Aber der Kopf birst doch angeblich schier vor Gedanken, Gefühlen, Intrigen, Ideen und Ereignissen, die darauf drängen, zu Papier gebracht zu werden! Ja, aber was hilft das? Das leere Blatt liegt öd und leer da und sagt einem nicht, womit man anfangen soll. Ein leerer Bogen ist praktisch eine durchgehende Wand. Ohne Tür oder Fenster. Es ist so ähnlich, als wollte man mit einem fremden Mann oder einer fremden Frau im Cafe anbändeln. Erinnern Sie sich an Tschechows Gurow in der Erzählung Die Dame mit dem Hündchen? Er lockt den Hund zu sich heran, und als jener folgt, droht er ihm mit dem Finger. Der Spitz knurrt, Gurow droht ihm wieder, die Dame sagt errötend: "Er beißt nicht." Gurow fragt, ob man ihm einen Knochen geben dürfe, und damit ist ein Faden geknüpft, für Gurow wie für Tschechow, das Werben geht los, und die Geschichte nimmt ihren Lauf.
Fast jede Erzählung ist eigentlich ein Werben um das Hündchen, das einen vielleicht der Dame näherbringt."
Amos Oz versetzt sich in die Rolle des Lesers und forscht nach, warum Schreibende genau diesen einen Satz wählen, um ihren Roman zu beginnen. Dabei kommt der lesende Schriftsteller Oz dem Grundgeheimnis allen Erzählens auf die Spur: "Eine Geschichte anfangen bedeutet fast immer, eine vertragliche Bindung zwischen Autor und Leser anzuknüpfen." So erfahren wir hier nicht nur etwas über andere Autoren, sondern über den Schriftsteller Oz selber, über seine Poetik und seine Leseethik.
Amos Oz untersucht, wie Geschichten anfangen
Unter den berühmten Autoren Israels gibt es manche, die auch lehrend tätig sind. Der Dichter Jehuda Amichai arbeitete lange im Schuldienst, die Erzähler Abraham B. Jehoschua und Aharon Appelfeld sind Literaturprofessoren. Als Amos Oz in den sechziger Jahren zu schreiben begann, lebte er noch im Kibbuz. Später zog er in die südisraelische Kleinstadt Arad um, aber da war er schon international bekannt und brauchte sich kein Einkommen mehr an einer Universität zu sichern. Dennoch beschäftigt er sich intensiv mit anderen Schriftstellern. Er hat ein Buch über den hebräischen Klassiker Samuel Joseph Agnon geschrieben, das bald auch auf deutsch erscheinen wird, und jetzt veröffentlicht er eine Sammlung von Vorträgen, in denen er sich als passionierter Leser ausweist.
Der Titel des Buches ist ganz wörtlich gemeint. Oz wählt zehn Prosatexte - Romane von Fontane und Yishar, von Morante und García Márquez, Erzählungen von Agnon, Gogol und Kafka, von Tschechow, Carver und Shabtai - und geht dem Verhältnis nach, das zwischen dem Inhalt und den Anfängen dieser Werke besteht. Dabei spricht er aus der Erfahrung des Schreibenden. Der Anfang eines Textes ist für ihn wie ein Vertrag, den der Autor mit seinem Leser schließt, und Oz zeigt uns, wie dieser Vertrag in der Fortsetzung erfüllt oder gebrochen wird.
Theodor Fontanes "Effi Briest" beginnt mit der Schilderung eines Hauses, eines Ziergartens und eines Teiches, in dem ein Boot angekettet ist - ein Landschaftsbild, in dem sich nichts zu regen scheint. Erst in späteren Kapiteln wird der Leser ins Innere des Hauses eingelassen, und Oz macht uns auf die Bedingungen des Vertrages aufmerksam, der hier angeboten wird. Er zeigt uns den Schatten, der sich durch den Garten bewegt, liest die Landschaft, die unter diesem Schatten sichtbar wird, als eine symbolische Struktur und öffnet uns damit den Blick für eine ganze Partitur, die in der Ouvertüre schon angelegt ist. Der Anfangsabsatz, so Oz, "stellt die strenge Forderung langsamer, sorgfältiger Lektüre: Ohne ausdauernde Beobachtung vermag der Betrachter das Fortschreiten des Schattens nicht wahrzunehmen. Ohne geduldiges Horchen ist die Totalität der stummen Starre nicht zu erfassen. Ohne Beachtung der Einzelheiten ist dies nichts als eine hübsche Ansichtskarte mit einem stattlichen Herrenhaus inmitten eines Parks am Ufer eines Teichs, in ruhiger Lage."
Mit dem Schatten setzt Amos Oz ein starres Bild in Bewegung, er trägt ein Element der Zeit in die Zeitlosigkeit. Es ist eine Technik, die sich auch in anderen Stücken des Bandes beobachten läßt. Innerhalb der von ihm ausgewählten Anfänge faltet er ein Gegensatzpaar auseinander, setzt beide Teile in dialektische Beziehung und gewinnt aus ihr seine Deutung des Gesamtwerkes.
In Kafkas Erzählung "Der Landarzt" wird ein Scheitern beschrieben: Der Arzt kann den Kranken nicht retten, an dessen Bett er gerufen wird. Oz liest es unter dem Gegensatz von Logik und Albtraum, von Vernunft und dem Zusammenbruch aller Prämissen, ohne die es eine Vernunft nicht geben kann. Zunächst, so Oz, wird der Leser "aufgefordert, dem Arzt und Erzähler zu glauben und Sympathie für diesen redlichen Menschen zu empfinden, der in einer Schneenacht einem Schwerkranken zu Hilfe kommen möchte und nur durch ein technisches Problem aufgehalten wird. Als der Erzähler jedoch nicht mehr länger Herr der Lage ist, muß der Leser sich fragen: Hat er sie denn bis zu diesem Augenblick kontrolliert? . . . Was nämlich als eine logische Folge von Gedanken und Beschlüssen dargestellt wurde, war in Wirklichkeit nichts als ein wirrer Albtraum: Der Arzt ist betrogen worden. Und nicht nur der Arzt wurde getäuscht, auch der Leser ist gewissermaßen auf den Leim gegangen."
Noch schärfer faßt Amos Oz seinen Gegensatz beim Lesen von "Auftakte", einem Roman des israelischen Schriftstellers Yishar. Der Autor sucht hier einen Anfang im radikalsten Sinne: Er will an den ersten Ort zurückkehren, den das Bewußtsein ihm aufbewahrt hat. Yishars radikale Suche bringt auch Oz dazu, seinen Gegensatz radikal zu formulieren. Das Bemühen, auf magische oder mantische Weise die tiefsten Schichten der Erinnerung aus dem Urgrund der Persönlichkeit aufsteigen zu lassen, sei mit einem Paradox verbunden: Man müsse etwas in Worte fassen, das lange vor der Aneignung von Worten geschah. "Was auf dem tiefsten Erinnerungsgrund des Verfassers blinkt, sind nicht Worte, sondern ein Pulk von Empfindungen. Der ganze Abschnitt strebt danach, zeitlos zu erscheinen, ist eher bildhaft denn erzählend, gewissermaßen ein einziger Satz, in dem alles gleichzeitig geschieht, sich fast alles im Raum des Zelts dreht, ohne zeitlich fortzuschreiten."
Yishars Radikalität zwingt Oz dazu, die eigenen Prämissen noch einmal zu überdenken. Auf der ersten Seite von "Effi Briest" war es der Schatten, der über der Landschaft lag und es Oz ermöglichte, die Zeit des Erzählens in das Bild hineinzutragen. Bei Yishar aber ist alles nur Licht und Farbe, hier gibt es keinen Schatten, der sich als Uhr in der Zeitlosigkeit verwenden ließe.
Doch für den Schriftsteller Amos Oz steht die Lösung des Problems, das Yishars wortloser Anfang ihm stellt, längst fest. Für den Mann der Worte kann aller Anfang nur dort Sinn gewinnen, wo er zur Sprache kommt. Dem Säugling, der das Zelt wortlos erlebt, stellt er den erwachsenen Mann zur Seite, der darüber schreibt. "In diesen einen langen, rhythmisch unterteilten Satz", heißt es, "mischt sich eine zweite Stimme. Sie unterbricht wieder und wieder die erste, prüft, zweifelt oder bestätigt. Die erste Stimme, die Leitstimme, bemüht sich, die nackten Empfindungen wiederzugeben. Die zweite Stimme zweifelt, erkennt, ortet und benennt. Die erste Stimme ist archaisch, die zweite möchte die erste gewissermaßen zügeln, forscht und fordert Beweise."
Amos Oz macht das Wesen der Literatur sichtbar. Alle Gegensätze, unter die er die Anfänge seiner Texte stellt, sind nur Erscheinungsformen einer Dialektik, ohne die der Schriftsteller nicht auskommt. Selbst dort noch, wo ein wortloser Anfang sich ihm verweigert, bringt er eine zweite Stimme zum Klingen, um die Einheit des Ursprungs in Rede und Gegenrede zu teilen. JAKOB HESSING
Amos Oz: "So fangen die Geschichten an". Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 170 S., geb., 38,- DM.
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