An ihrem Lebensabend setzt sich eine weltberühmte Schriftstellerin ein letztes Mal an einen Text, an dem sie seit Jahrzehnten arbeitet: ihr Testament. Anlässlich dieses letzten Textes erinnert sie sich an ihre Kindheit, die Gründe ihres Wechsels zum Englischen als "Gegensprache der Kreativität", ihre faszinierende Begegnung mit Luise, ihrer Lebensgefährtin der letzten 50 Jahre, ihre gemeinsamen Sommerfrischen in England, Irland und Italien, ihr letztes Quartier in der Schweiz, ihr Zusammenleben, real - vor allem aber fiktiv. Zahlreiche erfundene Orte und Zeiten, wo Luise und die Erzählerin urwüchsige Figuren kennengelernt, sich ausgetobt und ihre Abenteuer in den Wäldern und an den Teichen mit Zwergen, Karpfen, Feen und Ziegenböcken bestanden haben. Aus diesem echten und zugleich gefälschten Testament entsteht ein spielerischer, poetischer Text, in dem Erfindungen stets mit der Kraft der Sprache konkurrieren.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2017Das Blut des jungen Mannes tränke sie gern
In ihrem Roman "So long, Louise" lässt Céline Minard eine wilde Heldin auf die Menschheit los
Das ist mal eine wirklich Abgebrühte. Mit "XXX" präsentiert uns Céline Minard eine rauhbeinige Heldin, die in Mondeult, einem ehemaligen Schweizer Hotel, das sie ihr eigen nennt, die Tage vorbei und dem Tod entgegenziehen lässt. Mit Würde hat die alternde Schriftstellerin nichts am Hut: "Ich habe nicht das Stadium der Weisheit erreicht, tut mir leid, aber der Tod ist meine Sache nicht, und ich würde gut und gern und ohne jeden Skrupel das Blut von zehn Cocquiels zum Frühstück trinken, wenn diese Mixtur sich als Jungbrunnen herausstellte. Was ich nicht glaube. Er ist zu blass, um eine vitalisierende Blutwurst abzugeben." Zum Verständnis: Cocquiel ist ein junger Kunstwissenschaftler und Schmarotzer, der um die Malerin Luise herumscharwenzelt. Luise wiederum ist die Lebensgefährtin von XXX und Adressatin ihres letzten Willens - ganz im Wortsinn, denn resignativ ist der sprudelnde Roman "So long, Luise" in keinem Moment.
Was XXX in ihre Lebensbeichte packt, hat es in sich. Da wäre die literarische Karriere, der sie mit halblauteren Mitteln auf die Sprünge geholfen hat: Als französische Verlage sie nicht veröffentlichen wollen, übersetzt sie ihre Romane ins Englische, hat einen Heidenerfolg und lässt sich die "Übersetzungen" zurück ins Französische dann teuerst entlohnen. So wird sie die erste Französin, die den Booker-Preis einheimst. Die Kasse klingelt, hat aber ein Loch im Boden: XXX spielt Poker. Deshalb erfindet sie die Schwadronage-Technik: Sie spioniert potentielle Opfer aus, spricht sie im idealen Moment an und textet sie psychologisch geschickt zu, bis sie sich willenlos ausrauben lassen - eine Wildwestversion meisterhafter Erzählkunst sozusagen, der XXX notfalls mit der Pistole physische Durchschlagskraft verleiht.
Der westernähnliche Roman "Mit heiler Haut" hat Minard 2014 als Visitenkarte beim deutschen Publikum gedient, eine Affinität zum Genre ist unzweifelhaft vorhanden - und allgemein eine Vorliebe für populäre Erzählformen, zum Beispiel Science-Fiction, wie "Le Dernier Monde" ("Die letzte Welt"; 2007) belegt. Die 1960 in Rouen geborene Minard schreibt jedoch nicht einfach "im Stil von", sie stülpt die Genres konsequent um: in "So long, Luise", indem sie erstens eine homosexuelle Liebesgeschichte zugrunde legt und zweitens die Erzählformen mixt, als ginge es darum, den verheerendsten Long Island Ice Tea zu schütteln.
Die Erzählerin berichtet nicht nur von trinkseligen Schottland-Reisen oder einem fingerfertigen Schmuckraub beim Privatverkauf von Mrs. Fareway, sondern auch von einem Ausflug, der mittels Geheimtreppe im Kaminschacht unter die Erde führt, wo sie und Luise einem wundersamen Zwergenvolk begegnen. Die eigenartigen Wesen lassen sich von ihrer Gottähnlichkeit überzeugen und huldigen XXX fortan ergeben - der Roman kippt kopfüber ins Märchen.
Eine zweite Sequenz schreibt das Spiel fort, als die Damen sich in den Bergen einschneien lassen und vor versammelten Piktenfrauen, die durch die Glaskuppel lugen, winterliche Liebesspiele treiben. Das Publikum wird selbst tätig: "So manche Berliner Performerin täte gut daran, an ihren kleinen improvisierten Festen auf unserem Dach teilzunehmen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kostüme. Eine von ihnen, die zu den Größeren gehörte, trug eine Art Käfig oder ein Kleid aus Draht und zusammengenähten Eisenbändern, die die üppigen Brüste und Pobacken einschnürten und ihrer milchigen Haut allerlei Rosaschattierungen aufdrückten, sie sah aus wie eine mit Zucker bestreute Winterfrucht, die so beachtliche Posen einnahm, dass man von ihr manchmal nur eine Reihe von Fettpölsterchen sah, die mit Nippeln oder kurzen blonden Härchen verziert waren." Märchen für Erwachsene: Minards Vorgehen erinnert an Éric Chevillard, ist aber etwas deftiger.
Das geht mal gut, besonders am Anfang: Minard schöpft aus dem Vollen, lässt als persönliche Version der Proustschen Madeleine einen grauen Gecko auftreten oder bringt ihre Erzählerin dazu, Tausende Bücher einer unkonventionellen Neuverwendung zuzuführen. Als sich zu viele angesammelt haben, überlegt sich XXX: "Papier ist in jeder Form eine hervorragende Quelle für Stärke und Kollagen. Wenn man es anständig rührt, liefert es eine proteinhaltige, äußerst nahrhafte Pampe, die ein geschätztes Isoliermaterial für ein Luftblasenbett hergibt. Welcher leidlich streitbare Fisch würde nicht von einem halbwegs beständigen Luftblasenbett träumen?" Sagt's und versenkt eine Viertelbibliothek im Teich, darunter "alle vier französischen Übersetzungen Shakespeares im Taschenbuchformat".
Die bibliophobe Zerstörungstat mit ihrer sorgfältigen Barbarei hat durchaus Witz. Das Gleiche gilt für den Spott auf den Literaturbetrieb: "Seitdem meine achtzehn oder neunzehn Bände in einer renommierten Reihe erschienen sind und man nur noch darauf wartet, mich sterben zu sehen (warum heute mehr als vor zehn oder zwanzig Jahren, das bleibt für mich ein unergründliches Rätsel), nähert man sich mir mit ausufernden rednerischen Vorsichtsmaßnahmen." Das sitzt, und man versteht in solchen Passagen, dass "So long, Luise" mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde.
Andere Male geht es nicht so gut. Die Abschweifungen sind zu systematisch, die Originalität zu gesucht, die Abweichung wird spürbar herbeigesehnt: Das wird vorhersehbar, ermüdet, und ungefähr auf der Hälfte stellt sich eine gewisse Erschlaffung ein. Als Minard dann ins Märchenhafte abhebt, ist der Faden nur noch leicht gespannt: Dieser letzte Wille will zu viel und ist nicht genug. Oder: Auch Exzesse wollen sorgfältig dosiert sein. Erst als "So long, Luise" in die Zielgerade donnert und ein dekadentes Fest anlässlich der "Silbernen Antihochzeit" des unkonventionellen Paares inszeniert, wird es noch einmal prickelnd. Da wird Drappier zéro dosage zur Eröffnung ausgeschenkt und die Gästeschar mit Wachtelkoteletts in Sauerkirschgelee sowie ganzen Drosseln verwöhnt - vor allem aber werden endlich Blutwürste verspeist, die dank Pilzzutaten in den Kollektivrausch führen. Sodom und Gomorrha in den Schweizer Bergen, das ist eine Ausschweifung, die Freude macht und den Leser mit dem nicht immer gut kalibrierten Band versöhnt.
NIKLAS BENDER
Céline Minard: "So long, Luise". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Roman "So long, Louise" lässt Céline Minard eine wilde Heldin auf die Menschheit los
Das ist mal eine wirklich Abgebrühte. Mit "XXX" präsentiert uns Céline Minard eine rauhbeinige Heldin, die in Mondeult, einem ehemaligen Schweizer Hotel, das sie ihr eigen nennt, die Tage vorbei und dem Tod entgegenziehen lässt. Mit Würde hat die alternde Schriftstellerin nichts am Hut: "Ich habe nicht das Stadium der Weisheit erreicht, tut mir leid, aber der Tod ist meine Sache nicht, und ich würde gut und gern und ohne jeden Skrupel das Blut von zehn Cocquiels zum Frühstück trinken, wenn diese Mixtur sich als Jungbrunnen herausstellte. Was ich nicht glaube. Er ist zu blass, um eine vitalisierende Blutwurst abzugeben." Zum Verständnis: Cocquiel ist ein junger Kunstwissenschaftler und Schmarotzer, der um die Malerin Luise herumscharwenzelt. Luise wiederum ist die Lebensgefährtin von XXX und Adressatin ihres letzten Willens - ganz im Wortsinn, denn resignativ ist der sprudelnde Roman "So long, Luise" in keinem Moment.
Was XXX in ihre Lebensbeichte packt, hat es in sich. Da wäre die literarische Karriere, der sie mit halblauteren Mitteln auf die Sprünge geholfen hat: Als französische Verlage sie nicht veröffentlichen wollen, übersetzt sie ihre Romane ins Englische, hat einen Heidenerfolg und lässt sich die "Übersetzungen" zurück ins Französische dann teuerst entlohnen. So wird sie die erste Französin, die den Booker-Preis einheimst. Die Kasse klingelt, hat aber ein Loch im Boden: XXX spielt Poker. Deshalb erfindet sie die Schwadronage-Technik: Sie spioniert potentielle Opfer aus, spricht sie im idealen Moment an und textet sie psychologisch geschickt zu, bis sie sich willenlos ausrauben lassen - eine Wildwestversion meisterhafter Erzählkunst sozusagen, der XXX notfalls mit der Pistole physische Durchschlagskraft verleiht.
Der westernähnliche Roman "Mit heiler Haut" hat Minard 2014 als Visitenkarte beim deutschen Publikum gedient, eine Affinität zum Genre ist unzweifelhaft vorhanden - und allgemein eine Vorliebe für populäre Erzählformen, zum Beispiel Science-Fiction, wie "Le Dernier Monde" ("Die letzte Welt"; 2007) belegt. Die 1960 in Rouen geborene Minard schreibt jedoch nicht einfach "im Stil von", sie stülpt die Genres konsequent um: in "So long, Luise", indem sie erstens eine homosexuelle Liebesgeschichte zugrunde legt und zweitens die Erzählformen mixt, als ginge es darum, den verheerendsten Long Island Ice Tea zu schütteln.
Die Erzählerin berichtet nicht nur von trinkseligen Schottland-Reisen oder einem fingerfertigen Schmuckraub beim Privatverkauf von Mrs. Fareway, sondern auch von einem Ausflug, der mittels Geheimtreppe im Kaminschacht unter die Erde führt, wo sie und Luise einem wundersamen Zwergenvolk begegnen. Die eigenartigen Wesen lassen sich von ihrer Gottähnlichkeit überzeugen und huldigen XXX fortan ergeben - der Roman kippt kopfüber ins Märchen.
Eine zweite Sequenz schreibt das Spiel fort, als die Damen sich in den Bergen einschneien lassen und vor versammelten Piktenfrauen, die durch die Glaskuppel lugen, winterliche Liebesspiele treiben. Das Publikum wird selbst tätig: "So manche Berliner Performerin täte gut daran, an ihren kleinen improvisierten Festen auf unserem Dach teilzunehmen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kostüme. Eine von ihnen, die zu den Größeren gehörte, trug eine Art Käfig oder ein Kleid aus Draht und zusammengenähten Eisenbändern, die die üppigen Brüste und Pobacken einschnürten und ihrer milchigen Haut allerlei Rosaschattierungen aufdrückten, sie sah aus wie eine mit Zucker bestreute Winterfrucht, die so beachtliche Posen einnahm, dass man von ihr manchmal nur eine Reihe von Fettpölsterchen sah, die mit Nippeln oder kurzen blonden Härchen verziert waren." Märchen für Erwachsene: Minards Vorgehen erinnert an Éric Chevillard, ist aber etwas deftiger.
Das geht mal gut, besonders am Anfang: Minard schöpft aus dem Vollen, lässt als persönliche Version der Proustschen Madeleine einen grauen Gecko auftreten oder bringt ihre Erzählerin dazu, Tausende Bücher einer unkonventionellen Neuverwendung zuzuführen. Als sich zu viele angesammelt haben, überlegt sich XXX: "Papier ist in jeder Form eine hervorragende Quelle für Stärke und Kollagen. Wenn man es anständig rührt, liefert es eine proteinhaltige, äußerst nahrhafte Pampe, die ein geschätztes Isoliermaterial für ein Luftblasenbett hergibt. Welcher leidlich streitbare Fisch würde nicht von einem halbwegs beständigen Luftblasenbett träumen?" Sagt's und versenkt eine Viertelbibliothek im Teich, darunter "alle vier französischen Übersetzungen Shakespeares im Taschenbuchformat".
Die bibliophobe Zerstörungstat mit ihrer sorgfältigen Barbarei hat durchaus Witz. Das Gleiche gilt für den Spott auf den Literaturbetrieb: "Seitdem meine achtzehn oder neunzehn Bände in einer renommierten Reihe erschienen sind und man nur noch darauf wartet, mich sterben zu sehen (warum heute mehr als vor zehn oder zwanzig Jahren, das bleibt für mich ein unergründliches Rätsel), nähert man sich mir mit ausufernden rednerischen Vorsichtsmaßnahmen." Das sitzt, und man versteht in solchen Passagen, dass "So long, Luise" mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde.
Andere Male geht es nicht so gut. Die Abschweifungen sind zu systematisch, die Originalität zu gesucht, die Abweichung wird spürbar herbeigesehnt: Das wird vorhersehbar, ermüdet, und ungefähr auf der Hälfte stellt sich eine gewisse Erschlaffung ein. Als Minard dann ins Märchenhafte abhebt, ist der Faden nur noch leicht gespannt: Dieser letzte Wille will zu viel und ist nicht genug. Oder: Auch Exzesse wollen sorgfältig dosiert sein. Erst als "So long, Luise" in die Zielgerade donnert und ein dekadentes Fest anlässlich der "Silbernen Antihochzeit" des unkonventionellen Paares inszeniert, wird es noch einmal prickelnd. Da wird Drappier zéro dosage zur Eröffnung ausgeschenkt und die Gästeschar mit Wachtelkoteletts in Sauerkirschgelee sowie ganzen Drosseln verwöhnt - vor allem aber werden endlich Blutwürste verspeist, die dank Pilzzutaten in den Kollektivrausch führen. Sodom und Gomorrha in den Schweizer Bergen, das ist eine Ausschweifung, die Freude macht und den Leser mit dem nicht immer gut kalibrierten Band versöhnt.
NIKLAS BENDER
Céline Minard: "So long, Luise". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 254 S., geb., 22,- [Euro].
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