Im Mittelpunkt dieses Romans steht die Familiengeschichte der Autorin. Sie erinnert sich an die Eltern, Großeltern und näheren Verwandten. Was diese Menschen am meisten verbindet, ist ihre Abstammung - sie sind mitteleuropäische Juden. Auf die Erinnerung, Fakten und Familienlegenden gestützt, füllt die Gila Lustiger die Lücken in der Familienchronik mit ihrer Fantasie aus. Sie erzählt von den Gründungsmythen des Staates Israel, der Zeit der Einwanderung und der Unabhängigkeitserklärung, ihrem eigenen Heranwachsen zwischen Deutschland und Israel, von ihrem Vater, dem Auschwitz-Überlebenden, der dennoch in Deutschland blieb.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2005Roman einer Familie
Lesung mit Gila Lustiger
"Gilaleben, lies no a bissel", hätte die Großmutter wohl gesagt. Aber sie war nicht bei der Lesung der Enkeltochter im Jüdischen Gemeindezentrum, ist ja auch längst tot, doch jetzt ist sie wieder lebendig geworden, Gila Lustiger hat ihr Leben eingehaucht, die Großmutter ist eine der anrührendsten Figuren in ihrem neuen Buch "So sind wir". Ein Familienroman, wobei die Betonung auf Roman liegt, denn niemand soll glauben, daß alles so passiert ist im Hause Lustiger. Die Autorin hat vielmehr ihren Erlebnissen und Erinnerungen vieles hinzugefügt, so daß es wirklich ein Roman geworden ist, weniger im ersten Teil, dagegen sehr im zweiten, wo Gila Lustiger mit Dominique eine Kunstfigur als Gesprächspartnerin eingeführt hat, die ihr ein dialogisches Erzählen erlaubt.
Die Großmutter kann nicht mehr dabeisein, aber der Vater, Arno Lustiger, er sitzt in der ersten Reihe und hört, was die Tochter über ihn zu sagen hat. "Mein Vater las, wo immer er sich auch befinden mochte, Zeitung." Warum? "Mein Vater hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, nun hielt er sich, Zeitungen in acht Sprachen lesend, informiert." Überrumpelt ist freilich etwas zurückhaltend ausgedrückt, der Gymnasiast Arno Lustiger aus Bedzin in Polen wurde wie die anderen jüdischen Bewohner dieser Stadt von den einmarschierenden Deutschen ins Lager verschleppt; seine Schule, so hat er einmal gesagt, sei das KZ gewesen.
Es geistern viele Personen durch Gila Lustigers Familienroman, der übrigens für den Deutschen Buchpreis nominiert ist: neben der Großmutter der Großvater mütterlicherseits etwa, ein Pionier Israels und sympathisch frecher Prolet, wie er im Buch steht; natürlich auch die Mutter, vom Gatten Arno Lustiger aus dem Judenstaat nach Frankfurt geholt, wo sie den beiden Töchtern abends immer Heldengeschichten aus dem Gründerjahren Israels erzählt. Doch die heimliche Hauptfigur ist der Vater, an dem sich Gila offenbar ein halbes Leben lang abgearbeitet hat: "Mein Vater las Zeitung, um sich der Welt zu stellen, doch zeitunglesend entfloh er unserer Kinderwelt."
Mit 17 Jahren hat Gila Lustiger Frankfurt verlassen, es war eine Art Flucht vor Deutschland und ihrer Kindheit. Nie wollte die als Lektorin in Paris lebende Autorin wieder zurückkehren, doch seiner Geschichte, vor allem seiner Familiengeschichte, entflieht niemand: "Ich komme nicht los", sagt Gila Lustiger und schaut auf die erste Reihe im Gemeindezentrum, wo Zuhörer sitzen, die sie von damals kannte, als sie noch Mitglied dieser Gemeinde war. Und sie schaut auf ihren Vater - und folgt am Ende seinem Wunsch: "Lies no a bissel, Gilaleben." Also noch eine dieser komischen Geschichten aus der Frühzeit Israels, die ihre Mutter immer mit so großer Leidenschaft erzählt hat.
HANS RIEBSAMEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lesung mit Gila Lustiger
"Gilaleben, lies no a bissel", hätte die Großmutter wohl gesagt. Aber sie war nicht bei der Lesung der Enkeltochter im Jüdischen Gemeindezentrum, ist ja auch längst tot, doch jetzt ist sie wieder lebendig geworden, Gila Lustiger hat ihr Leben eingehaucht, die Großmutter ist eine der anrührendsten Figuren in ihrem neuen Buch "So sind wir". Ein Familienroman, wobei die Betonung auf Roman liegt, denn niemand soll glauben, daß alles so passiert ist im Hause Lustiger. Die Autorin hat vielmehr ihren Erlebnissen und Erinnerungen vieles hinzugefügt, so daß es wirklich ein Roman geworden ist, weniger im ersten Teil, dagegen sehr im zweiten, wo Gila Lustiger mit Dominique eine Kunstfigur als Gesprächspartnerin eingeführt hat, die ihr ein dialogisches Erzählen erlaubt.
Die Großmutter kann nicht mehr dabeisein, aber der Vater, Arno Lustiger, er sitzt in der ersten Reihe und hört, was die Tochter über ihn zu sagen hat. "Mein Vater las, wo immer er sich auch befinden mochte, Zeitung." Warum? "Mein Vater hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, nun hielt er sich, Zeitungen in acht Sprachen lesend, informiert." Überrumpelt ist freilich etwas zurückhaltend ausgedrückt, der Gymnasiast Arno Lustiger aus Bedzin in Polen wurde wie die anderen jüdischen Bewohner dieser Stadt von den einmarschierenden Deutschen ins Lager verschleppt; seine Schule, so hat er einmal gesagt, sei das KZ gewesen.
Es geistern viele Personen durch Gila Lustigers Familienroman, der übrigens für den Deutschen Buchpreis nominiert ist: neben der Großmutter der Großvater mütterlicherseits etwa, ein Pionier Israels und sympathisch frecher Prolet, wie er im Buch steht; natürlich auch die Mutter, vom Gatten Arno Lustiger aus dem Judenstaat nach Frankfurt geholt, wo sie den beiden Töchtern abends immer Heldengeschichten aus dem Gründerjahren Israels erzählt. Doch die heimliche Hauptfigur ist der Vater, an dem sich Gila offenbar ein halbes Leben lang abgearbeitet hat: "Mein Vater las Zeitung, um sich der Welt zu stellen, doch zeitunglesend entfloh er unserer Kinderwelt."
Mit 17 Jahren hat Gila Lustiger Frankfurt verlassen, es war eine Art Flucht vor Deutschland und ihrer Kindheit. Nie wollte die als Lektorin in Paris lebende Autorin wieder zurückkehren, doch seiner Geschichte, vor allem seiner Familiengeschichte, entflieht niemand: "Ich komme nicht los", sagt Gila Lustiger und schaut auf die erste Reihe im Gemeindezentrum, wo Zuhörer sitzen, die sie von damals kannte, als sie noch Mitglied dieser Gemeinde war. Und sie schaut auf ihren Vater - und folgt am Ende seinem Wunsch: "Lies no a bissel, Gilaleben." Also noch eine dieser komischen Geschichten aus der Frühzeit Israels, die ihre Mutter immer mit so großer Leidenschaft erzählt hat.
HANS RIEBSAMEN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Ein sehr lesenswertes Buch" gibt mit leichter Beklommenheit Rezensent Ernst Osterkamp zu Protokoll, das aus seiner Sicht nicht nur einen Familienroman, sondern auch die Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert erzählt. Denn einerseits hat er Bedenken gegen die starke Konzentration des Romans auf die Vaterfigur, zu deren Gunsten der Blick auf die Erzählerin selbst, ihre Gefühle, deutlich zurückzustehen haben. Andererseits sieht er in dieser Erzählökonomie das Dilemma der Erzählerin widergespiegelt, dass vor dem überwältigenden Schicksal ihres Auschwitz überlebenden Vaters jede normale Biografie, jedes Gefühl und jede andere Erfahrung zur Banalität verurteilt ist. Am Ende seiner Überlegungen akzeptiert er die erzählerische Konsequenz, die das für Gila Lustigers Familienroman hat, und zieht die Linien einer Geschichte nach, in der es für den Vater stets nur darum gegangen sei, seine Kinder vor jenem "ausgemergelten Jungen im KZ" zu schützen, der er selbst einst gewesen ist. Wie die Tochter versucht, jene unausgesprochene Gefühle in der Geschichte ihrer Familie aufzuspüren und sie in kleinen Manien, seltsamen Erinnerungsobjekten oder Fotografien entdeckt. Man spürt, wie der Rezensent beim Lesen die schmerzvolle Erfahrung der Tochter des Frankfurter Historikers Arno Lustiger ("das Buch will in jeder Zeile, dass der Leser ihn erkennt") nachzuvollziehen lernt, die mit ihrer Geschichte gegen die Überlebensgeschichte des Vaters anzuschreiben versucht, und er so aus Eindrücken, Begegnungen und Sehnsüchten jene Episodenfülle emporwachsen sieht, aus der sich für ihn ein großes Erinnerungsbild formt.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Mit bohrender Ehrlichkeit, mit Ironie und mit Humor hat sich Gila Lustiger mit ihrem 'Familienroman' von der Last ihrer Herkunft freigeschrieben." - Arte