Nicht erst seit seiner Erkrankung an Lungenkrebs hat Christoph Schlingensief alles Private öffentlich gemacht. Er lässt uns alles wissen. Seine Schmerzen, seinen Husten, seine Verzweiflung, seinen Zorn – sofort hat er es umgesetzt in ein Theaterstück, das zugleich fasziniert und abschreckt, und in ein Buch, ein sehr privates, nun öffentliches Krankentagebuch. (Elke Heidenreich)
Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken.
Wie weiterleben, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung lässt uns Christoph Schlingensief teilhaben an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott, nach der Liebe zum Leben.
Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss - ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint.
Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott - fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?
Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen - und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.
Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken.
Wie weiterleben, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung lässt uns Christoph Schlingensief teilhaben an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott, nach der Liebe zum Leben.
Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss - ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint.
Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott - fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?
Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen - und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2009Ich gehe mit meiner Narbe spazieren
In seinem Krebstagebuch beschreibt Christoph Schlingensief ein Schicksal, an dem Millionen leiden. Wir lesen, wie es gelingen kann, die Erkrankung von außen zu betrachten.
Kann man diese Figur, diesen "Halligalli-Christoph" (Schlingensief über Schlingensief), mal einen Augenblick aus dem verschlingenden Betrieb lösen, in dem sie steht? Kann man einen Augenblick mal aufhören, über erlaubte und unerlaubte Inszenierungen zu reden (ein Christoph Schlingensief ist kein Dieter Althaus, ein Regisseur und Aktionskünstler kein Politiker)?
Kann man, mit anderen Worten, dieses Buch, dieses Tagebuch einer Krebserkrankung (Titel: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" bei Kiepenheuer & Witsch), wirken lassen als das, was es ist: als eine ganz unerhörte Art, "normal" über Krankheit und Tod zu sprechen. "Bis vor kurzem habe ich nur über die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens geredet oder habe sie simuliert, indem ich irgendwelche Leute auf der Bühne oder vor der Kamera mit roter Farbe beschmissen habe. Diesmal ist der Kontakt authentisch gewesen." Der Krebs entfaltet in diesem Buch eine derart präsentische Wucht, dass man sich scheut zu sagen: Das ist ein Buch über die Themen Krankheit und Tod. Das ist kein Themenbuch, das ist ein Protokoll, das den Gesunden in die Defensive bringt. Denn der Gesunde bringt es fertig, Krankheit und Tod zu ignorieren. Er, der Gesunde, ist es, dem eine Lungenhälfte fehlt, wenn er sein Leben nicht vom Leiden her zu denken vermag - von der Möglichkeit her, nicht zu sein.
Schlingensief sagt das so: "Man kann versuchen, die Verblödung, mit der Krankheit, Leiden, Sterben und Tod in unserer Gesellschaft diskutiert wird, wenigstens im Kleinen ein wenig aufzuhalten. Denn gequatscht wird ja ununterbrochen, das ist ja gar nicht zu fassen, wie viel Blödsinn geredet und geschrieben wird übers Dahinvegetieren, über die Würde, die angeblich verlorengeht, wenn man nicht mehr allein scheißen gehen kann oder was weiß ich. Was sind denn das für armselige Vorstellungen von Freiheit und Würde? Man muss sich doch mal ernsthaft über den Begriff des Leidens Gedanken machen und sich fragen, was das eigentlich für ein Moment ist, an dem man wirklich leidet."
Wie nah alles beieinanderliegt: Verzweiflung, Pathos, Euphorie, große Töne spucken und niederdrückende Erwartung der Dämonen, Witz, unbändiger Witz. "Na gut, ich spucke jetzt große Töne. Wenn es mir morgen mit dem Darm wieder schlechter geht oder irgendetwas anderes passiert, dann werde ich bestimmt wieder genug Gründe haben, das anders zu sehen. Dass diese Stimmungen so nah beieinanderliegen, ist etwas, was zu begreifen unglaublich wichtig ist." Weil es jede einzelne dieser Stimmungen relativiert, wenn man weiß, dass sie gleich wieder umschlägt, dass es im Denken keine stabile Orientierung gibt. "Auf dass die kreisenden Gedanken endlich ihren Grund finden" heißt das Motto des Buches, und es scheint so, als verbuche Schlingensief dies als größten Gewinn seiner Krankheit: dass es ihm mitten im Taumel der Stimmungen und Gedanken gelingt, sich von der eigenen "Beurteilungsmaschine", die auf Hochtouren läuft, loszumachen.
Was tritt an ihre Stelle? Ein neuer Blick, der alles ansieht, als sehe er es zum ersten Mal: das Essen; die Freundin; die vielen verpassten und jetzt scharf in den Blick genommenen Gelegenheiten, "Sinnvolles" zu tun (das heruntergekommene Wort "Sinn" glänzt in diesem Buch als Vokabel, die Respekt gebietet und ein Sehnen auslöst). Schlingensiefs "Kampfschrift für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens" liest sich wie ein brachialer Appell, aus der Narkose zu erwachen. Narkotisiert vom eigenen Bedeutungsgefühl; vom Panikgefühl, ins Nichts zurückzusinken; von der Anstrengung, auf der Lauer liegen zu müssen - Schlingensief lässt uns zusehen, wie er im Krankenhaus aus den Narkosen seines gesunden Lebens erwacht.
Die Einsichten, die er beim Aufwachen hat, sind anrührend undramatisch, bezwingend konkret: "Ich kann und muss aufhören, nur von mir auszugehen. All diese Fragen: Wozu soll mir das dienen? Was ist das? Was meinen die damit?, sind gar nicht wichtig. Das Thema ist: Was erlebt gerade Aino? Was erlebt gerade meine Mutter, oder was hat meine Mutter mit meinem Vater erlebt? Was erlebt Rosi mit Werner? Das sind alles Beziehungen, wo ich mal umdenken muss: Nicht der Leidende ist der, der eine Prüfung macht, sondern der, der auf den Leidenden trifft." Das wirkt nicht abgestanden, sondern so, als hätte man es noch nie gehört - ähnlich, wie Schlingensief von sich sagt, er schaue aus dem Fenster "und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen".
Und natürlich verkneift sich der Kranke nicht seine Inszenierungsphantasien. Für ein Filmprojekt ist ihm "schon ein toller Titel eingefallen: ,Ich gehe mit meiner Narbe spazieren im Wald'. Und dann machen wir Fotos, von mir und meinen Freunden, vielleicht auch nackt, ohne Scham, aber mit einem gewissen Pathos, was weiß ich." Man kann das sehr katholisch finden: dass die Dinge nicht rund gedacht werden, sondern mit einem "Was weiß ich?" zur Fülle finden. Welchem Theologen stünden nicht die Haare zu Berge, wenn hier "Jesus, Maria und Gott" (!) als die unverwüstlichen Schutzheiligen beschworen werden? Aber darauf kommt es nicht an, das Krebstagebuch ist kein Lebenskunst-Fibelchen mit wissenschaftlichem Beirat. Durch alle Blitze hindurch, die Schlingensief gegen Himmel und Hölle schleudert, wird doch klar: Dieser Mann steht nicht mit dem Rücken zur Wand, dieser Mann hat den Rücken frei. Er glaubt - und weiß selbstverständlich nicht, warum. Niemand kann so ehrfürchtig mit Gott Humbug treiben wie Schlingensief - auf der Bühne wie im Krankenhaus.
Wie es gehen kann, "die Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten", steht in diesem Krebstagebuch. "Vielleicht hilft es einigen, diese Aufzeichnungen zu lesen", schreibt der Autor im Vorwort. "Denn es geht hier nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen." Ein Millionenschicksal, gewiss. Aber dieses Millionenschicksal hat nun eine Sprache gefunden, die keine klinische Sondersprache ist, sondern krachend, lachend und wimmernd den Schock in Worte fasst.
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Krebstagebuch beschreibt Christoph Schlingensief ein Schicksal, an dem Millionen leiden. Wir lesen, wie es gelingen kann, die Erkrankung von außen zu betrachten.
Kann man diese Figur, diesen "Halligalli-Christoph" (Schlingensief über Schlingensief), mal einen Augenblick aus dem verschlingenden Betrieb lösen, in dem sie steht? Kann man einen Augenblick mal aufhören, über erlaubte und unerlaubte Inszenierungen zu reden (ein Christoph Schlingensief ist kein Dieter Althaus, ein Regisseur und Aktionskünstler kein Politiker)?
Kann man, mit anderen Worten, dieses Buch, dieses Tagebuch einer Krebserkrankung (Titel: "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" bei Kiepenheuer & Witsch), wirken lassen als das, was es ist: als eine ganz unerhörte Art, "normal" über Krankheit und Tod zu sprechen. "Bis vor kurzem habe ich nur über die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens geredet oder habe sie simuliert, indem ich irgendwelche Leute auf der Bühne oder vor der Kamera mit roter Farbe beschmissen habe. Diesmal ist der Kontakt authentisch gewesen." Der Krebs entfaltet in diesem Buch eine derart präsentische Wucht, dass man sich scheut zu sagen: Das ist ein Buch über die Themen Krankheit und Tod. Das ist kein Themenbuch, das ist ein Protokoll, das den Gesunden in die Defensive bringt. Denn der Gesunde bringt es fertig, Krankheit und Tod zu ignorieren. Er, der Gesunde, ist es, dem eine Lungenhälfte fehlt, wenn er sein Leben nicht vom Leiden her zu denken vermag - von der Möglichkeit her, nicht zu sein.
Schlingensief sagt das so: "Man kann versuchen, die Verblödung, mit der Krankheit, Leiden, Sterben und Tod in unserer Gesellschaft diskutiert wird, wenigstens im Kleinen ein wenig aufzuhalten. Denn gequatscht wird ja ununterbrochen, das ist ja gar nicht zu fassen, wie viel Blödsinn geredet und geschrieben wird übers Dahinvegetieren, über die Würde, die angeblich verlorengeht, wenn man nicht mehr allein scheißen gehen kann oder was weiß ich. Was sind denn das für armselige Vorstellungen von Freiheit und Würde? Man muss sich doch mal ernsthaft über den Begriff des Leidens Gedanken machen und sich fragen, was das eigentlich für ein Moment ist, an dem man wirklich leidet."
Wie nah alles beieinanderliegt: Verzweiflung, Pathos, Euphorie, große Töne spucken und niederdrückende Erwartung der Dämonen, Witz, unbändiger Witz. "Na gut, ich spucke jetzt große Töne. Wenn es mir morgen mit dem Darm wieder schlechter geht oder irgendetwas anderes passiert, dann werde ich bestimmt wieder genug Gründe haben, das anders zu sehen. Dass diese Stimmungen so nah beieinanderliegen, ist etwas, was zu begreifen unglaublich wichtig ist." Weil es jede einzelne dieser Stimmungen relativiert, wenn man weiß, dass sie gleich wieder umschlägt, dass es im Denken keine stabile Orientierung gibt. "Auf dass die kreisenden Gedanken endlich ihren Grund finden" heißt das Motto des Buches, und es scheint so, als verbuche Schlingensief dies als größten Gewinn seiner Krankheit: dass es ihm mitten im Taumel der Stimmungen und Gedanken gelingt, sich von der eigenen "Beurteilungsmaschine", die auf Hochtouren läuft, loszumachen.
Was tritt an ihre Stelle? Ein neuer Blick, der alles ansieht, als sehe er es zum ersten Mal: das Essen; die Freundin; die vielen verpassten und jetzt scharf in den Blick genommenen Gelegenheiten, "Sinnvolles" zu tun (das heruntergekommene Wort "Sinn" glänzt in diesem Buch als Vokabel, die Respekt gebietet und ein Sehnen auslöst). Schlingensiefs "Kampfschrift für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens" liest sich wie ein brachialer Appell, aus der Narkose zu erwachen. Narkotisiert vom eigenen Bedeutungsgefühl; vom Panikgefühl, ins Nichts zurückzusinken; von der Anstrengung, auf der Lauer liegen zu müssen - Schlingensief lässt uns zusehen, wie er im Krankenhaus aus den Narkosen seines gesunden Lebens erwacht.
Die Einsichten, die er beim Aufwachen hat, sind anrührend undramatisch, bezwingend konkret: "Ich kann und muss aufhören, nur von mir auszugehen. All diese Fragen: Wozu soll mir das dienen? Was ist das? Was meinen die damit?, sind gar nicht wichtig. Das Thema ist: Was erlebt gerade Aino? Was erlebt gerade meine Mutter, oder was hat meine Mutter mit meinem Vater erlebt? Was erlebt Rosi mit Werner? Das sind alles Beziehungen, wo ich mal umdenken muss: Nicht der Leidende ist der, der eine Prüfung macht, sondern der, der auf den Leidenden trifft." Das wirkt nicht abgestanden, sondern so, als hätte man es noch nie gehört - ähnlich, wie Schlingensief von sich sagt, er schaue aus dem Fenster "und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen".
Und natürlich verkneift sich der Kranke nicht seine Inszenierungsphantasien. Für ein Filmprojekt ist ihm "schon ein toller Titel eingefallen: ,Ich gehe mit meiner Narbe spazieren im Wald'. Und dann machen wir Fotos, von mir und meinen Freunden, vielleicht auch nackt, ohne Scham, aber mit einem gewissen Pathos, was weiß ich." Man kann das sehr katholisch finden: dass die Dinge nicht rund gedacht werden, sondern mit einem "Was weiß ich?" zur Fülle finden. Welchem Theologen stünden nicht die Haare zu Berge, wenn hier "Jesus, Maria und Gott" (!) als die unverwüstlichen Schutzheiligen beschworen werden? Aber darauf kommt es nicht an, das Krebstagebuch ist kein Lebenskunst-Fibelchen mit wissenschaftlichem Beirat. Durch alle Blitze hindurch, die Schlingensief gegen Himmel und Hölle schleudert, wird doch klar: Dieser Mann steht nicht mit dem Rücken zur Wand, dieser Mann hat den Rücken frei. Er glaubt - und weiß selbstverständlich nicht, warum. Niemand kann so ehrfürchtig mit Gott Humbug treiben wie Schlingensief - auf der Bühne wie im Krankenhaus.
Wie es gehen kann, "die Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten", steht in diesem Krebstagebuch. "Vielleicht hilft es einigen, diese Aufzeichnungen zu lesen", schreibt der Autor im Vorwort. "Denn es geht hier nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen." Ein Millionenschicksal, gewiss. Aber dieses Millionenschicksal hat nun eine Sprache gefunden, die keine klinische Sondersprache ist, sondern krachend, lachend und wimmernd den Schock in Worte fasst.
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2009Der Dreckskerl da drinnen
Ein begrenzt verhandelbares Leben: An diesem Montag erscheint Christoph Schlingensiefs bewegendes Tagebuch über seine Krebserkrankung
Auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus denkt Christoph Schlingensief weiter darüber nach, sein Leben zu ändern: „Die zentrale Frage wird sein, wie ich diesen alten Halligalli-Christoph mit seinem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und überall dabei zu sein, umbauen kann”, schreibt er. An einem Tag im Februar 2008 liest er auf der Suche nach einem Haus auf dem Land ein Inserat im Internet, in dem es heißt: ,,Begrenzt bis 2011, verhandelbar.” Und Schlingensief denkt: ,,das geht doch wunderbar. Länger muss es doch gar nicht sein. Wenn das nicht zum Heulen ist.”
Dem Arzt, der ihm einen Lungenflügel und einen Teil des Zwerchfells entfernt hat, schenkt er ein Buch mit ,,Arbeitsfotos von mir”, ein Schlingensief-Buch also, wie es kaum anders sein kann bei einem Künstler, dem alles, was er berührt, zum Teil seiner selbst wird, Fleisch von seinem Fleisch. Christoph Schlingensief hat die Trennung zwischen Kunst und Leben noch nie akzeptiert, hat immer schon geradezu zwanghaft an den Stäben des goldenen Käfigs der Kunstfreiheit gerüttelt. Als im Januar 2008 ein bösartiger Tumor in seiner Lunge entdeckt wurde, konnte es nicht anders sein, als dass auch diese Erkrankung in jene „Verwertungsanlage Schlingensief junior” eingehen würde, in der er seine Biographie kannibalisiert und seine Haut zu Markte getragen hat.
Raus aus dem Rambazamba
,,Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Und ich arbeite am erweiterten Krankenbegriff”, schreibt Schlingensief in Anlehnung an Joseph Beuys. Nun liegen die Protokolle, die er dabei auf Tonbänder gesprochen hat, unter dem Titel ,,So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!” in Buchform vor. Auszüge aus dem Buch wurden bereits im Herbst vergangenen Jahres im Magazin dieser Zeitung veröffentlicht, die Tonband-Aufzeichnungen dienten auch als Textgrundlage für die Theater-Trilogie, deren erster Teil bei der Ruhrtriennale uraufgeführt und mit der Ready-made-Oper ,,Mea Culpa” im März am Wiener Burgtheater vollendet wurde. So hatte das Krebs-Tagebuch, bevor man es lesen konnte, bereits eine ganze Verwertungskette sowie verschiedene Umformungen und Überschreibungen durchlaufen.
Doch trotz all dieser Vorwegnahmen, über deren maßlose Egomanie man sich empören kann angesichts der Tausende, die jeden Tag sterben, ohne ein Echo zu erzeugen, trotz des Tremolos der narzisstischen Kränkung, vom Krebs gefressen zu werden – trotz aller pathetischen Überhöhung seiner Krankheit ins Messianische („Gott wird sagen: Was ist das denn für ein Weichei?”) und aller Koketterie mit der Todesverfallenheit („Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens”) ist dieses Buch eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Frühjahres.
Der Krebs erwischt Christoph Schlingensief in der Phase höchster Lebensbeschleunigung, als Vollbremsung seines rastlosen Schaffens. Liebevoll und von beißender Sehnsucht gequält, verspottet er amüsant sein vormaliges Ich als aufgeregte Skandal- und Kitschnudel des Kunstbetriebs, diese ,,Kaffeeklatsch-Hektik” überall ,,mitzujückeln”, das unausgesetztes „Rambazamba” mit erhöhtem „Trubelfaktor”, um festzustellen: „der Rummelplatz bleibt jetzt einfach mal geschlossen”. Er schwört sich, kürzer zu treten, will die geplante Braunfels-Oper in Berlin sausen lassen, und je inständiger er beteuert, er werde die Regie absagen, desto deutlicher wird, dass er es nicht tun wird. Noch vom Krankenlager aus leitet er schließlich die Proben per Fernanweisungen, weil er eben doch nicht dafür geschaffen ist, „an irgendeinem See zu sitzen und nichts zu tun”, und die Arbeit braucht: „Ich habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen Bock auf Harfe spielen und singen und irgendwo auf einer Wolke herumhocken.”
Zutiefst kindlich ist der Spieltrieb, der Schlingensiefs Kunstwollen befeuert, und kindlich ist auch die ungeschützte Trauer über sein Schicksal. Der Krebs ist für Schlingensief das Ende einer ewig geglaubten Kindheit. Für Walter Benjamin beginnt das Erwachsenwerden mit der Erfahrung des Kindes, dass es nicht zaubern kann, nicht des einzig wahren Glücks teilhaftig ist, mit den Geistern im Bunde zu sein. Schlingensief schreibt: „Am besten habe ich mich gefühlt, wenn die Geister in Scharen geflogen kamen, . . . dann bin ich wohl einfach mitgeflogen.” Dieser Zauber ist ein Abwehrzauber gegen das Böse in der Welt, und er zeugt von einer unendlichen Unschuld.
Peinlich ist Schlingensief noch nie etwas gewesen, weil sein Zeigebedürfnis schon je unschuldig war, egal ob er Neonazis und Behinderte auf die Bühne oder Asylanten auf den Wiener Opernplatz holte, ob er aus der geographischen Lage der KZ’s ein Quiz macht und seinem Publikum Pornofilme zeigt oder unerträgliche Gewalt, ob er Jürgen Möllemann zuhause auflauerte oder auf der Kasseler Documenta forderte „Tötet Helmut Kohl!”. Einen Berufsprovokateur hat man ihn dafür genannt, ein enfant terrible. Vor der letzten und größten Provokation, der des Sterbens, verliert die Scham ihre letzte Macht, wenn er mit seinen Eltern hadert oder mit seinem Gott, wenn er an Selbstmord denkt und sich eine Wohnzimmer-Guillotine herbeiwünscht oder daran, von Schmerzmitteln stillgestellt, nach Afrika zu fahren. An den Traum, dort ein Opernhaus zu bauen, eine Art Arche als Urzelle einer besseren Welt, glaubt er so inständig wie an ,,meine drei Leute da oben”: Maria, Jesus und Gott, „mit diesen dreien möchte ich auf alle Fälle weiterleben.”
Es ist gut, dass das Buch den Herzschlag der mündlichen Rede bewahrt hat, die Unmittelbarkeit einer Stimme, die sich mal hysterisch überschlägt, mal verdunkelt, manchmal ganz dünn wird vor Verzweiflung und dann bricht (,,Ach, ist das alles eine Scheiße! Ist das alles eine Scheiße!” ), das Schluchzen und Greinen, den Theaterdonner und das Brusttrommeln, das Schwärmen und Schwelgen. Man begreift, dass für Christoph Schlingensief sein Gestaltungsdrang, sein Mittelungsbedürfnis etwas so Ursprüngliches ist wie Einatmen und Ausatmen. Dieses Buch ist deshalb ein großes Ringen nach Luft von einem, der nur noch die halbe Lunge hat und lange fürchten musste, dass man ihm sein wichtigstes Organ, den Stimmbandnerv durchtrennt.
Merkwürdigerweise klingt diese Stimme fröhlich, selbst im größten Jammer; weil sie ansingt gegen den ,,Selbstüberwachungsstaat”, der die Wunden unter ,,meterdicken Verbänden” versteckt: „Wer seine Wunde zeigt, dessen Seele wird gesund. Denn der Krebs ist weg, aber der Einschnitt bleibt.” Schlingensief beschimpft den Krebs als „Dreckskerl” da drinnen. Indem er von seiner Krankheit redet wie über eine Person, ,,erspricht” er sich sein Leben und die Möglichkeit, ,,im eigenen Bild sterben zu dürfen”.
Richard Wagners Teufelsmusik
Im Verlauf der Lektüre wird klar, dass hier das oft so penetrante, enervierende Ich-Sagen zur Voraussetzung dafür wird, von sich selbst abzusehen. Hier spricht nicht mehr der vollautomatische Narziss, der sich entblößt, sondern die Selbstlosigkeit, die sich berührbar macht. Dadurch vollzieht sich eine Schubumkehr. Indem er seine Angst und seinen Schmerz teilt, stellt Schlingensief sie als Ernergieüberschuss zur Verfügung, als Beuys’schen ,,Wärmekuchen”. Und dafür muss man ihn lieben.
2004, als Schlingensief in Bayreuth ,,Parsifal” inszenierte, fürchtete er, über diese Inszenierung krank zu werden, besessen von der Idee der Krankheit als rauschhafter Entfesselung. Als die histologischen Ergebnisse zeigen, dass der Krebs tatsächlich in der ,,Parsifal”-Zeit ausgebrochen ist, fühlt sich Christoph Schlingensief bestätigt in seinem Glauben, „dass ich mich von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will”. Er habe sich an dieser „Todesmusik” infiziert, „das ist Giftzeugs, was der Wagner da verspritzt har. Das ist Teufelsmusik”. Das klingt wie schlimme Genie-Romantik, aber wenn Schlingensief beschreibt, wie er beim Hören der ,,Tristan”-Ouvertüre daheim von der Musik niedergestreckt wird wie von einem epileptischen Anfall, scheint es, als besitze er tatsächlich keine kulturellen Abwehrkräfte, keinen Bodyguard; durch diese totale Berührbarkeit wird sein Buch zu einem erschütternden Dokument, zu einer großen Künstler-Autobiographie.
Einmal trifft er im Krankenhaus eine besorgte Mutter, deren Kind immer nur auf den Zehenspitzen läuft. Schlingensief tröstet sie, das Kind sei einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist und ein Genie. ,,Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können.” Alexander Kluge spricht aus, was der Leser ohnehin weiß: Christoph Schlingensief selbst ist dieses Kind. CHRISTOPHER SCHMIDT
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 256 Seiten, 18, 95 Euro.
Auf und vor der großen Leinwand: Christoph Schlingensief Anfang Februar 2009 bei der Eröffnung der Filmfestspiele in Berlin Foto: Michael Kappeler / ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ein begrenzt verhandelbares Leben: An diesem Montag erscheint Christoph Schlingensiefs bewegendes Tagebuch über seine Krebserkrankung
Auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus denkt Christoph Schlingensief weiter darüber nach, sein Leben zu ändern: „Die zentrale Frage wird sein, wie ich diesen alten Halligalli-Christoph mit seinem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und überall dabei zu sein, umbauen kann”, schreibt er. An einem Tag im Februar 2008 liest er auf der Suche nach einem Haus auf dem Land ein Inserat im Internet, in dem es heißt: ,,Begrenzt bis 2011, verhandelbar.” Und Schlingensief denkt: ,,das geht doch wunderbar. Länger muss es doch gar nicht sein. Wenn das nicht zum Heulen ist.”
Dem Arzt, der ihm einen Lungenflügel und einen Teil des Zwerchfells entfernt hat, schenkt er ein Buch mit ,,Arbeitsfotos von mir”, ein Schlingensief-Buch also, wie es kaum anders sein kann bei einem Künstler, dem alles, was er berührt, zum Teil seiner selbst wird, Fleisch von seinem Fleisch. Christoph Schlingensief hat die Trennung zwischen Kunst und Leben noch nie akzeptiert, hat immer schon geradezu zwanghaft an den Stäben des goldenen Käfigs der Kunstfreiheit gerüttelt. Als im Januar 2008 ein bösartiger Tumor in seiner Lunge entdeckt wurde, konnte es nicht anders sein, als dass auch diese Erkrankung in jene „Verwertungsanlage Schlingensief junior” eingehen würde, in der er seine Biographie kannibalisiert und seine Haut zu Markte getragen hat.
Raus aus dem Rambazamba
,,Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Und ich arbeite am erweiterten Krankenbegriff”, schreibt Schlingensief in Anlehnung an Joseph Beuys. Nun liegen die Protokolle, die er dabei auf Tonbänder gesprochen hat, unter dem Titel ,,So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!” in Buchform vor. Auszüge aus dem Buch wurden bereits im Herbst vergangenen Jahres im Magazin dieser Zeitung veröffentlicht, die Tonband-Aufzeichnungen dienten auch als Textgrundlage für die Theater-Trilogie, deren erster Teil bei der Ruhrtriennale uraufgeführt und mit der Ready-made-Oper ,,Mea Culpa” im März am Wiener Burgtheater vollendet wurde. So hatte das Krebs-Tagebuch, bevor man es lesen konnte, bereits eine ganze Verwertungskette sowie verschiedene Umformungen und Überschreibungen durchlaufen.
Doch trotz all dieser Vorwegnahmen, über deren maßlose Egomanie man sich empören kann angesichts der Tausende, die jeden Tag sterben, ohne ein Echo zu erzeugen, trotz des Tremolos der narzisstischen Kränkung, vom Krebs gefressen zu werden – trotz aller pathetischen Überhöhung seiner Krankheit ins Messianische („Gott wird sagen: Was ist das denn für ein Weichei?”) und aller Koketterie mit der Todesverfallenheit („Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens”) ist dieses Buch eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Frühjahres.
Der Krebs erwischt Christoph Schlingensief in der Phase höchster Lebensbeschleunigung, als Vollbremsung seines rastlosen Schaffens. Liebevoll und von beißender Sehnsucht gequält, verspottet er amüsant sein vormaliges Ich als aufgeregte Skandal- und Kitschnudel des Kunstbetriebs, diese ,,Kaffeeklatsch-Hektik” überall ,,mitzujückeln”, das unausgesetztes „Rambazamba” mit erhöhtem „Trubelfaktor”, um festzustellen: „der Rummelplatz bleibt jetzt einfach mal geschlossen”. Er schwört sich, kürzer zu treten, will die geplante Braunfels-Oper in Berlin sausen lassen, und je inständiger er beteuert, er werde die Regie absagen, desto deutlicher wird, dass er es nicht tun wird. Noch vom Krankenlager aus leitet er schließlich die Proben per Fernanweisungen, weil er eben doch nicht dafür geschaffen ist, „an irgendeinem See zu sitzen und nichts zu tun”, und die Arbeit braucht: „Ich habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen Bock auf Harfe spielen und singen und irgendwo auf einer Wolke herumhocken.”
Zutiefst kindlich ist der Spieltrieb, der Schlingensiefs Kunstwollen befeuert, und kindlich ist auch die ungeschützte Trauer über sein Schicksal. Der Krebs ist für Schlingensief das Ende einer ewig geglaubten Kindheit. Für Walter Benjamin beginnt das Erwachsenwerden mit der Erfahrung des Kindes, dass es nicht zaubern kann, nicht des einzig wahren Glücks teilhaftig ist, mit den Geistern im Bunde zu sein. Schlingensief schreibt: „Am besten habe ich mich gefühlt, wenn die Geister in Scharen geflogen kamen, . . . dann bin ich wohl einfach mitgeflogen.” Dieser Zauber ist ein Abwehrzauber gegen das Böse in der Welt, und er zeugt von einer unendlichen Unschuld.
Peinlich ist Schlingensief noch nie etwas gewesen, weil sein Zeigebedürfnis schon je unschuldig war, egal ob er Neonazis und Behinderte auf die Bühne oder Asylanten auf den Wiener Opernplatz holte, ob er aus der geographischen Lage der KZ’s ein Quiz macht und seinem Publikum Pornofilme zeigt oder unerträgliche Gewalt, ob er Jürgen Möllemann zuhause auflauerte oder auf der Kasseler Documenta forderte „Tötet Helmut Kohl!”. Einen Berufsprovokateur hat man ihn dafür genannt, ein enfant terrible. Vor der letzten und größten Provokation, der des Sterbens, verliert die Scham ihre letzte Macht, wenn er mit seinen Eltern hadert oder mit seinem Gott, wenn er an Selbstmord denkt und sich eine Wohnzimmer-Guillotine herbeiwünscht oder daran, von Schmerzmitteln stillgestellt, nach Afrika zu fahren. An den Traum, dort ein Opernhaus zu bauen, eine Art Arche als Urzelle einer besseren Welt, glaubt er so inständig wie an ,,meine drei Leute da oben”: Maria, Jesus und Gott, „mit diesen dreien möchte ich auf alle Fälle weiterleben.”
Es ist gut, dass das Buch den Herzschlag der mündlichen Rede bewahrt hat, die Unmittelbarkeit einer Stimme, die sich mal hysterisch überschlägt, mal verdunkelt, manchmal ganz dünn wird vor Verzweiflung und dann bricht (,,Ach, ist das alles eine Scheiße! Ist das alles eine Scheiße!” ), das Schluchzen und Greinen, den Theaterdonner und das Brusttrommeln, das Schwärmen und Schwelgen. Man begreift, dass für Christoph Schlingensief sein Gestaltungsdrang, sein Mittelungsbedürfnis etwas so Ursprüngliches ist wie Einatmen und Ausatmen. Dieses Buch ist deshalb ein großes Ringen nach Luft von einem, der nur noch die halbe Lunge hat und lange fürchten musste, dass man ihm sein wichtigstes Organ, den Stimmbandnerv durchtrennt.
Merkwürdigerweise klingt diese Stimme fröhlich, selbst im größten Jammer; weil sie ansingt gegen den ,,Selbstüberwachungsstaat”, der die Wunden unter ,,meterdicken Verbänden” versteckt: „Wer seine Wunde zeigt, dessen Seele wird gesund. Denn der Krebs ist weg, aber der Einschnitt bleibt.” Schlingensief beschimpft den Krebs als „Dreckskerl” da drinnen. Indem er von seiner Krankheit redet wie über eine Person, ,,erspricht” er sich sein Leben und die Möglichkeit, ,,im eigenen Bild sterben zu dürfen”.
Richard Wagners Teufelsmusik
Im Verlauf der Lektüre wird klar, dass hier das oft so penetrante, enervierende Ich-Sagen zur Voraussetzung dafür wird, von sich selbst abzusehen. Hier spricht nicht mehr der vollautomatische Narziss, der sich entblößt, sondern die Selbstlosigkeit, die sich berührbar macht. Dadurch vollzieht sich eine Schubumkehr. Indem er seine Angst und seinen Schmerz teilt, stellt Schlingensief sie als Ernergieüberschuss zur Verfügung, als Beuys’schen ,,Wärmekuchen”. Und dafür muss man ihn lieben.
2004, als Schlingensief in Bayreuth ,,Parsifal” inszenierte, fürchtete er, über diese Inszenierung krank zu werden, besessen von der Idee der Krankheit als rauschhafter Entfesselung. Als die histologischen Ergebnisse zeigen, dass der Krebs tatsächlich in der ,,Parsifal”-Zeit ausgebrochen ist, fühlt sich Christoph Schlingensief bestätigt in seinem Glauben, „dass ich mich von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will”. Er habe sich an dieser „Todesmusik” infiziert, „das ist Giftzeugs, was der Wagner da verspritzt har. Das ist Teufelsmusik”. Das klingt wie schlimme Genie-Romantik, aber wenn Schlingensief beschreibt, wie er beim Hören der ,,Tristan”-Ouvertüre daheim von der Musik niedergestreckt wird wie von einem epileptischen Anfall, scheint es, als besitze er tatsächlich keine kulturellen Abwehrkräfte, keinen Bodyguard; durch diese totale Berührbarkeit wird sein Buch zu einem erschütternden Dokument, zu einer großen Künstler-Autobiographie.
Einmal trifft er im Krankenhaus eine besorgte Mutter, deren Kind immer nur auf den Zehenspitzen läuft. Schlingensief tröstet sie, das Kind sei einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist und ein Genie. ,,Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können.” Alexander Kluge spricht aus, was der Leser ohnehin weiß: Christoph Schlingensief selbst ist dieses Kind. CHRISTOPHER SCHMIDT
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 256 Seiten, 18, 95 Euro.
Auf und vor der großen Leinwand: Christoph Schlingensief Anfang Februar 2009 bei der Eröffnung der Filmfestspiele in Berlin Foto: Michael Kappeler / ddp
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein in seiner "Nichtperfektion" zutiefst menschliches Buch, findet Rezensent Dirk Knipphals, der allerdings die Genrebezeichnung im Untertitel "Tagebuch" anficht, weil es sich hier aus seiner Sicht eher um aufgezeichnete Selbstgespräche handelt. Sichtlich rührt den Rezensenten, wie sich einer hier ein Trostnest aus Worten baut. Nie fühlt er sich bedrängt, spürt aber, dass Schlingensief nur spricht, wenn er dazu in der Lage ist. Deshalb geben dem Rezensenten eher die Leerstellen des Buchs zu denken. Das Schweigen an den Tagen der Chemotherapie zu Beispiel. Manches, beispielsweise über den von Christoph Schlingensief hergestellten Kontext zwischen seiner Bayreuther "Parzival" und seiner Erkrankung, hätte er gern genauer analysiert gelesen. Insgesamt bewundert er Schlingensiefs Buch für seinen Mut und seine Verve.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Schlingensief spricht und schreibt derart offensiv [...] es haut einem die Beine weg.« Benjamin von Stuckrad-Barre Welt am Sonntag