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Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Alfred Kerr der prominenteste und eigenwilligste Theaterkritiker deutscher Sprache. Unverwechselbar (und nicht selten imitiert oder parodiert) Anlage, Stil und Ton seiner Prosa. Dem empfangenen Eindruck entspricht prägnanter Ausdruck, bald subtil, bald ruppig, unter römischen Ziffern reihen sich knappe Abschnitte, manchmal ist es ein Aphorismus oder nur ein einziges Wort. Die Subjektivität ist unverhohlen und stolz. Die Eitelkeit vereitelt nicht, sondern fördert formulierte Erkenntnis. Alfred Kerr verstand die Kritik als gleichberechtigtes Gegenstück…mehr

Produktbeschreibung
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Alfred Kerr der prominenteste und eigenwilligste Theaterkritiker deutscher Sprache. Unverwechselbar (und nicht selten imitiert oder parodiert) Anlage, Stil und Ton seiner Prosa. Dem empfangenen Eindruck entspricht prägnanter Ausdruck, bald subtil, bald ruppig, unter römischen Ziffern reihen sich knappe Abschnitte, manchmal ist es ein Aphorismus oder nur ein einziges Wort. Die Subjektivität ist unverhohlen und stolz. Die Eitelkeit vereitelt nicht, sondern fördert formulierte Erkenntnis. Alfred Kerr verstand die Kritik als gleichberechtigtes Gegenstück zu ihrem Objekt und sich selber als schöpferischen Künstler.
Die neue Ausgabe der Werke von Alfred Kerr reserviert den Theaterkritiken zwei Bände. Der erste enthält Arbeiten von 1893 bis 1919. Kerrs Kritiken aus der Zeit der Weimarer Republik und den Jahren des Exils sammelt dieser zweite Band.
In den Zwanziger Jahren erreicht Alfred Kerr die Höhe seiner Kunst, den Höhepunkt seines Wirkens als kritischer Beobachter des Theaters. Unabhängig von den zeitgenössischen Literaturmoden - Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Zeitstück und politisches Theater -, immer wieder auch den klassischen Dramenfundus urteilssicher musternd, ist er offen für alles, was den »Ewigkeitszug« trägt oder doch schöpferische Originalität verheißt. Die »Diktatur des Hausknechts« Hitler zwingt den deutschen Juden Kerr 1933 ins Exil.

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Autorenporträt
Alfred Kerr (ursprünglich Kempner), Deutschlands meistbewunderter und meistgehaßter Theaterkritiker seiner Zeit, wurde 1867 in Breslau geboren und studierte Literaturwissenschaft in Berlin.
Er war Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften, unter anderen an der Breslauer Zeitung, am Tag, dem von ihm geleiteten zweiten Pan und am Berliner Tageblatt.
In Buchform veröffentlichte er, neben einer fünfbändigen Sammlung seiner kritischen Arbeiten, vor allem Reiseprosa und Gedichte. 1933 Flucht aus Deutschland. Mühselige Existenz, erst in Paris, später in London.
1948 erlitt er, als Besucher in Hamburg, einen Schlaganfall und nahm sich das Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2001

I, II, III, im Sauseschritt
Läuft der Kerr, man läuft nicht mit: Die Theaterkritiken, komplett

Was stand am 30. Januar 1933 morgens im Berliner Tageblatt? An jenem Tag, an dem abends der greise, schon etwas sehr senile Reichspräsident Hindenburg, der soeben einen als Kunstmaler gescheiterten Österreicher zum deutschen Reichskanzler ernannt hatte, auf die siegjohlenden, fackeltragenden SA-Horden sah und dann gesagt haben soll: "Wußte jar nich, daß wa 1914 in Tannenberch so ville russische Kriegjefangene jemacht hatten . . ." - an jenem Tag also, an dem man anfing, Deutschland braun anzustreichen, stand im Berliner Tageblatt "Achtung! Frisch gestrichen!" (das war der Titel einer Komödie von René Fauchois), und der römisch numerierte zwölfte Absatz dieses Artikels las sich so: "XII. Und wenn ein Theaterchen schon führerlos ist - was will das bedeuten."

Es war der letzte Absatz und der letzte Satz der letzten Theaterkritik, die Alfred Kerr fürs Berliner Tageblatt schrieb, bevor er über Prag nach Paris fliehend emigrierte. Selten fiel die Pointe einer Kritik so als schrecklich und bitter wieherndes Kalauer-Geschenk einer Zeit in den Schoß, sozusagen als zufällige Notwendigkeit. Denn Hitlers, des Bildermalers Machterschleichung am 30. feierte Kerr, der sie am 29. schrieb, ohne vom 30. wissen zu können, mit der Rezension eines harmlosen Stückchens um Erbschleicherei und Bilderhandel. Wobei er einmal auch forderte: "Deutsche Dramatiker, lernt das Handwerk, damit ihr Weltgeltung bekommt" - während sie in Zukunft eher Schwulst (ohne Weltgeltung) lernten.

So läuft der Kritiker gegen seine Zeit. Weil er sich nicht auf die Zeit konzentriert, sondern auf sich selbst. Als Mitläufer wäre er im Diskurs mitgeschwommen, den andere angezettelt hätten: im Debatten-Feuilleton. Kerr debattierte nicht. Er ließ sich nicht mit anderen verrechnen. Er schrieb auf eigene Rechnung. Er führte nicht aus. Er dampfte ein, verknappte. Und sagte, was zu sagen war. Von ihm aus.

Er sei "tapfer" und "keck" gewesen, und erst im Abstand von den "relativ nahen zwanziger Jahren und ihren Kämpfen" spüre man, wie "einsam, gescheit und groß" er gewesen sei. Die Intellektuellen unserer Nation hätten "verdammt" viel bei ihm "nachzuholen, zu lernen, zu bewundern und sich zu eigen zu machen". Leider würden sie es nicht tun, denn eine zugängliche Gesamtausgabe seiner Schriften existiere nicht, sie werde auch nirgendwo vorbereitet. Diejenigen, die ihn "abschreiben, ausschreiben" wollten, weil sie seine längst vergriffenen Bücher zufällig besäßen, könnten dies also fast gefahrlos tun. "Und ein neuer Kerr, der ihnen dabei streng auf die Finger schaute, ist nicht in Sicht."

Das schrieb 1980 der Kritiker Joachim Kaiser über den Kritiker Alfred Kerr im immer noch wertstoffhaltigen Sammelband "Journalisten über Journalisten". Jener Kaiser, der seine Kritiken (Klavier, Musik, Theater, Literatur, Klavier, Klavier, Klavier) im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" hie und da römischziffrig zu unterteilen sich traut: also cum I., II., III. etc. Und also den Kerr wenigstens formal "abschreibt, ausschreibt". Aber ansonsten Kaiser bleibt. Kein Kerr.

Letzterer aber ist jetzt in Sicht. Nicht als neuer, jedoch als alter neu. Denn bisher war Kerr ein Monument, auf das man gerne schaute, das aber nirgendwo mehr richtig stand. Seine Kritiken kamen selektiert auf uns: zuerst von ihm selektiert, redigiert und zurechtgestutzt, längst vergriffen; dann im einen oder anderen dürftigen Sammelband, ebenfalls vergriffen. Man bekam nur Splitter vom Monument zu fassen. Jetzt endlich sind Kerrs Theaterkritiken vollständig gesammelt und zwischen Buchdeckeln gepreßt zu haben und zu bestaunen: in Originalfassungen, so wie sie in den Zeitungen, für die Kerr schrieb, erschienen sind. Nach dem ersten Band ("Ich sage, was zu sagen ist"), der die Kritiken von 1893 bis 1919 umfaßt (F.A.Z. vom 19. Dezember 1998), liegen nun in einem zweiten Band die Rezensionen von 1919 bis 1933 und aus dem Exil vor - bis zur letzten für Erich Kästners "Neue Zeitung" am 29. September 1947.

Der neue Band heißt "So liegt der Fall". So nennt ihn der Herausgeber. Und was der Herausgeber Günther Rühle da auf 959 Seiten im ersten und auf 1061 Seiten im zweiten Band an Sammel-, Spür-, Kommentar- und Editionsarbeit geleistet hat, das verdiente, daß der alte Kerr jetzt zu kalauern gehabt haben würde: "Über allen Gipfeln ist Rühle!"

Nun also liegt der ganze Kerr uns vollständig vor, und nun kann nachgefragt werden, was da "nachzuholen, zu lernen, zu bewundern" wäre. Nachzuholen: nichts. Zu bewundern: viel. Zu lernen: alles.

Nicht nachzuholen: der Kämpfer Kerr, der für Hauptmann, gegen Brecht, für Brahm, gegen Reinhardt, für Toller, gegen Hasenclever, für das Zeitstück mit der "richtigen Tendenz", gegen das Zeitstück mit der "falschen Tendenz", für flache Stücke, die gegen die Folter andichteten, gegen flache Stücke, die für die Folter waren, Partei nahm. Überhaupt also nicht nachzuholen: der Parteivorsitzende Kerr. Da versteht sich viel von selbst, und manches versteht man gar nicht mehr: seine blinde Liebe zu Wedekind, sein Auf-dem-Bauch-Liegen vor Hebbel. Vieles grüßt aus der Versenkung. Auch wenn er in der Versenkung gleichsam im Sauseschritt vorwärts stürmt.

Zu bewundern aber: der Dichter Kerr. Der Künstler. Gerade weil er da nicht nachzumachen ist, nur zu parodieren wäre, bleibt er in seinem Stil: im Ewigkeitszug. Schließlich hat er - nach eigenen Angaben - den Expressionismus erfunden. Sein Ich wirft er vor Ausrufezeichen und zwischen Gedankenstrichen (voller ungestrichener Gedanken!) und hinter lauter "Ecco!" in die Waagschalen. So bringt er sich ein auf der Wippe, auf der es immer um Sein oder Nichtsein geht. Um sein Sein, sein Nichtsein.

Er delegiert nichts: weder an den Zeitgeist oder an "Entwicklungen" oder an andere faule Dritte. Immer steht allein seine Sache auf dem Spiel - und wenn sie das auf der Bühne nicht tut, dann ätzt er: "Nun: das Stück ist sowieso unmöglich. Wird es durch den Alltagston möglicher? Es wird unmöglicher." (Dabei geht es um Shakespeare, "Othello", 1932.) "Und deshalb muß auch die holde Desdemona . . ." (Absatz) "III. Sie ist nicht hold. Sondern kommt vom Kurfür -, ähh, Dogendamm; mindestens von der Piazzettas-Jause. Mit echt-venezianischem, rotschimmerndem Gesellschaftshaar. Desdemonalisa?"

So ungefähr ging das. So kann, darf, muß man heute nicht mehr schreiben. Deshalb aber bleibt es. Ein Beispiel. Für eine unerreichte Kunst.

Zu lernen also wäre von ihm: sein Wahlspruch "Aude sapere"; und sein Ausdrucksziel "Das Knappere".

GERHARD STADELMAIER

Alfred Kerr: "So liegt der Fall". Theaterkritiken 1919-1933 und im Exil. Hrsg. von Günther Rühle. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2001. 1061 S., geb., 128,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Von dem großen Meister der deutschen Theaterkritik Alfred Kerr sind bereits zahlreiche Bände mit Reiseberichten, Gedichten und Essays zu Theater und Film erschienen. Nun endlich liegt in zwei Bänden auf über insgesamt 2000 Seiten auch sein kritisches Werk vor: "Ich sage, was zu sagen ist. Theaterkritiken von 1893-1919" und "So liegt der Fall. Theaterkritiken von 1919-1933 und im Exil". Diese Edition, jubelt Hansres Jacobi, ist ein Ereignis, denn sie zeige die Größe und Grenzen des Kritikers in ihrem vollen Umfang. Der Herausgeber Günther Rühle hat die Auswahl der Rezensionen, etwa ein Fünftel der von ihm auf 1500 insgesamt geschätzten Kritiken, auf zwei Bände verteilt und sich dabei an die zeitliche Chronologie gehalten. Die eigentliche Bedeutung dieser Edition sieht der Rezensent in den umfang- und kenntnisreichen Anmerkungen, aber - neben der Materialfülle - vor allem auch in der Textbehandlung: Rühle habe die Texte anders als Kerr selbst bei der Erstellung von Sammelbänden, in ihrer Originalfassung belassen. Man hat es also mit "unfrisierten Texten" Kerrs zu tun und bekommt so "ein unverbogenes Bild seiner Persönlichkeit", freut sich Jacobi. Dadurch lasse sich Kerrs Entwicklung verdeutlichen, aber auch seine persönliche Haltung zu einzelnen Autoren und zu künstlerischen Bewegungen. Kerrs Bemühungen um Akzentuierung und Hervorhebung des Wesentlichen werde ebenso erkennbar wie sein Plädoyer für die Subjektivität des kritischen Urteils. Rühles Blick macht aber auch nicht Halt vor den Schwächen des Meisters, Kerrs Tendenz zur Selbststilisierung und seinem Anflug von Selbstüberschätzung, bemerkt der Rezensent. Trotz allem sei Kerr aber der legitime Nachfolger Fontanes, versichert er abschließend.

© Perlentaucher Medien GmbH
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