Daisy wird von ihrem Vater nach England geschickt. Sie soll den Sommer bei ihren exzentrischen Verwandten auf dem Land verbringen. Das alte verwinkelte Haus, die Hunde, der Garten mit dem verwitterten Steinengel - all das ist ihr als New Yorkerin völlig fremd und doch hat Daisy sich noch nie irgendwo so geborgen gefühlt. Und noch nie zuvor hat sie Menschen wie Edmond, Isaak, Osbert und die kleine Piper getroffen. Vor allem niemand wie ihren Cousin Edmond. Es verspricht ein perfekter Sommer zu werden. Ein Sommer, der ihr Leben verändern wird. Aber auch ein Sommer, der die Welt verändern wird.
Plötzlich aus der Zeit gefallen: Meg Rosoffs "So lebe ich jetzt"
Daisy, fünfzehn, magersüchtig aus Protest gegen ihre Familiensituation und aus Angst, "aufgeschwemmt" zu werden "wie ein Schwein", wird von New York zu Verwandten nach England geschickt. Dort soll sie zu einer anderen Lebenseinstellung und ein paar Pfunden mehr kommen. An die seit Jahren drohende nebulöse Kriegsgefahr und die Terroranschläge hat sich jeder schon so gewöhnt, daß der Ernstfall sich unter die Gefahren des Alltags eingereiht hat. Am Flughafen wird sie vom vierzehnjährigen Cousin Edmond abgeholt, der den Jeep fährt, Kettenraucher ist und immer weiß, was Daisy gerade denkt, nicht bloß metaphorisch, sondern tatsächlich. Es gibt noch zwei weitere Cousins, von denen einer schweigt wie ein Trappist, sowie eine elfenhafte kleine Cousine. Und Tante Penn, die jedoch zu einem Friedenskongreß nach Oslo expediert wird. Eine Reise ohne Wiederkehr, denn wenige Tage nach Tante Penns Abreise bricht der Krieg endgültig aus.
Ein echtes Abenteuer, finden die Kinder, denn Schule ist nun offiziell Privatsache. Elternteile werden verschmerzt. Solange die Behörden sich nicht einmischen, begreifen die fünf Kinder die archaische Freiheit ihrer Lebensweise, das ländliche Miteinander von Menschen, Ziegen, Hunden und Hühnern, selbst das unverhohlene Liebesverhältnis zwischen Daisy und ihrem Cousin Edmond als paradiesische Zeit, halb "Daphnis und Chloe", halb "Zwei Jahre Ferien". Aber auch an McEwans "Zementgarten" wird man erinnert.
Natürlich verschont der Krieg auch diese Idylle bald nicht mehr: "Es ließ sich nicht an etwas Bestimmtem festmachen, aber ich würde sagen, daß der Zauber, durch den wir uns vor der Außenwelt sicher fühlten, mit einem Mal zu zerbrechlich wirkte, um uns für immer zu beschützen." Britische Armeeangehörige sequestrieren das Anwesen, Mädchen und Jungen werden getrennt und andernorts untergebracht. Handys und E-Mails werden übrigens gleich zu Anfang ausgeklinkt, eine begreifliche Maßnahme, würde doch das Dauergelaber "Ich bin hier, wo bist du gerade?" jeden Hauch von Verlorenheit und Verunsicherung zunichte machen.
Gelegentlich wird der "Feind" nun sogar gesichtet: "Typen mit Maschinengewehren, die kein berauschendes Englisch sprachen" und denen man "Papiere" zeigen muß. Er hat etwas reichlich Mysteriöses, dieser Krieg, um nicht zu sagen, etwas Antiquiertes. Als wäre die Handlung unversehens durch eine Zeitfalte gerutscht. Verdutzt liest man von "Panzern" und "Bomben", nicht etwa von Langstreckenraketen, und man fragt sich versonnen, wie diese Panzerinvasion wohl zustande kam. Übers Wasser? Mit Schiffen? Simultan an englischer Küste landend? Daß der Feind weder Namen noch Gesicht haben darf, verwässert irgendwann die Gefahr und verleiht selbst der Schilderung eines Massakers etwas Geborgtes.
Es ist nicht nur die nebelhafte Kriegsgeschichte; auch die Handlung weist, nachdem die Kinderfamilie auseinandergerissen ist, kompositorische Schwächen auf, zeigt Fahrigkeit und Längen, während andererseits Motive und Handlungsfäden einfach fallengelassen werden. Was wird zum Beispiel aus der übersinnlichen Veranlagung Edmonds? Wieso rührt er, der Sensible, der große Liebende, keinen Finger, um Daisy wiederzufinden, die ihrerseits kein anderes Ziel kennt, als zu ihm zu gelangen? Als hätte ein Lektor nahegelegt, die dringlichsten offenen Fragen doch bitte noch aufzuarbeiten, wird zum Schluß eine Erklärungen herunterhaspelnde Coda angefügt.
Und doch - da ist Vielversprechendes: Temperament, Flair und die Authentizität einer neuen Erzählstimme, die auch von der Übersetzung virtuos wiedergegeben wird. Vor allem zeigt sich hier eine Geisteshaltung, die sich nicht damit bescheidet, jung zu sein und zwischen niedrig gehängten Fixpunkten, sprich Tops, Make-up und "total süßen Kerlen", hin und her zu gongen, wie anderenorts zu lesen, sondern innere Welt vermittelt. Für ein Debüt ist das schon eine ganze Menge.
KARLA SCHNEIDER
Meg Rosoff: "So lebe ich jetzt". Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Carlsen Verlag, Hamburg 2005. 204 S., geb., 14,- [Euro]. Ab 14 J.
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Ein umwerfender Debütroman... frisch, ehrlich, unverschämt, komisch, verzweifelt, sexy und ohne einen einzigen falschen Ton. (The Guardian)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Karla Schneider bescheinigt diesem Debüt allerlei Vielversprechendes, nämlich "Temperament, Flair und die Authentizität einer neuen Erzählstimme". Dennoch macht sie dieser Jugendroman über ein magersüchtiges Mädchen aus England, das New Yorker Verwandte besucht und in einen mysteriösen Krieg gerät, zwischendurch ein bisschen ratlos. Und zwar nicht nur wegen einiger kompositorischer Schwächen und Längen. Auch inhaltliche Ungereimtheiten geben der Rezensentin Rätsel auf. Was hat es mit dem nebulösen Krieg auf sich, dessen Schilderung Schneider gelegentlich eine Spur zu "geborgt" erscheint? Wieso ist im Zeitalter von Mittelstreckenraketen plötzlich antiquiert von Bomben und Panzern die Rede? Insgesamt kann die Autorin die Rezensentin aber trotzdem beeindrucken, der es ihrer Ansicht nach dem Genre des Jugendbuchs eine tiefere Ebene hinzuzufügt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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