Aufregend, wenn die Eltern auf der Flucht vor der Polizei ihre Kinder mitschleppen. Aber für die drei Geschwister verwandelt sich das Abenteuer bald in einen Albtraum. Ihre Odyssee führt sie quer durch Europa. Ein Roman wie ein Roadmovie.
Eine ebenso tragische wie komische Familiengeschichte. Vater, Mutter und drei Kinder in der pfälzischen Provinz der Achtzigerjahre. Der Autoverkäufer Jürgen und seine Frau Jutta sind verschuldet, aber glücklich. Als auf einmal das »große Geld« da ist, wandert die Familie fluchtartig nach Südfrankreich aus. Dort leben vor allem die drei Geschwister wie im Paradies, doch die Eltern benehmen sich immer seltsamer - bis ein Zufall enthüllt, dass der Vater ein Hochstapler ist. Er hat das Geld unterschlagen und bereits aufgebraucht, als sich die Schlinge enger zieht. Im letzten Moment flieht die Familie vor dem Zugriff der Behörden und die Jagd durch Europa geht weiter. Es ist ein freier Fall auf Kosten der Kinder, bis es unweigerlich zum Aufprall kommt ...
Eine ebenso tragische wie komische Familiengeschichte. Vater, Mutter und drei Kinder in der pfälzischen Provinz der Achtzigerjahre. Der Autoverkäufer Jürgen und seine Frau Jutta sind verschuldet, aber glücklich. Als auf einmal das »große Geld« da ist, wandert die Familie fluchtartig nach Südfrankreich aus. Dort leben vor allem die drei Geschwister wie im Paradies, doch die Eltern benehmen sich immer seltsamer - bis ein Zufall enthüllt, dass der Vater ein Hochstapler ist. Er hat das Geld unterschlagen und bereits aufgebraucht, als sich die Schlinge enger zieht. Im letzten Moment flieht die Familie vor dem Zugriff der Behörden und die Jagd durch Europa geht weiter. Es ist ein freier Fall auf Kosten der Kinder, bis es unweigerlich zum Aufprall kommt ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2017Im Hinterland der Illusionen
In seinem autobiografischen Debütroman „So, und jetzt kommst du“ erzählt Arno Frank hinreißend
vom Glanz und Elend eines Hochstaplers, der mit seiner Familie dem Abgrund entgegentaumelt
VON ALEX RÜHLE
Das hier ist keine einfache Räuberpistole. Sondern eine Wumme des Wahnsinns. Und um gleich noch so einem Begriff die Harmlosigkeit auszutreiben: Hochstapler, das klingt oft nach Schnurre, Bluff und Abenteuer. Dem Lebemann Felix Krull gönnt man seinen Aufstieg von Herzen und freut sich mit ihm, wenn ihm wieder ein Stück Identitätsillusionismus gelungen ist. Krull hinterlässt aber auch keine eindeutigen Opfer, im Gegenteil, die Geschädigten ziehen aus der Begegnung mit ihm jeweils wundersamen Profit. Vor allem aber kleidet Krull all seine Taten in eine liebenswert-höfliche Eleganz, die es ihm erst möglich macht, mit seiltänzerischer Leichtigkeit dem Schicksal immer neue Schnippchen zu schlagen.
Bei Jürgen Frank, man ahnt es früh, wird das nicht ganz so glatt laufen. Der gelernte Verwaltungsfachmann glaubt, wie es sich für einen echten Hochstapler gehört, von Anfang an, ihm stehe mehr zu. Er wird erwachsen, als das Wirtschaftswunder gerade erstmals ins Stottern gerät. Über den Dörfern rund um Kaiserslautern hängt eine Glocke aus Nachkriegsmief und erster BRD-Behaglichkeit. Jürgen Frank arbeitet eine Zeit lang in einem Autohaus, dann macht er sich selbständig und versucht, Wohlstandskrempel gewinnbringend weiterzuverhökern, Expander, Wagenheber, Heimtrainer. „Es steht jeden Tag ein Dummer auf“, erklärt er seinem Sohn, dem Erzähler dieses autobiografischen Romans. „Man muss sie nur finden. Oder, besser noch, sich von den Dummköpfen finden lassen.“ Wie er so großmäulig daherredet, ahnt man schon, dass das Schicksal bald zuschlagen wird. Und sicher nicht in harmloser Schnippchenform.
Eigentlich ist die Familie auf Seite 39 schon am Ende. Der erste Betrug ist aufgeflogen, die Bank hat den Franks das Haus weggenommen, die Mutter muss Tupperware-Partys zu Hause veranstalten, „damit wir wieder auf einen grünen Zweig kommen“, wie sie dem Sohn erklärt. Dem Vater aber ist ein einzelner grüner Zweig viel zu wenig, er will alles. Wozu Tupperware in Kaiserslautern, wenn man auch in Nizza leben könnte? Man muss ja nur mal das ganz große Ding drehen. Die Familie treibt in einer Art Glücksstausee, denn eines Tages, schon bald, wird das große Leben anbrechen.
Und tatsächlich, eines Nachts verfrachtet der Vater die Familie nach Südfrankreich. Das ganz große Ding sind 300 000 veruntreute D-Mark, die ab jetzt mit vereinten Kräften zum Panoramafenster rausgeworfen werden. Ehrensache, dass das Fenster Meerblick hat: „Es heißt schließlich nicht Hinterland d’Azur, sondern Côte d’Azur“, also braucht man eine Villa in den Hügeln von Antibes, mit Pool und Garten. Der Sohn wird auf eine sündhaft teure Diplomatenschule geschickt und bekommt zum ersten Schultag eine Vespa geschenkt. Die sechsjährige Schwester Jeanny hält den goldenen Montblanc-Füller des Vaters für einen Zauberstift, wie auch nicht, schließlich wird in ihrem märchenhaft neuen Leben alles, was er damit in den Kleinanzeigen der Nice Matin ankringelt, kurze Zeit später zu einem wirklichen Ding.
Arno Frank, Jahrgang 1971, erzählt diese autobiografische Geschichte in einem hinreißenden Ton. Er ist der naive Sohn, der zum Vater aufschaut und möglichst lange dessen Geschichten zu glauben versucht. Der Titel seines Debütromans ist ein Zitat: Mit „So, und jetzt bist du dran“, beendet der Vater all die Hochstaplermonologe, in denen er dem Sohn die Welt erklärt und ihn am Ende vermeintlich dazu auffordert, seine Meinung dazu zu sagen. In Wahrheit, so Frank, klang dieser Satz immer so, als würde sein Vater damit nur „einen Deckel auf die Diskussion setzen“.
Gezeigt wird das Ganze also aus der Untersicht des Heranwachsenden, erzählt wird es aber zugleich mit der Brennschärfe des erwachsenen Blicks, beschreibungsstark („Mitteleuropa mit seiner wetterfesten Nüchternheit“) und poetisch („In den Vitrinen stellte Mama all den Tand aus, den die Zeit an den abendlichen Strand ihres Lebens geschwemmt hatte“, heißt es auf der vorletzten Seite).
Ähnlich wie bei „Tschick“, der anderen großen deutschen Road Novel unserer Tage, ahnt man beim Lesen, dass das bald verfilmt werden muss. Der situative Humor ist ähnlich genau wie bei Herrndorf, der rasante Plot lässt einen sowieso nicht los, man ist gerührt und bestürzt zugleich und will immer neue Passagen anstreichen. Großartig, wie Frank in Südfrankreich, in der Hitze des Sommers, als das letzte Geld davonschmilzt, die erzählte Zeit langsam in einen zähflüssigen Mief verwandelt, in dem die Familie versinkt. Keine Alltagsstruktur, nur erschlaffter Hedonismus, Nichtstun und die Hoffnung, der Vater möge schon wissen, welchen großen Plan er als Nächstes ausbrütet. Im Hintergrund aber, wie eine nachtdunkle Tapete, lauert das Wissen darum, dass all das nicht mehr lange gutgehen wird.
Irgendwann klopft die Polizei an und die Franks geben noch am selben Abend dem portugiesischen Maurer von der Nachbarbaustelle fast ihr gesamtes Resthabundgut, wenn er sie nur sofort nach Portugal kutschiert. War die letzte Nachtfahrt ein Aufbruch in einen gelebten Traum, so wachen sie nun in einem Albtraum auf, müssen in einem Rohbau schlafen, die Hunde kämpfen in ihrem Hunger um die vollen Windeln des kleinsten Bruders, die Schwester kratzt sich vor Verzweiflung stumm die Wangen auf. Und der junge Erzähler ahnt, dass es ab jetzt so etwas wie eine Ankunft nicht mehr geben wird, nur noch Zwischenhalte, Rastmomente, Versteckstationen.
Die Generation Golf wird hier von einem beschrieben, der nie einen Golf fahren durfte, obwohl er eine Zeit lang täglich am Golfe-Juan baden war. Sein Vater hat ihm den Mercedes versprochen und vorübergehend ein Mofa geschenkt, den Rest seiner Jugend aber hat Arno Frank, er deutet es am Ende nur kurz an, in Sozialhilfearmut verbracht. Das Buch spielt ungefähr zwischen dem Deutschen Herbst 1977 und der Katastrophe von Tschernobyl, all das Zeug aus den Wohlstandspop-Romanen kommt also vor, Krieg der Sterne, Sony-Walkman, Diercke Weltatlas, nur dass diesen wenigen Dingen im Verlauf der Reise eine ganz andere Wertigkeit zuwächst. Schließlich ist es eine Reise in immer größere Armut und Frank im Glück muss an jeder Station, bei jeder überstürzten Flucht, mehr von den Dingen aufgeben, deretwegen sie diese Reise überhaupt angetreten haben. Der Diercke wird dem Jungen auf dieser elenden Odyssee zu einem Anker, der ihn wenigstens auf dem Papier verortet, der Walkman ist am Ende die einzige Möglichkeit, dem Familiengefängnis momentweise zu entfliehen.
Der Traum wird zum Trauma, die Flucht zur reinen Instinktbewegung, nur noch weg, ein planloser Automatismus. Und so erinnern die Franks am Ende ihrer Reise an ein Huhn, das noch weiterflattert, wenn der Kopf längst ab ist: Als der allerletzte Bekannte sie auch noch rauswirft, nehmen sie eine S-Bahn bis zur Endstation. Von dort dann einen Postbus, irgendwo wird der ja hinfahren. Und an dieser Endstation verkriechen sie sich wieder in einem Hotelzimmer. Die Schwester lässt ab und zu Zettel fallen, auf denen „Hilfe“ steht, ähnlich wie Hänsel und Gretel mit den Körnern im Wald, nur dass es gar keine Hexe gibt, sondern stattdessen Eltern, die sich selbst längst im dunklen Wald ihrer Lügen und Ängste verlaufen haben. Selten war man so froh über das Auftauchen der Polizei am Ende eines Buches.
Als die Familie nach 300-seitiger Odyssee wieder in der Gegend von Kaiserslautern strandet und der Erzähler dort wieder auf ein Gymnasium und in ein normales Leben einfädeln soll, ist ihm das ganze wohlbehütete Setting völlig fremd. Wie er da einsam auf dem Pausenhof steht, mit Blick auf das Gefängnis, in dem sein Vater sitzt, erinnert er an den Kriegsheimkehrer aus Erich-Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, der zu Hause auch nicht ansatzweise vermitteln kann, was er an Grauen an der Front erleben musste. „Ich gehöre nicht mehr dazu“, schreibt Frank, „Ich sollte anderswo sein. Und weiß nicht, wo.“
Arno Frank: So, und jetzt kommst du. Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2017. 352 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Wozu Tupperware in
Kaiserslautern, wenn man
auch in Nizza leben könnte?
Schließlich wird der Traum
zum Trauma, die Flucht
zur reinen Instinktbewegung
Wer einen Zauberstift besitzt, dem öffnen sich die Türen jeder Villa. Aber was, wenn die Glückstinte zur Neige geht?
Foto: mauritius images / SFL Travel / Alamy
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem autobiografischen Debütroman „So, und jetzt kommst du“ erzählt Arno Frank hinreißend
vom Glanz und Elend eines Hochstaplers, der mit seiner Familie dem Abgrund entgegentaumelt
VON ALEX RÜHLE
Das hier ist keine einfache Räuberpistole. Sondern eine Wumme des Wahnsinns. Und um gleich noch so einem Begriff die Harmlosigkeit auszutreiben: Hochstapler, das klingt oft nach Schnurre, Bluff und Abenteuer. Dem Lebemann Felix Krull gönnt man seinen Aufstieg von Herzen und freut sich mit ihm, wenn ihm wieder ein Stück Identitätsillusionismus gelungen ist. Krull hinterlässt aber auch keine eindeutigen Opfer, im Gegenteil, die Geschädigten ziehen aus der Begegnung mit ihm jeweils wundersamen Profit. Vor allem aber kleidet Krull all seine Taten in eine liebenswert-höfliche Eleganz, die es ihm erst möglich macht, mit seiltänzerischer Leichtigkeit dem Schicksal immer neue Schnippchen zu schlagen.
Bei Jürgen Frank, man ahnt es früh, wird das nicht ganz so glatt laufen. Der gelernte Verwaltungsfachmann glaubt, wie es sich für einen echten Hochstapler gehört, von Anfang an, ihm stehe mehr zu. Er wird erwachsen, als das Wirtschaftswunder gerade erstmals ins Stottern gerät. Über den Dörfern rund um Kaiserslautern hängt eine Glocke aus Nachkriegsmief und erster BRD-Behaglichkeit. Jürgen Frank arbeitet eine Zeit lang in einem Autohaus, dann macht er sich selbständig und versucht, Wohlstandskrempel gewinnbringend weiterzuverhökern, Expander, Wagenheber, Heimtrainer. „Es steht jeden Tag ein Dummer auf“, erklärt er seinem Sohn, dem Erzähler dieses autobiografischen Romans. „Man muss sie nur finden. Oder, besser noch, sich von den Dummköpfen finden lassen.“ Wie er so großmäulig daherredet, ahnt man schon, dass das Schicksal bald zuschlagen wird. Und sicher nicht in harmloser Schnippchenform.
Eigentlich ist die Familie auf Seite 39 schon am Ende. Der erste Betrug ist aufgeflogen, die Bank hat den Franks das Haus weggenommen, die Mutter muss Tupperware-Partys zu Hause veranstalten, „damit wir wieder auf einen grünen Zweig kommen“, wie sie dem Sohn erklärt. Dem Vater aber ist ein einzelner grüner Zweig viel zu wenig, er will alles. Wozu Tupperware in Kaiserslautern, wenn man auch in Nizza leben könnte? Man muss ja nur mal das ganz große Ding drehen. Die Familie treibt in einer Art Glücksstausee, denn eines Tages, schon bald, wird das große Leben anbrechen.
Und tatsächlich, eines Nachts verfrachtet der Vater die Familie nach Südfrankreich. Das ganz große Ding sind 300 000 veruntreute D-Mark, die ab jetzt mit vereinten Kräften zum Panoramafenster rausgeworfen werden. Ehrensache, dass das Fenster Meerblick hat: „Es heißt schließlich nicht Hinterland d’Azur, sondern Côte d’Azur“, also braucht man eine Villa in den Hügeln von Antibes, mit Pool und Garten. Der Sohn wird auf eine sündhaft teure Diplomatenschule geschickt und bekommt zum ersten Schultag eine Vespa geschenkt. Die sechsjährige Schwester Jeanny hält den goldenen Montblanc-Füller des Vaters für einen Zauberstift, wie auch nicht, schließlich wird in ihrem märchenhaft neuen Leben alles, was er damit in den Kleinanzeigen der Nice Matin ankringelt, kurze Zeit später zu einem wirklichen Ding.
Arno Frank, Jahrgang 1971, erzählt diese autobiografische Geschichte in einem hinreißenden Ton. Er ist der naive Sohn, der zum Vater aufschaut und möglichst lange dessen Geschichten zu glauben versucht. Der Titel seines Debütromans ist ein Zitat: Mit „So, und jetzt bist du dran“, beendet der Vater all die Hochstaplermonologe, in denen er dem Sohn die Welt erklärt und ihn am Ende vermeintlich dazu auffordert, seine Meinung dazu zu sagen. In Wahrheit, so Frank, klang dieser Satz immer so, als würde sein Vater damit nur „einen Deckel auf die Diskussion setzen“.
Gezeigt wird das Ganze also aus der Untersicht des Heranwachsenden, erzählt wird es aber zugleich mit der Brennschärfe des erwachsenen Blicks, beschreibungsstark („Mitteleuropa mit seiner wetterfesten Nüchternheit“) und poetisch („In den Vitrinen stellte Mama all den Tand aus, den die Zeit an den abendlichen Strand ihres Lebens geschwemmt hatte“, heißt es auf der vorletzten Seite).
Ähnlich wie bei „Tschick“, der anderen großen deutschen Road Novel unserer Tage, ahnt man beim Lesen, dass das bald verfilmt werden muss. Der situative Humor ist ähnlich genau wie bei Herrndorf, der rasante Plot lässt einen sowieso nicht los, man ist gerührt und bestürzt zugleich und will immer neue Passagen anstreichen. Großartig, wie Frank in Südfrankreich, in der Hitze des Sommers, als das letzte Geld davonschmilzt, die erzählte Zeit langsam in einen zähflüssigen Mief verwandelt, in dem die Familie versinkt. Keine Alltagsstruktur, nur erschlaffter Hedonismus, Nichtstun und die Hoffnung, der Vater möge schon wissen, welchen großen Plan er als Nächstes ausbrütet. Im Hintergrund aber, wie eine nachtdunkle Tapete, lauert das Wissen darum, dass all das nicht mehr lange gutgehen wird.
Irgendwann klopft die Polizei an und die Franks geben noch am selben Abend dem portugiesischen Maurer von der Nachbarbaustelle fast ihr gesamtes Resthabundgut, wenn er sie nur sofort nach Portugal kutschiert. War die letzte Nachtfahrt ein Aufbruch in einen gelebten Traum, so wachen sie nun in einem Albtraum auf, müssen in einem Rohbau schlafen, die Hunde kämpfen in ihrem Hunger um die vollen Windeln des kleinsten Bruders, die Schwester kratzt sich vor Verzweiflung stumm die Wangen auf. Und der junge Erzähler ahnt, dass es ab jetzt so etwas wie eine Ankunft nicht mehr geben wird, nur noch Zwischenhalte, Rastmomente, Versteckstationen.
Die Generation Golf wird hier von einem beschrieben, der nie einen Golf fahren durfte, obwohl er eine Zeit lang täglich am Golfe-Juan baden war. Sein Vater hat ihm den Mercedes versprochen und vorübergehend ein Mofa geschenkt, den Rest seiner Jugend aber hat Arno Frank, er deutet es am Ende nur kurz an, in Sozialhilfearmut verbracht. Das Buch spielt ungefähr zwischen dem Deutschen Herbst 1977 und der Katastrophe von Tschernobyl, all das Zeug aus den Wohlstandspop-Romanen kommt also vor, Krieg der Sterne, Sony-Walkman, Diercke Weltatlas, nur dass diesen wenigen Dingen im Verlauf der Reise eine ganz andere Wertigkeit zuwächst. Schließlich ist es eine Reise in immer größere Armut und Frank im Glück muss an jeder Station, bei jeder überstürzten Flucht, mehr von den Dingen aufgeben, deretwegen sie diese Reise überhaupt angetreten haben. Der Diercke wird dem Jungen auf dieser elenden Odyssee zu einem Anker, der ihn wenigstens auf dem Papier verortet, der Walkman ist am Ende die einzige Möglichkeit, dem Familiengefängnis momentweise zu entfliehen.
Der Traum wird zum Trauma, die Flucht zur reinen Instinktbewegung, nur noch weg, ein planloser Automatismus. Und so erinnern die Franks am Ende ihrer Reise an ein Huhn, das noch weiterflattert, wenn der Kopf längst ab ist: Als der allerletzte Bekannte sie auch noch rauswirft, nehmen sie eine S-Bahn bis zur Endstation. Von dort dann einen Postbus, irgendwo wird der ja hinfahren. Und an dieser Endstation verkriechen sie sich wieder in einem Hotelzimmer. Die Schwester lässt ab und zu Zettel fallen, auf denen „Hilfe“ steht, ähnlich wie Hänsel und Gretel mit den Körnern im Wald, nur dass es gar keine Hexe gibt, sondern stattdessen Eltern, die sich selbst längst im dunklen Wald ihrer Lügen und Ängste verlaufen haben. Selten war man so froh über das Auftauchen der Polizei am Ende eines Buches.
Als die Familie nach 300-seitiger Odyssee wieder in der Gegend von Kaiserslautern strandet und der Erzähler dort wieder auf ein Gymnasium und in ein normales Leben einfädeln soll, ist ihm das ganze wohlbehütete Setting völlig fremd. Wie er da einsam auf dem Pausenhof steht, mit Blick auf das Gefängnis, in dem sein Vater sitzt, erinnert er an den Kriegsheimkehrer aus Erich-Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, der zu Hause auch nicht ansatzweise vermitteln kann, was er an Grauen an der Front erleben musste. „Ich gehöre nicht mehr dazu“, schreibt Frank, „Ich sollte anderswo sein. Und weiß nicht, wo.“
Arno Frank: So, und jetzt kommst du. Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2017. 352 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Wozu Tupperware in
Kaiserslautern, wenn man
auch in Nizza leben könnte?
Schließlich wird der Traum
zum Trauma, die Flucht
zur reinen Instinktbewegung
Wer einen Zauberstift besitzt, dem öffnen sich die Türen jeder Villa. Aber was, wenn die Glückstinte zur Neige geht?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017Die Gespenster der Autoroute
Der Journalist Arno Frank hat die Geschichte seiner Familie in einen Roman verwandelt: über seinen Vater, der ein Hochstapler war, und ein Leben quer durch Europa auf der Flucht vor Interpol - und vor der Realität
Die Mutter lutscht am Daumen. Die kleine Schwester steckt Gummibärchen in Leberwurst oder mischt Petersilie mit Senf unter vergammeltes Hundefutter und lässt dann alles verwesen. Der kleine Bruder will sich nicht mehr von seinen Schwimmflügeln trennen, obwohl die Luft längst aus ihnen raus ist und die Haut darunter weiß und wund.
Die Luft ist aus allem raus.
Aber der Vater gibt noch nicht auf. Ihm fällt immer doch noch mal etwas Neues ein - woher Geld kommen könnte, wohin es damit gehen könnte. Er zieht seine Familie und zwei Hunde mit sich und hinter sich her: aus der Pfalz an die Côte d'Azur und von dort nach Guarda in Portugal und über Lissabon wieder zurück nach Norden, nach Paris, und weiter, heim in die Pfalz und gleich wieder nach München und von dort über Erding im Bus mit dem allerletzten 50-Mark-Schein an die Endstation - in ein Gasthaus in einem namenlosen Ort in der bayerischen Provinz. Wo die Polizei an ihre Zimmertür klopft. Und der Trip vorbei ist.
Der Journalist Arno Frank hat die Geschichte seiner Familie in einen Roman verwandelt: "So, und jetzt kommst du" erzählt die Geschichte eines Jungen unter den denkbar abenteuerlichsten, gefährlichsten, desolatesten, freiesten, kaputtesten Umständen. Ein Thriller, eine Familientragödie, ein abschüssiger Bildungsroman: All das steckt in dieser wahren, erfundenen Geschichte, die Arno Frank seinem wahren, erfundenen Ich von damals in den Mund legt, damit er sie uns erzählt - einem Jungen, dem nach und nach klar wird, dass sein Vater ein Verbrecher ist, ein Hochstapler, und dass die Traumwelt, in die er seine Familie zieht, unweigerlich explodieren wird. Wenn das Geld aus ist. Oder wenn Interpol zuschlägt. Es ist die Geschichte der Familie Frank, die in Arno Franks Buch auch die Familie Frank heißt.
Die Geschichte dieser Familie beginnt vergleichsweise harmlos, ungefähr 1984: Da handelt der Vater noch in der Pfalz mit gebrauchten Autos oder mit Zeug, Hirschgeweihe aus Kunststoff, Radiergummis mit Bürsten, das kein Mensch gebrauchen kann, das der Vater aber versucht, lauter Menschen anzudrehen. "Es steht eben jeden Tag ein Dummer auf", so erklärt der Vater es seinem Sohn, das ist sein Geschäftsprinzip und wohl auch sein Lebensmotto. "Es gibt eben Dummköpfe. Man muss sie nur finden. Oder, besser noch, sich von den Dummköpfen finden lassen."
Der Sohn ist noch zu jung, um zu verstehen, wie der Trick funktioniert: dass sich sein Vater die Realität schönredet, dass er die Verantwortung für das, was er tut, jenen übergibt, denen er das antut. Vielleicht ist auch Sündenstolz dabei, oder einfach die kreative Kraft des kriminellen Selbstentwurfs, jedenfalls trägt die Illusion eine fünfköpfige Familie immer weiter in die Sonne. "Schuften müssen nur die Idioten", sagt der Vater etwas später, da leben die Franks in einem Haus mit Pool an der Côte d'Azur; der Vater ist mit dreihunderttausend Mark abgehauen, Geld, von dem er eigentlich Gebrauchtwagen für seine Geschäftspartner kaufen sollte - jetzt wirft er es nur so um sich bei allerschönstem Sonnenschein. "Das Geheimnis ist, dass alle bescheißen", so redet er sich jetzt den Himmel blau. "Mal mehr, mal weniger. Das ist die Wahrheit. Je früher du auf den Trichter kommst, umso besser." Der Sohn hört zu, nickt, plappert nach, ahnt vielleicht was, aber die Nachmittage vor dem Fernseher und die ständigen Schulwechsel und die teuren Geschenke sind zu verführerisch. Und er ist ja noch ein Kind.
Arno Frank, geboren 1971, früher Redakteur der "tageszeitung", für die er immer noch schreibt, hat seine verwandelte Lebensgeschichte also "Roman" genannt. Wie viel wahres Ich und echtes Leben hält die Fiktion aus, um noch als Fiktion durchzugehen? Das fragt sich die Literaturkritik ja immer mal wieder. Die Bücher, um die dann gestritten wird (zuletzt von Knausgård, Ferrante, Melle, Alexijewitsch), interessiert die Frage nur, wenn sie sie an sich selbst stellen, sie wollen sonst nur gelesen werden, und die Leser, die das tun, interessiert die Frage vermutlich auch nicht. Am Ende sagt einem sowieso immer der Text, was er ist. Und der Text, den Arno Frank geschrieben hat, zerreißt einem das Herz, weckt Mitleid und Furcht und alle möglichen widersprüchlichen Gefühle, man rast wie die Familie Frank Richtung Süden und zurück und wieder nach Süden durch die dreihundertzweiundfünfzig Seiten und hofft, dass die Familie nie gefasst wird. Oder dass sie doch endlich gefasst wird.
"Geschichten passieren nur denen, die sie erzählen können", hat der amerikanische Schriftsteller Allan Gurganus einmal geschrieben. Und Arno Frank kann das, er ist ein direkter, schneller Erzähler, unsentimental genau, deswegen ergreifend: Als dem Vater das Geld und die Ideen endgültig ausgegangen sind, auf dem Weg nach Paris, schlägt er der Mutter vor, ihren geklauten Mietwagen vor einen Brückenpfeiler zu steuern: "Es würde ganz schnell gehen", hört der Sohn auf der Rückbank ihn sagen, "wir würden kaum etwas spüren." Der Vater gibt Gas - und dann passiert etwas so Verrücktes, dass es nicht dazu kommt, der Vater schimpft, die Mutter kichert, und der Sohn schreibt: "Da ist die Brücke, da ist der Pfeiler. Für einen Wimpernschlag setzt der Regen aus. Und sofort wieder ein."
Die Geschichte der Franks ist von Anfang an genau das: eine Geschichte. Als der Vater die Mutter kennenlernt, in Kaiserslautern in den sechziger Jahren, parkt er mit einer Alfa Giulia vor dem Depot der amerikanischen Besatzungskräfte, "direkt neben dem Eingang, der für Offiziere reserviert war, stieg aus, zündete sich eine Gitane an und fiel in genau der Sekunde, als die Flamme aus der hohlen Hand sein konzentriertes Gesicht erleuchtete, meiner Mutter auf, die gerade selbst zum Rauchen vor die Tür getreten war".
Er raucht französische Zigaretten auf einem amerikanischen Parkplatz, das Hemd drei Knöpfe tief geöffnet, unter dem Arm der "Spiegel" mit Charles Manson auf dem Titel, und trifft seine Frau - eine Filmszene, larger than life, die suggestiv einläutet, dass sich das Leben zweier Menschen, das hier beginnt, nicht nach normalsterblichen Maßstäben entfalten wird. Als müssten die beiden ihrer Urszene gerecht werden. Sie erliegen ihrer eigenen Außergewöhnlichkeit. Die Provinz ist zu klein. Der Himmel muss noch blauer werden.
Und der Sohn träumt den Traum weiter, den seine Eltern erzählend in ihm angelegt haben. Er stellt sich seinen Vater vor, wie er im Casino von Nizza am Roulette sitzt, einen Martini in der Hand, ein Hauch "Drakkar Noir" auf der Haut, und seinen Mitspielern das Geld aus der Tasche zieht, weil er schlauer als alle anderen ist. "Niemand weiß, wer mein Vater ist und woher er kommt. Er könnte ein jordanischer Scheich sein, ein italienischer Schauspieler, ein belgischer Politiker. Niemand ahnt, dass er vor ein paar Monaten noch Gebrauchtwagen verkauft hat in der Pfalz."
Solange das Geld reicht, ist das Leben der Familie in Frankreich ein Rausch. Sie segeln vor Cannes. Der Sohn bekommt einen Roller. Die kleine Schwester Jeany lernt Reiten bei einer Freundin, deren Vater wirklich schwerstreich ist. Der kleinste Sohn, Fabian, bekommt Schwimmflügel, weil die Mutter sich sorgt, er könnte sonst in den Pool fallen und ertrinken. Und die Mutter kauft, was sie nur will. Es wird Fernsehen geschaut, Formel 1 und Tennis, es sind die Achtziger von Alain Prost und Boris Becker. Es ist heiß. Die Kinder kriegen eine Nanny, die achtzehnjährige Roxane, beziehungsweise kriegt der Vater sie, deswegen ist Roxane bald wieder verschwunden. Es ist ein Frankreich wie in Spielfilmen oder Nachmittagsserien. Aber tausend Kilometer nördlich hat die Polizei die Spur der Franks aufgenommen.
Und die beiden älteren Geschwister haben das irgendwann auch. Weil, sobald das Geld ausgeht, nichts mehr zusammenpasst. "Zum Geburtstag bekomme ich ein Snickers", sagt der Sohn, das ist der traurigste Satz im ganzen Buch, die Franks sind da in einem Hotel in Lissabon gestrandet, die Kinder hungern, der größere Hund der Familie stirbt einen langsamen Tod, vielleicht etwas zu metaphorisch für diesen zaunpfahlfreien Roman. "Manchmal denke ich, dass in unser Zimmer neue Gäste einziehen könnten, ohne uns zu bemerken", sagt der Sohn. "Sie würden zwischen uns leben, ohne uns wahrzunehmen, weil wir uns allmählich in Gespenster verwandelt haben. Wir wirken auf nichts ein, nichts wirkt auf uns ein."
Bevor dieses Nichts sie verschluckt, wirken die Kinder aber auf etwas ein, retten die Kinder sich selbst. Bevor das aber passieren kann, in einem Gasthof in der bayerischen Provinz, müssen sie erkennen, dass ihre Eltern aus Nichts gemacht sind. Das Spiel ist aus, aber es war unwiderstehlich, bis es brannte. Ein Roman über Rücksichtslosigkeit, Weltverweigerung, Grausamkeit und Lebenstrotz. Man ist dankbar, dass man ihn nur lesen, nicht leben musste.
TOBIAS RÜTHER
Arno Frank: "So, und jetzt kommst du". Tropen, 352 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Journalist Arno Frank hat die Geschichte seiner Familie in einen Roman verwandelt: über seinen Vater, der ein Hochstapler war, und ein Leben quer durch Europa auf der Flucht vor Interpol - und vor der Realität
Die Mutter lutscht am Daumen. Die kleine Schwester steckt Gummibärchen in Leberwurst oder mischt Petersilie mit Senf unter vergammeltes Hundefutter und lässt dann alles verwesen. Der kleine Bruder will sich nicht mehr von seinen Schwimmflügeln trennen, obwohl die Luft längst aus ihnen raus ist und die Haut darunter weiß und wund.
Die Luft ist aus allem raus.
Aber der Vater gibt noch nicht auf. Ihm fällt immer doch noch mal etwas Neues ein - woher Geld kommen könnte, wohin es damit gehen könnte. Er zieht seine Familie und zwei Hunde mit sich und hinter sich her: aus der Pfalz an die Côte d'Azur und von dort nach Guarda in Portugal und über Lissabon wieder zurück nach Norden, nach Paris, und weiter, heim in die Pfalz und gleich wieder nach München und von dort über Erding im Bus mit dem allerletzten 50-Mark-Schein an die Endstation - in ein Gasthaus in einem namenlosen Ort in der bayerischen Provinz. Wo die Polizei an ihre Zimmertür klopft. Und der Trip vorbei ist.
Der Journalist Arno Frank hat die Geschichte seiner Familie in einen Roman verwandelt: "So, und jetzt kommst du" erzählt die Geschichte eines Jungen unter den denkbar abenteuerlichsten, gefährlichsten, desolatesten, freiesten, kaputtesten Umständen. Ein Thriller, eine Familientragödie, ein abschüssiger Bildungsroman: All das steckt in dieser wahren, erfundenen Geschichte, die Arno Frank seinem wahren, erfundenen Ich von damals in den Mund legt, damit er sie uns erzählt - einem Jungen, dem nach und nach klar wird, dass sein Vater ein Verbrecher ist, ein Hochstapler, und dass die Traumwelt, in die er seine Familie zieht, unweigerlich explodieren wird. Wenn das Geld aus ist. Oder wenn Interpol zuschlägt. Es ist die Geschichte der Familie Frank, die in Arno Franks Buch auch die Familie Frank heißt.
Die Geschichte dieser Familie beginnt vergleichsweise harmlos, ungefähr 1984: Da handelt der Vater noch in der Pfalz mit gebrauchten Autos oder mit Zeug, Hirschgeweihe aus Kunststoff, Radiergummis mit Bürsten, das kein Mensch gebrauchen kann, das der Vater aber versucht, lauter Menschen anzudrehen. "Es steht eben jeden Tag ein Dummer auf", so erklärt der Vater es seinem Sohn, das ist sein Geschäftsprinzip und wohl auch sein Lebensmotto. "Es gibt eben Dummköpfe. Man muss sie nur finden. Oder, besser noch, sich von den Dummköpfen finden lassen."
Der Sohn ist noch zu jung, um zu verstehen, wie der Trick funktioniert: dass sich sein Vater die Realität schönredet, dass er die Verantwortung für das, was er tut, jenen übergibt, denen er das antut. Vielleicht ist auch Sündenstolz dabei, oder einfach die kreative Kraft des kriminellen Selbstentwurfs, jedenfalls trägt die Illusion eine fünfköpfige Familie immer weiter in die Sonne. "Schuften müssen nur die Idioten", sagt der Vater etwas später, da leben die Franks in einem Haus mit Pool an der Côte d'Azur; der Vater ist mit dreihunderttausend Mark abgehauen, Geld, von dem er eigentlich Gebrauchtwagen für seine Geschäftspartner kaufen sollte - jetzt wirft er es nur so um sich bei allerschönstem Sonnenschein. "Das Geheimnis ist, dass alle bescheißen", so redet er sich jetzt den Himmel blau. "Mal mehr, mal weniger. Das ist die Wahrheit. Je früher du auf den Trichter kommst, umso besser." Der Sohn hört zu, nickt, plappert nach, ahnt vielleicht was, aber die Nachmittage vor dem Fernseher und die ständigen Schulwechsel und die teuren Geschenke sind zu verführerisch. Und er ist ja noch ein Kind.
Arno Frank, geboren 1971, früher Redakteur der "tageszeitung", für die er immer noch schreibt, hat seine verwandelte Lebensgeschichte also "Roman" genannt. Wie viel wahres Ich und echtes Leben hält die Fiktion aus, um noch als Fiktion durchzugehen? Das fragt sich die Literaturkritik ja immer mal wieder. Die Bücher, um die dann gestritten wird (zuletzt von Knausgård, Ferrante, Melle, Alexijewitsch), interessiert die Frage nur, wenn sie sie an sich selbst stellen, sie wollen sonst nur gelesen werden, und die Leser, die das tun, interessiert die Frage vermutlich auch nicht. Am Ende sagt einem sowieso immer der Text, was er ist. Und der Text, den Arno Frank geschrieben hat, zerreißt einem das Herz, weckt Mitleid und Furcht und alle möglichen widersprüchlichen Gefühle, man rast wie die Familie Frank Richtung Süden und zurück und wieder nach Süden durch die dreihundertzweiundfünfzig Seiten und hofft, dass die Familie nie gefasst wird. Oder dass sie doch endlich gefasst wird.
"Geschichten passieren nur denen, die sie erzählen können", hat der amerikanische Schriftsteller Allan Gurganus einmal geschrieben. Und Arno Frank kann das, er ist ein direkter, schneller Erzähler, unsentimental genau, deswegen ergreifend: Als dem Vater das Geld und die Ideen endgültig ausgegangen sind, auf dem Weg nach Paris, schlägt er der Mutter vor, ihren geklauten Mietwagen vor einen Brückenpfeiler zu steuern: "Es würde ganz schnell gehen", hört der Sohn auf der Rückbank ihn sagen, "wir würden kaum etwas spüren." Der Vater gibt Gas - und dann passiert etwas so Verrücktes, dass es nicht dazu kommt, der Vater schimpft, die Mutter kichert, und der Sohn schreibt: "Da ist die Brücke, da ist der Pfeiler. Für einen Wimpernschlag setzt der Regen aus. Und sofort wieder ein."
Die Geschichte der Franks ist von Anfang an genau das: eine Geschichte. Als der Vater die Mutter kennenlernt, in Kaiserslautern in den sechziger Jahren, parkt er mit einer Alfa Giulia vor dem Depot der amerikanischen Besatzungskräfte, "direkt neben dem Eingang, der für Offiziere reserviert war, stieg aus, zündete sich eine Gitane an und fiel in genau der Sekunde, als die Flamme aus der hohlen Hand sein konzentriertes Gesicht erleuchtete, meiner Mutter auf, die gerade selbst zum Rauchen vor die Tür getreten war".
Er raucht französische Zigaretten auf einem amerikanischen Parkplatz, das Hemd drei Knöpfe tief geöffnet, unter dem Arm der "Spiegel" mit Charles Manson auf dem Titel, und trifft seine Frau - eine Filmszene, larger than life, die suggestiv einläutet, dass sich das Leben zweier Menschen, das hier beginnt, nicht nach normalsterblichen Maßstäben entfalten wird. Als müssten die beiden ihrer Urszene gerecht werden. Sie erliegen ihrer eigenen Außergewöhnlichkeit. Die Provinz ist zu klein. Der Himmel muss noch blauer werden.
Und der Sohn träumt den Traum weiter, den seine Eltern erzählend in ihm angelegt haben. Er stellt sich seinen Vater vor, wie er im Casino von Nizza am Roulette sitzt, einen Martini in der Hand, ein Hauch "Drakkar Noir" auf der Haut, und seinen Mitspielern das Geld aus der Tasche zieht, weil er schlauer als alle anderen ist. "Niemand weiß, wer mein Vater ist und woher er kommt. Er könnte ein jordanischer Scheich sein, ein italienischer Schauspieler, ein belgischer Politiker. Niemand ahnt, dass er vor ein paar Monaten noch Gebrauchtwagen verkauft hat in der Pfalz."
Solange das Geld reicht, ist das Leben der Familie in Frankreich ein Rausch. Sie segeln vor Cannes. Der Sohn bekommt einen Roller. Die kleine Schwester Jeany lernt Reiten bei einer Freundin, deren Vater wirklich schwerstreich ist. Der kleinste Sohn, Fabian, bekommt Schwimmflügel, weil die Mutter sich sorgt, er könnte sonst in den Pool fallen und ertrinken. Und die Mutter kauft, was sie nur will. Es wird Fernsehen geschaut, Formel 1 und Tennis, es sind die Achtziger von Alain Prost und Boris Becker. Es ist heiß. Die Kinder kriegen eine Nanny, die achtzehnjährige Roxane, beziehungsweise kriegt der Vater sie, deswegen ist Roxane bald wieder verschwunden. Es ist ein Frankreich wie in Spielfilmen oder Nachmittagsserien. Aber tausend Kilometer nördlich hat die Polizei die Spur der Franks aufgenommen.
Und die beiden älteren Geschwister haben das irgendwann auch. Weil, sobald das Geld ausgeht, nichts mehr zusammenpasst. "Zum Geburtstag bekomme ich ein Snickers", sagt der Sohn, das ist der traurigste Satz im ganzen Buch, die Franks sind da in einem Hotel in Lissabon gestrandet, die Kinder hungern, der größere Hund der Familie stirbt einen langsamen Tod, vielleicht etwas zu metaphorisch für diesen zaunpfahlfreien Roman. "Manchmal denke ich, dass in unser Zimmer neue Gäste einziehen könnten, ohne uns zu bemerken", sagt der Sohn. "Sie würden zwischen uns leben, ohne uns wahrzunehmen, weil wir uns allmählich in Gespenster verwandelt haben. Wir wirken auf nichts ein, nichts wirkt auf uns ein."
Bevor dieses Nichts sie verschluckt, wirken die Kinder aber auf etwas ein, retten die Kinder sich selbst. Bevor das aber passieren kann, in einem Gasthof in der bayerischen Provinz, müssen sie erkennen, dass ihre Eltern aus Nichts gemacht sind. Das Spiel ist aus, aber es war unwiderstehlich, bis es brannte. Ein Roman über Rücksichtslosigkeit, Weltverweigerung, Grausamkeit und Lebenstrotz. Man ist dankbar, dass man ihn nur lesen, nicht leben musste.
TOBIAS RÜTHER
Arno Frank: "So, und jetzt kommst du". Tropen, 352 Seiten, 22 Euro
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»Fasziniert verfolgt man diese atemlose Flucht von einem Land ins andere, die auch immer eine Flucht vor der Realität ist. Franks fast nüchterne Beschreibung aus der Sicht eines Jungen, der er mal war, erschüttert und begeistert zugleich.« Brigitte, 12.2017 »Arno Frank erzählt diese autobiografische Geschichte in einem hinreißenden Ton ... Ähnlich wie bei "Tschick", der anderen großen deutschen Road Novel unserer Tage, ahnt man beim Lesen, dass das bald verfilmt werden muss. Der situative Humor ist ähnlich genau wie bei Herrndorf, der rasante Plot lässt einen sowieso nicht los, man ist gerührt und bestürzt zugleich und will immer neue Passagen anstreichen.« Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 05.04.2017 »Sein Roman "So, und jetzt kommst du" ist das aktuelle Lieblingsbuch unserer Redaktion. Es ist eine Familiengeschichte, die so schräg, so komisch und so tragisch ist, dass sie eigentlich kaum wahr sein kann. Ist sie aber.« Katty Salié, ZDF aspekte, 10.03.2017 »der Text, den Arno Frank geschrieben hat, zerreißt einem das Herz, weckt Mitleid und Furcht und alle möglichen widersprüchlichen Gefühle, man rast wie die Familie Frank Richtung Süden und wieder zurück ... durch die dreihundertfünzig Seiten und hofft, dass die Familie nie gefasst wird. Oder dass sie doch gefasst wird ... Ein Roman über Rücksichtslosigkeit, Weltverweigerung, Grausamkeit und Lebenstrotz. Man ist dankbar, dass man ihn nur lesen, nicht leben musste.« Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.03.2017 »Ein Juwel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur!« Jürgen Deppe, NDR Kultur, 06.07.2017 »Das Buch liest sich wie ein Schlitten den Hang runterrast ... Der Leser durchlebt eine unberechenbare Reise - eine Mischung aus Roadtrip und hakenschlagender Flucht.« Alexander Wasner, SWR 2 Forum Buch, 12.03.2017 »Frank erzählt leichtfüßig und liebevoll von seinen Figuren.« Tina Rausch, Münchner Feuilleton, Juli 2017 »Fasziniert verfolgt man diese atemlose Flucht von einem Land ins andere, die auch immer eine Flucht vor der Realität ist. Franks nüchterne Beschreibung aus der Sicht des Jungen, der er mal war, erschüttert und begeistert zugleich.« Meike Schnitzler, Brigitte, Juli 2017 »Schräg, komisch und tragisch.« Myself, Juni 2017 »Beim Lesen darf gelacht werden, es kann aber auch geweint werden. Auf jeden Fall aber sollte dieses Roadmovie, diese Familientragödie, diese wahre Geschichte gelesen werden.« Dominik Bloedner, Badische Zeitung, 15.04.2017 »"So und jetzt kommst du" ist ein Roman wie ein Roadmovie, mit einem Erzähl-Helden wider Willen, der auch ein Rückblick auf die 80er Jahre ist.« Helmut Pusch, Südwest Presse, 25.03.2017 »Großartig!« Wolfgang Weber, Badische Neueste Nachrichten, 04.06.2017 »Familiengeschichten sind langweilig? Diese hier nicht.« Hannoversche Allgemeine Zeitung, 01.03.2017 »Stets ist man dran an einer Geschichte, die man, auch so ähnlich, noch nicht gelesen hat. Man fühlt, wie sich die Schlinge mehr und mehr um die Protagonisten zuzieht, zittert mit ihnen und will wissen, wie es nicht nur weiter, sondern wie dieses Hasardspiel mit hohem Einsatz, dem des Lebens der Eltern und dem ihrer Kinder, ausgeht. Es ist ein Zeichen für die Güte eines Romans, wenn auf der letzten Seite bedauernd festgestellt werden muss, dass er schon zu Ende ist.« Peter Zimmermann, Ö1 Ex libris, 26.03.2017 »Als Leser sollte man sich, so viel vorab zu den Risiken und Nebenwirkungen, das Buch nur am Wochenende vornehmen. Werktägliche Lektüre kann nämlich zu sehr kurzen Nächten und verminderter Arbeitsleistung führen: Man kommt einfach nicht los von dieser Geschichte, die einen in ein Wechselbad der Gefühle stürzt.« Volker Milch, Wiesbadener Kurier, 19.05.2017 »Mit seinem Debüt gelingt Arno Frank das seltene Kunststück, gleichermaßen zu unterhalten wie zu erschüttern. Anfangs noch hochkomisch und skurril, ist das Buch später vor Spannung kaum auszuhalten.« Frank Rudkoffsky, Lift, August 2017 »"So, und jetzt kommst du" ist ein Buch, das in seiner Schönheit den Schrecken des Niedergangs einer Kindheit nur schwach verhüllt - und das ist genau die richtige Art, solch einen Niedergang zu erzählen.« Simona Turini, indie-republik.com, 24.04.2017