Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.1996Detektive sind nicht zuständig
Tatort Kreißsaal: Batya Gur erzählt von einer Ärztin in Israel
Als Batya Gur 1988 ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte, "Denn am Sabbat sollst Du ruhen", war sie noch Literaturlehrerin an einem Jerusalemer Gymnasium. Das Buch machte sie international bekannt, zwei weitere Kriminalromane folgten. Batya Gur verließ den Schuldienst und schloß sich der Feuilletonredaktion der renommierten Tageszeitung "Ha'aretz" an. 1994 erschien der jetzt auch auf deutsch vorliegende Roman, und hier tat sie, was sie schon immer tun wollte. Sie brach aus dem Genre des Krimis aus und schrieb über ein sehr persönliches Thema: das Leben einer Frau in Israel, die es weit gebracht hat.
Jo'ela Goldschmidt ist Gynäkologin, Chefärztin in einem großen Jerusalemer Krankenhaus. Ihre Arbeitsstätte ist der Kreißsaal, und er ist zugleich das metaphorische Zentrum des Romans. Denn Jo'ela, aus deren Perspektive überwiegend erzählt wird, ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, das da seinen Anfang nimmt. In der ersten Szene untersucht sie ein Mädchen aus ultraorthodoxer Familie. Die Eltern sind besorgt, weil etwas mit der geschlechtlichen Entwicklung des Kindes nicht zu stimmen scheint. Vorsichtig deutet die Ärztin an, daß der Fall nicht so einfach ist. Die genetische Untersuchung ergibt, daß das Mädchen XY-Chromosomen besitzt, also ein Mann ist, oder genauer: weder Mann noch Frau, ein Zwitterwesen, das seine im frommen Judentum vorgeschriebene Rolle bei der Fortpflanzung niemals wird erfüllen können. Die Eltern, verwirrt von dem Befund, verstecken das Mädchen, und Jo'ela macht sich auf die Suche. Sie will das Kind vor der vermeintlichen Gefahr einer sozialen Ausgrenzung retten, die ihm angesichts eines gnadenlosen Religionsgesetzes droht. Auch hier also die Exposition eines Kriminalromans.
Und doch ganz anders. In ihren ersten Romanen stellt Batya Gur ihrem Helden, dem Jerusalemer Kommissar Michael Ochayon, die klassische Aufgabe: Er hat Mordfälle aufzuklären. Und da es ihm gelingt, erfüllen diese Geschichten von Gut und Böse, von Schuld und Gerechtigkeit in einer sinnentleerten Welt jene Ersatzfunktion, die ihnen Siegfried Kracauer schon in den zwanziger Jahren zugeschrieben hat. "Der Detektiv schweift in dem Leerraum zwischen den Figuren als entspannter Darsteller der Ratio", heißt es in der Studie "Der Detektiv-Roman". "Der Anspruch der Ratio auf Autonomie macht den Detektiv zum Widerspiel Gottes selber, doch dieser Detektiv-Gott ist Gott in einer Welt nur, die Gott verlassen hat."
Die Gynäkologin Jo'ela Goldschmidt ist eine moderne Frau, sie ist wissenschaftlich hoch qualifiziert, aber von einem Autonomieanspruch der Ratio kann bei ihr nicht die Rede sein. Die Suche, auf die sich Jo'ela macht, hat kein erkennbares Ziel, und der Leiter der Frauenabteilung, dessen Nachfolge sie einmal antreten soll, warnt sie vor ihrem überspannten Engagement. Aus eigener Erfahrung beschreibt er ihr die Gefahr der angemaßten Omnipotenz. In gewisser Weise ist Batya Gurs vierter Roman ein Antikrimi, seine Heldin das Gegenstück zu Kommissar Ochayon und seiner genreüblichen Illusion des Mannes, der die Lösung findet. Den Platz des Detektivs, der eine verdorbene Welt erlöst, nimmt hier nur noch eine Rettungsphantasie ein, die sich nicht mehr realisieren läßt.
Der Titel des Romans ist auch das Motto der weiblichen Suche nach einem Sinn, der sich nicht in Formeln fassen läßt. Zweimal wird die Titelzeile im Roman ausgesprochen, zuerst von einer Frau, die ein Kind zur Welt bringt und enttäuscht ist von der Geburt. "Wie haben Sie es sich denn vorgestellt?" fragt Jo'ela, und die Frau antwortet: "Ich weiß nicht. Irgendwie . . . freudiger."
Beim zweitenmal wird der Satz einem Mann in den Mund gelegt. Er heißt Jo'el, weist sich also schon im Namen als Gegenstück der Heldin aus. Jo'el will sie zum Seitensprung verführen. Doch sie führt ihn nicht ins Schlafzimmer, sondern in eine überfüllte Krankenhauskantine. "So hätte ich es mir nicht vorgestellt", sagt er darauf mit einem Seufzer. Der Ehebruch, dem sich die großen Frauengestalten der Literatur des 19. Jahrhunderts verdanken - Anna Karenina, Madame Boveray, Effi Briest -, wird nur noch am Rande zur Sprache gebracht, ein Thema, das keines mehr ist.
Der Roman bietet wenig Hoffnung und ist dennoch, auf eigene Weise, optimistisch. Neben gewissen Längen stehen auch sehr schöne Sequenzen. Einer dramatisch und überzeugend dargestellten Entbindung läßt Batya Gur ihr Schlußbild folgen, in dem Jo'ela - ganz wörtlich und ganz überraschend - der eigenen Mutter ins Auge blickt. JAKOB HESSING
Batya Gur: "So habe ich es mir nicht vorgestellt". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Marijam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 1996. 479 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tatort Kreißsaal: Batya Gur erzählt von einer Ärztin in Israel
Als Batya Gur 1988 ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte, "Denn am Sabbat sollst Du ruhen", war sie noch Literaturlehrerin an einem Jerusalemer Gymnasium. Das Buch machte sie international bekannt, zwei weitere Kriminalromane folgten. Batya Gur verließ den Schuldienst und schloß sich der Feuilletonredaktion der renommierten Tageszeitung "Ha'aretz" an. 1994 erschien der jetzt auch auf deutsch vorliegende Roman, und hier tat sie, was sie schon immer tun wollte. Sie brach aus dem Genre des Krimis aus und schrieb über ein sehr persönliches Thema: das Leben einer Frau in Israel, die es weit gebracht hat.
Jo'ela Goldschmidt ist Gynäkologin, Chefärztin in einem großen Jerusalemer Krankenhaus. Ihre Arbeitsstätte ist der Kreißsaal, und er ist zugleich das metaphorische Zentrum des Romans. Denn Jo'ela, aus deren Perspektive überwiegend erzählt wird, ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, das da seinen Anfang nimmt. In der ersten Szene untersucht sie ein Mädchen aus ultraorthodoxer Familie. Die Eltern sind besorgt, weil etwas mit der geschlechtlichen Entwicklung des Kindes nicht zu stimmen scheint. Vorsichtig deutet die Ärztin an, daß der Fall nicht so einfach ist. Die genetische Untersuchung ergibt, daß das Mädchen XY-Chromosomen besitzt, also ein Mann ist, oder genauer: weder Mann noch Frau, ein Zwitterwesen, das seine im frommen Judentum vorgeschriebene Rolle bei der Fortpflanzung niemals wird erfüllen können. Die Eltern, verwirrt von dem Befund, verstecken das Mädchen, und Jo'ela macht sich auf die Suche. Sie will das Kind vor der vermeintlichen Gefahr einer sozialen Ausgrenzung retten, die ihm angesichts eines gnadenlosen Religionsgesetzes droht. Auch hier also die Exposition eines Kriminalromans.
Und doch ganz anders. In ihren ersten Romanen stellt Batya Gur ihrem Helden, dem Jerusalemer Kommissar Michael Ochayon, die klassische Aufgabe: Er hat Mordfälle aufzuklären. Und da es ihm gelingt, erfüllen diese Geschichten von Gut und Böse, von Schuld und Gerechtigkeit in einer sinnentleerten Welt jene Ersatzfunktion, die ihnen Siegfried Kracauer schon in den zwanziger Jahren zugeschrieben hat. "Der Detektiv schweift in dem Leerraum zwischen den Figuren als entspannter Darsteller der Ratio", heißt es in der Studie "Der Detektiv-Roman". "Der Anspruch der Ratio auf Autonomie macht den Detektiv zum Widerspiel Gottes selber, doch dieser Detektiv-Gott ist Gott in einer Welt nur, die Gott verlassen hat."
Die Gynäkologin Jo'ela Goldschmidt ist eine moderne Frau, sie ist wissenschaftlich hoch qualifiziert, aber von einem Autonomieanspruch der Ratio kann bei ihr nicht die Rede sein. Die Suche, auf die sich Jo'ela macht, hat kein erkennbares Ziel, und der Leiter der Frauenabteilung, dessen Nachfolge sie einmal antreten soll, warnt sie vor ihrem überspannten Engagement. Aus eigener Erfahrung beschreibt er ihr die Gefahr der angemaßten Omnipotenz. In gewisser Weise ist Batya Gurs vierter Roman ein Antikrimi, seine Heldin das Gegenstück zu Kommissar Ochayon und seiner genreüblichen Illusion des Mannes, der die Lösung findet. Den Platz des Detektivs, der eine verdorbene Welt erlöst, nimmt hier nur noch eine Rettungsphantasie ein, die sich nicht mehr realisieren läßt.
Der Titel des Romans ist auch das Motto der weiblichen Suche nach einem Sinn, der sich nicht in Formeln fassen läßt. Zweimal wird die Titelzeile im Roman ausgesprochen, zuerst von einer Frau, die ein Kind zur Welt bringt und enttäuscht ist von der Geburt. "Wie haben Sie es sich denn vorgestellt?" fragt Jo'ela, und die Frau antwortet: "Ich weiß nicht. Irgendwie . . . freudiger."
Beim zweitenmal wird der Satz einem Mann in den Mund gelegt. Er heißt Jo'el, weist sich also schon im Namen als Gegenstück der Heldin aus. Jo'el will sie zum Seitensprung verführen. Doch sie führt ihn nicht ins Schlafzimmer, sondern in eine überfüllte Krankenhauskantine. "So hätte ich es mir nicht vorgestellt", sagt er darauf mit einem Seufzer. Der Ehebruch, dem sich die großen Frauengestalten der Literatur des 19. Jahrhunderts verdanken - Anna Karenina, Madame Boveray, Effi Briest -, wird nur noch am Rande zur Sprache gebracht, ein Thema, das keines mehr ist.
Der Roman bietet wenig Hoffnung und ist dennoch, auf eigene Weise, optimistisch. Neben gewissen Längen stehen auch sehr schöne Sequenzen. Einer dramatisch und überzeugend dargestellten Entbindung läßt Batya Gur ihr Schlußbild folgen, in dem Jo'ela - ganz wörtlich und ganz überraschend - der eigenen Mutter ins Auge blickt. JAKOB HESSING
Batya Gur: "So habe ich es mir nicht vorgestellt". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Marijam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 1996. 479 S., geb., 44,- DM.
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