges!), als auch die Möglichkeit für dramatische, ja tödliche Zuspitzungen. Beides hat Marías in seinem Werk seit den frühen Erzählungen "Während die Frauen schlafen", einem der schönsten roten Wagenbach-Bändchen, und dem sehr erfolgreichen Roman "Mein Herz so weiß" vielfach ausgespielt. Hier nun in "So fängt das Schlimme an" verwirklicht es sich, wenn der Erzähler Juan de Vere nachts heimlich die leichtbekleidete Beatrice Noguera beobachtet und später auch verführt - sowie bei deren versuchtem Selbstmord in einem Madrider Hotel, der gerade noch verhindert wird.
Wir schreiben das Jahr 1980. Spanien ist im Umbruch, die Menschen erholen sich von vier Jahrzehnten Franco-Diktatur und entdecken neue Freiheiten. Auch dabei wird der Mottosatz wirksam: "Jeder, einerlei welchen Alters, machte damals die Nacht zum Tag", heißt es einmal, als der damals dreiundzwanzigjährige Juan mit dem fast dreimal so alten, derben Lebemann Doktor van Vechten durch die Szeneclubs der Hauptstadt zieht. Das ganze Setting des Romans ist einigermaßen glamourös, denn Juan arbeitet für den erfolgreichen Regisseur Muriel Noguera, bei dem Kulturprominente aus aller Welt, aber auch Politiker ein- und ausgehen. So taucht zum Beispiel eine Nichte des Dichters García Lorca auf oder hat der amerikanische Schauspieler Jack Palance einen Gastauftritt auf einer Party. Noch mehrmals kreuzt Marías seine Fiktion spielfreudig mit historischen Begebenheiten und Persönlichkeiten - darunter jene des real existierenden spanischen Literaturwissenschaftlers Francisco Rico (F.A.Z. vom 21. Oktober 2014). Er erhält als "Professor Rico" diesmal sogar ziemlich viel Raum für seine bildungssatten Einlassungen und antiquierten Redensarten, die Susanne Lange so geschickt ins Deutsche überträgt, dass einem die ironische Zeichnung dieser Figur nicht entgehen kann.
Die Exkurse in die Filmgeschichte wie auch die weidlich ausgekosteten Namensspielereien ufern gelegentlich etwas aus, aber man kann es Marías trotzdem kaum übelnehmen - er war schon immer ein Meister eines enzyklopädischen Stils und der eingeschobenen Bemerkungen. Oft dienen diese Einschübe auch nur der Spannungssteigerung, denn trotz amüsantem Beiwerk hat der Roman einen ernsten Kern und zeichnet sich wieder durch das aus, was dieser Schriftsteller am besten beherrscht: Er stellt eine dramatische, unerhörte Begebenheit in den Mittelpunkt, die nur sehr langsam, aber detektivisch genau aufgeklärt wird.
So weiß der Leser von Anfang an, dass Beatrice allnächtlich vor der Schlafzimmertür ihres Ehemannes Muriel um Einlass fleht, dieser jedoch der Bitte nicht stattgibt und die Frau noch dazu mit Beleidigungen überzieht. Warum er das tut, versteht man erst Hunderte Seiten später nach ihrem Suizidversuch. Parallel zur Klärung des Ehedramas stöbert Juan in der Vergangenheit des dubiosen Doktors van Vechten, der bei seiner sexuellen Trophäenjagd wirklich keine Gelegenheit auslässt und sich in den Franco-Jahren dabei auch niederträchtiger erpresserischer Mittel bedient haben soll. Auch die Details dieser Geschichte kommen aber nur sehr allmählich ans Licht, der Leser wird nach allen Regeln der Kunst auf die Folter gespannt. Und natürlich wäre es kein Marías-Roman, wäre nicht auch der zunächst naiv scheinende Erzähler am Ende heftigst in die erotischen und dramatischen Verwicklungen verstrickt.
Im Zentrum des Romans steht eine Engführung von menschlichen Verfehlungen in Liebesdingen und solchen im franquistischen Spanien: So ist immer wieder von der Amnestie die Rede, mit der man nach den schlimmen Auswirkungen des Bürgerkriegs einen Neuanfang versuchen wollte, und sie wird mit jener Amnestie verglichen, die verletzte Liebende einander gewähren. Das ist ein heikler Vergleich. Das Für und Wider von solch gnädiger Verdrängung in beiden Sphären erörtert Marías philosophisch und überaus poetisch in zahlreichen erzählerischen Exkursen, die sich ganz vom Stoff und von der Figur des Erzählers Juan lösen. Dieser immerhin hat aber selbst schon ein hohes Reflexionsniveau, erzählt er doch seine Geschichte des Jahres 1980 bereits mit mehr als dreißigjährigem Abstand von heute aus.
Trotz der vielen Zeitsprünge in einer Geschichte, die insgesamt ein ganzes Jahrhundert umspannt, herrscht im Roman allerdings kein postmodernes Durcheinander, sondern Erzählung und Meta-Erzählung sind stets fein säuberlich in Kapitel getrennt. Dieses Formvollendete passt zu Marías' insgesamt etwas altertümlich wirkendem Stil, der gelegentlich Züge zur raunenden, opahaften Sentenz hat: "Nichts war von Dauer in jenen wilden Tagen." Aber bis auf solche Schmunzelstellen kann man seinem Ton durchaus verfallen; es ist eben auch schön, einem Erzähler alter Schule zuzuhören, der weltliterarisch beschlagen ist und den man sich als whiskyschwenkenden Gentleman im Ohrensessel vorstellt.
Romantisch eingebettet wird die ganze komplizierte Geschichte schließlich noch durch ein wiederkehrendes literarisches Motiv, nämlich den Bezug auf den Mond als stillen Zeugen der Ereignisse. Immer wieder ruft der Erzähler ihn als den "greisen Turmwächter" an, der doch eigentlich schon alles gesehen haben müsse und daher durch nichts mehr aus der Bahn geworfen werden könne. Dieses Motiv bestimmt auch die Exkurse über das Wesen des Erzählens und der Literatur, von der man ja auch schon länger sagt, sie könne nichts Originelles mehr schaffen. Aber Marías gelingt es eben dann doch, die alte Geschichte so zu erzählen, dass sie immer neu wirkt.
Javier Marías: "So fängt das Schlimme an". Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 640 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Ehen und anderen Diktaturen: Javier Marías erzählt seinen großen neuen Roman formvollendet aus dem Ohrensessel.
Von Jan Wiele
Tief in der Nacht wird alles wahrscheinlich, erhält andere Dimensionen": Dieser Satz kann als paradigmatisch für den spanischen Erzähler Javier Marías gelten. Er birgt sowohl das romantische Potential der Nacht, in der erotisch alles möglich ist (auch in diesem Roman geht wieder einiges!), als auch die Möglichkeit für dramatische, ja tödliche Zuspitzungen. Beides hat Marías in seinem Werk seit den frühen Erzählungen "Während die Frauen schlafen", einem der schönsten roten Wagenbach-Bändchen, und dem sehr erfolgreichen Roman "Mein Herz so weiß" vielfach ausgespielt. Hier nun in "So fängt das Schlimme an" verwirklicht es sich, wenn der Erzähler Juan de Vere nachts heimlich die leichtbekleidete Beatrice Noguera beobachtet und später auch verführt - sowie bei deren versuchtem Selbstmord in einem Madrider Hotel, der gerade noch verhindert wird.
Wir schreiben das Jahr 1980. Spanien ist im Umbruch, die Menschen erholen sich von vier Jahrzehnten Franco-Diktatur und entdecken neue Freiheiten. Auch dabei wird der Mottosatz wirksam: "Jeder, einerlei welchen Alters, machte damals die Nacht zum Tag", heißt es einmal, als der damals dreiundzwanzigjährige Juan mit dem fast dreimal so alten, derben Lebemann Doktor van Vechten durch die Szeneclubs der Hauptstadt zieht. Das ganze Setting des Romans ist einigermaßen glamourös, denn Juan arbeitet für den erfolgreichen Regisseur Muriel Noguera, bei dem Kulturprominente aus aller Welt, aber auch Politiker ein- und ausgehen. So taucht zum Beispiel eine Nichte des Dichters García Lorca auf oder hat der amerikanische Schauspieler Jack Palance einen Gastauftritt auf einer Party. Noch mehrmals kreuzt Marías seine Fiktion spielfreudig mit historischen Begebenheiten und Persönlichkeiten - darunter jene des real existierenden spanischen Literaturwissenschaftlers Francisco Rico (F.A.Z. vom 21. Oktober 2014). Er erhält als "Professor Rico" diesmal sogar ziemlich viel Raum für seine bildungssatten Einlassungen und antiquierten Redensarten, die Susanne Lange so geschickt ins Deutsche überträgt, dass einem die ironische Zeichnung dieser Figur nicht entgehen kann.
Die Exkurse in die Filmgeschichte wie auch die weidlich ausgekosteten Namensspielereien ufern gelegentlich etwas aus, aber man kann es Marías trotzdem kaum übelnehmen - er war schon immer ein Meister eines enzyklopädischen Stils und der eingeschobenen Bemerkungen. Oft dienen diese Einschübe auch nur der Spannungssteigerung, denn trotz amüsantem Beiwerk hat der Roman einen ernsten Kern und zeichnet sich wieder durch das aus, was dieser Schriftsteller am besten beherrscht: Er stellt eine dramatische, unerhörte Begebenheit in den Mittelpunkt, die nur sehr langsam, aber detektivisch genau aufgeklärt wird.
So weiß der Leser von Anfang an, dass Beatrice allnächtlich vor der Schlafzimmertür ihres Ehemannes Muriel um Einlass fleht, dieser jedoch der Bitte nicht stattgibt und die Frau noch dazu mit Beleidigungen überzieht. Warum er das tut, versteht man erst Hunderte Seiten später nach ihrem Suizidversuch. Parallel zur Klärung des Ehedramas stöbert Juan in der Vergangenheit des dubiosen Doktors van Vechten, der bei seiner sexuellen Trophäenjagd wirklich keine Gelegenheit auslässt und sich in den Franco-Jahren dabei auch niederträchtiger erpresserischer Mittel bedient haben soll. Auch die Details dieser Geschichte kommen aber nur sehr allmählich ans Licht, der Leser wird nach allen Regeln der Kunst auf die Folter gespannt. Und natürlich wäre es kein Marías-Roman, wäre nicht auch der zunächst naiv scheinende Erzähler am Ende heftigst in die erotischen und dramatischen Verwicklungen verstrickt.
Im Zentrum des Romans steht eine Engführung von menschlichen Verfehlungen in Liebesdingen und solchen im franquistischen Spanien: So ist immer wieder von der Amnestie die Rede, mit der man nach den schlimmen Auswirkungen des Bürgerkriegs einen Neuanfang versuchen wollte, und sie wird mit jener Amnestie verglichen, die verletzte Liebende einander gewähren. Das ist ein heikler Vergleich. Das Für und Wider von solch gnädiger Verdrängung in beiden Sphären erörtert Marías philosophisch und überaus poetisch in zahlreichen erzählerischen Exkursen, die sich ganz vom Stoff und von der Figur des Erzählers Juan lösen. Dieser immerhin hat aber selbst schon ein hohes Reflexionsniveau, erzählt er doch seine Geschichte des Jahres 1980 bereits mit mehr als dreißigjährigem Abstand von heute aus.
Trotz der vielen Zeitsprünge in einer Geschichte, die insgesamt ein ganzes Jahrhundert umspannt, herrscht im Roman allerdings kein postmodernes Durcheinander, sondern Erzählung und Meta-Erzählung sind stets fein säuberlich in Kapitel getrennt. Dieses Formvollendete passt zu Marías' insgesamt etwas altertümlich wirkendem Stil, der gelegentlich Züge zur raunenden, opahaften Sentenz hat: "Nichts war von Dauer in jenen wilden Tagen." Aber bis auf solche Schmunzelstellen kann man seinem Ton durchaus verfallen; es ist eben auch schön, einem Erzähler alter Schule zuzuhören, der weltliterarisch beschlagen ist und den man sich als whiskyschwenkenden Gentleman im Ohrensessel vorstellt.
Romantisch eingebettet wird die ganze komplizierte Geschichte schließlich noch durch ein wiederkehrendes literarisches Motiv, nämlich den Bezug auf den Mond als stillen Zeugen der Ereignisse. Immer wieder ruft der Erzähler ihn als den "greisen Turmwächter" an, der doch eigentlich schon alles gesehen haben müsse und daher durch nichts mehr aus der Bahn geworfen werden könne. Dieses Motiv bestimmt auch die Exkurse über das Wesen des Erzählens und der Literatur, von der man ja auch schon länger sagt, sie könne nichts Originelles mehr schaffen. Aber Marías gelingt es eben dann doch, die alte Geschichte so zu erzählen, dass sie immer neu wirkt.
Javier Marías: "So fängt das Schlimme an". Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 640 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
hat die Dramaturgie einer klassischen Komposition, in der auf die Ouvertüre rasante Passagen folgen, retardierende Momente und eindringliche Abschnitte und vergnügliches Gezwitscher. Literatur Spiegel 201509