Dr. Baudoin fühlt sich so hilflos wie unter Aliens, wenn er erschöpft in die abendliche Rush-Hour seiner Familie (berufstätige Eltern, Tochter, Sohn, Tochter) platzt. Vom häuslichen Lärmpegel überfordert fragt der Allgemeinarzt sich, warum seine Kinder, die er doch früher vergötterte, nun am
liebsten jedes für sich vor dem Computer hocken. MSN, Onlinespiele, das volle Programm. Baudoin fühlt sich…mehrDr. Baudoin fühlt sich so hilflos wie unter Aliens, wenn er erschöpft in die abendliche Rush-Hour seiner Familie (berufstätige Eltern, Tochter, Sohn, Tochter) platzt. Vom häuslichen Lärmpegel überfordert fragt der Allgemeinarzt sich, warum seine Kinder, die er doch früher vergötterte, nun am liebsten jedes für sich vor dem Computer hocken. MSN, Onlinespiele, das volle Programm. Baudoin fühlt sich ausgebrannt; seine redseligsten Patienten schiebt er am liebsten an seinen jungen Assisten Chasseloup ab. Doch wenn ängstliche Patienten lieber bei Dr. Chasseloup bleiben wollen, weil er sich Zeit für sie nimmt, ist es dem Chef wieder nicht recht. Die 17-jährige Violaine Baudoin vermutet, dass sie vom ersten eher widerwilligen Sex "mit Aufpassen" schwanger geworden ist. Ein Schwangerschaftstest zeigt unübersehbar als Ergebnis positiv, doch Violaine traut sich nicht, ihrem in Gedanken stets abwesenden Vater und Hausarzt das Ergebnis mitzuteilen. Als Violaine und ihre Freundin Adelaide jünger waren, dachten sie sich gern Namen für die Kinder aus, die sie später haben wollten - die eine wünschte sich sechs, die andere gleich acht. Ein Jahr vor dem Abitur muss Violaine nun entscheiden, ob sie von einem Jungen ein Kind möchte, mit dem sie geschlafen hat, damit er sie nicht zickig findet. Violaine ist übel, ihr Körper fühlt sich fremd an. Abtreiben? - Nein. Ihr Kind zur Welt bringen? - Auch nein. Einen Rat vom eigenen Vater? - Ebenfalls nein. - Freundin Adelaide ergreift die Initiative und schleppt Violaine zu ihrer eigenen Ärztin (die keine Gynäkologin ist). Die putzt die junge Patientin forsch herunter. Ein Termin im Zentrum für Familienplanung, das ein armseliges Dasein in einer abgelegenen Ecke eines Krankenhauses fristet, endet ähnlich katastrophal. Die Mädchen haben den Tag erwischt, an dem nur die Eheberaterin Dienst hat. Die Beraterin Annie nähert sich dem Problem auf Umwegen; auch hier fühlt sich Violaine nicht ernstgenommen. Während Vater Baudoin erst durch einen Alptraum aus seiner familienbezogenen Lethargie geweckt wird, hat seine älteste Tochter längst einen Termin für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verabredet. In genau diesem Zentrum für Familienplanung arbeitet Chasseloup ohne Wissen seines Chefs an zwei Nachmittagen der Woche. Für Violaine wird dieser Zufall lebensrettend sein; denn beim Schwangerschaftsabbruch kommt es zu Komplikationen. Das ernüchternde Fazit aus Violaines Erlebnissen: Verlass' dich nicht auf Erwachsene; denn sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Helfen wird dir im Notfall zuerst deine gleichaltrige Freundin. Das Beratungs-Desaster bleibt leider unkommentiert und die märchenhafte Auflösung der Verwicklungen scheint eher Wunschvorstellung einer älteren Autorin zu sein. - Marie-Aude Murail trifft die Atmosphäre in einer Familie, in der alle gestresst aneinander vorbeihetzen, auf den Punkt und zeigt dabei verblüffenden Sprachwitz, der eher Erwachsene als Jugendliche schmunzeln lassen wird. Das Thema Schwangerschaftsabbruch, die Übermacht erwachsener Protagonisten und die Sprache des Textes richten sich m. A. an routinerte Leser, die sich unter "Niederkommen" oder "unpässlich sein" einer Frau noch etwas vorstellen können. Für den Ethikunterricht oder im Original (La fille du Docteur Baudoin) im Französisch-Unterricht kann ich mir die Geschichte sehr gut vorstellen. Warum französischen Jugendlichen anspruchsvolle Themen der Jugendliteratur in sehr viel jüngerem Alter als deutschen Lesern zumutbar sind, ist eine interessante Frage. - Abweichend von der Altersempfehlung des Verlags und der Artikelbeschreibung empfehle ich das Buch erst ab 16 Jahren.