Maarten 't Hart gehört zu den herausragenden niederländischen Schriftstellern unserer Zeit. Sein Erzählungsband "So viele Hähne, so nah beim Haus" bringt seine Kunst des pointiert Anekdotischen zum Leuchten: Da ist die Studentin Letitia, die schamlos ihre Reize einsetzt, um gleichzeitig promovieren und ihr Haus renovieren zu können; da ist der sture Bäckergehilfe im Warmond der Fünfzigerjahre, den auch das Bestechungsgeld von 1000 Gulden bei der für seinen Bäcker unangenehmen Wahrheit bleiben lässt, oder die musikalische Rate-Runde, deren Abende empfindlich durch den aufdringlichen Hund eines ihrer Mitglieder gestört wird. Maarten 't Harts Kosmos bevölkern skurrile Figuren, die uns mit ihren allzu menschlichen Schwächen entgegentreten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2019Gottesdienst
ohne Gemeinde
Maarten ’t Haarts Kosmos
der Käuze und Kalamitäten
Am Rand des Dorfes Warmond bei Leiden, in dem Maarten ’t Haart lebt, liegt gleich neben einer Strafanstalt ein Wäldchen. Aus rätselhaften Gründen haben sich dort Hähne aller Art und Größe angesiedelt. Von Nachbarinnen mit Futter versorgt, wächst die Population der Hühnervögel beständig an, und ihr morgendliches Krähen ist weithin zu hören. Der Schriftsteller, selbst Halter von Zwerghähnen, interessiert sich mehr für die Nachtigallen, die im Wäldchen nisten. Als er eines Tages per Fahrrad ihrem Gesang folgt, trifft er auf einen erschrockenen Mann, der gerade im Begriff ist, zwei Hähne auszusetzen, und der ihm nach und nach die Hintergründe eines merkwürdigen Rachefeldzugs enthüllt.
Für die deutsche Fassung des Erzählungsbandes lieferte diese Geschichte den Titel: „So viele Hähne, so nah beim Haus“. Das ist schön, weil sich darin die Verblüffungseffekte und Skurrilitäten der hier versammelten Prosa ankündigen. Aus dem Kosmos von Käuzen, Kalamitäten und Konstellationen, wie es sie so wohl nur in der südholländischen Provinz gibt, hat Maarten ’t Hart zeitlebens eine solche Fülle an Stoff geschöpft, dass er seine Heimatgegend kaum je zu verlassen brauchte. Neben seinen explizit autobiografischen Schriften weist auch sein umfangreiches Romanwerk, stilistisch dem Realismus des 18. Jahrhunderts verpflichtet, direkt oder camoufliert auf Erlebtes und Erinnertes zurück, kreist um erfundene Varianten seiner Person und die großen Themen, die ihm sein Lebenslauf aufdrängte.
Sohn eines Totengräbers und streng calvinistisch erzogen, war der 1944 geborene Autor in seiner Jugend eine Mischung aus Überflieger und Sonderling. Frühe Ängste und Versagungen, Einsamkeit, ein problematisches Verhältnis zu Frauen, die radikale Abkehr vom Glauben und die rebellisch erkämpfte Hinwendung zu Literatur und klassischer Musik prägten seine Entwicklung. Zunächst als Verhaltensbiologe, dann als unermüdlich produktiver, bald hochrenommierter Schriftsteller fand er seinen Weg, doch ließ er nie Zweifel daran aufkommen, dass er gegen das Unglücklichsein anschrieb. Als ausgebildeter Organist und Bach-Kenner blieb er stets in Kontakt mit dem protestantischen Milieu, aus dem er sich befreit hatte. Sein niederländisches Publikum kennt und respektiert seine Exzentrik und sein ungeselliges Wesen, seinen zeitweiligen Hang zur Travestie und seine polemische Ader, aber es schätzt ihn auch als Tierschützer und naturbegeisterten Protagonisten einer TV-Serie über seinen Gemüsegarten.
All diese Motive tauchen nun, en miniature, in den achtzehn Erzählungen wieder auf, die sich aus verschiedenen Phasen seines Lebens speisen. Anekdotisch kurze Begebenheiten und Begegnungen wechseln sich ab mit längeren, dialogreichen Texten, und allen ist gemeinsam, dass sie sich um Dramaturgie, Pointen und sonstige formale Aspekte nicht scheren. Einige scheinen einfach mittendrin aufzuhören, und zwischen Anfang und Ende flattert oft nur ein hauchdünner Faden. Auch sind manche Episoden, etwa das Eröffnungsstück über den mit Töchtern reich gesegneten Bäcker Stoof in ’t Harts Herkunftsstadt Maassluis, eine Art Recycling früher veröffentlichter Geschichten in leicht veränderter Form. Das alles verstärkt den Eindruck der Nonchalance, mit der hier jemand auf seine Vergangenheit zurückschaut.
Der gealterte Schriftsteller kann mit seinen Defiziten fast abgeklärt kokettieren – etwa mit seinem unauffälligen Äußeren, mit dem Konkurrenzverhältnis zu seinem Freund und Kollegen Maarten Biesheuvel oder einer gewissen Weltfremdheit, die ihn in kuriose Situationen bringt, nicht zuletzt mit verpassten oder verpatzten erotischen Gelegenheiten. Entscheidend für die Wirkung seiner Prosa ist jedoch, dass der Ich-Erzähler gleichermaßen distanziert und liebevoll auf die Menschen seiner nächsten Umgebung blickt, ihre Schrullen und tragikomischen Verstrickungen schildert, ohne ihre Würde zu beschädigen.
Natürlich lässt ihn, den bekennenden Atheisten, die Frage nach Gott nie ganz los. Hier erscheint sie ihm in Gestalt eines kleinen Jungen, der glaubt, dass Gott in Warmond wohnt. Der Erzähler muss ihm eine herbe Enttäuschung bereiten und wird dadurch wieder einmal an die unlösbaren Rätsel des Lebens erinnert. Eine Erscheinung ganz anderer Art, sehr nahe an der Versuchung, ist eine junge Pastorin mit dem unglaublichen Namen Ilonka de Priester, die vertretungsweise in Warmond predigt.
Maarten ’t Hart, Kenner und Liebhaber der Lohman-Orgel, springt als Organist ein. Was fehlt, ist die Gemeinde. Es ist Ferienzeit, die Kirche bleibt leer. Jedoch: „Für einen Gottesdienst, so zeigte sich rasch, braucht man keine Gläubigen. Ein Pastor und ein Organist reichen.“ Will heißen: Literatur und Musik treten an die Stelle der Religion. Von dieser hintersinnigen Geschichte erhielt der Band seinen Originaltitel: „Die Mutter des Ikabod“. Aber um die alttestamentarische Anspielung zu verstehen, muss man wohl Niederländer sein. Bei uns funktionieren die Hähne besser.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Maarten ’t Hart: So viele Hähne, so nah beim Haus. Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Piper Verlag, München 2019. 284 Seiten, 22 Euro.
Distanziert und liebevoll
blickt der Erzähler auf die
Menschen in seiner Umgebung
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne Gemeinde
Maarten ’t Haarts Kosmos
der Käuze und Kalamitäten
Am Rand des Dorfes Warmond bei Leiden, in dem Maarten ’t Haart lebt, liegt gleich neben einer Strafanstalt ein Wäldchen. Aus rätselhaften Gründen haben sich dort Hähne aller Art und Größe angesiedelt. Von Nachbarinnen mit Futter versorgt, wächst die Population der Hühnervögel beständig an, und ihr morgendliches Krähen ist weithin zu hören. Der Schriftsteller, selbst Halter von Zwerghähnen, interessiert sich mehr für die Nachtigallen, die im Wäldchen nisten. Als er eines Tages per Fahrrad ihrem Gesang folgt, trifft er auf einen erschrockenen Mann, der gerade im Begriff ist, zwei Hähne auszusetzen, und der ihm nach und nach die Hintergründe eines merkwürdigen Rachefeldzugs enthüllt.
Für die deutsche Fassung des Erzählungsbandes lieferte diese Geschichte den Titel: „So viele Hähne, so nah beim Haus“. Das ist schön, weil sich darin die Verblüffungseffekte und Skurrilitäten der hier versammelten Prosa ankündigen. Aus dem Kosmos von Käuzen, Kalamitäten und Konstellationen, wie es sie so wohl nur in der südholländischen Provinz gibt, hat Maarten ’t Hart zeitlebens eine solche Fülle an Stoff geschöpft, dass er seine Heimatgegend kaum je zu verlassen brauchte. Neben seinen explizit autobiografischen Schriften weist auch sein umfangreiches Romanwerk, stilistisch dem Realismus des 18. Jahrhunderts verpflichtet, direkt oder camoufliert auf Erlebtes und Erinnertes zurück, kreist um erfundene Varianten seiner Person und die großen Themen, die ihm sein Lebenslauf aufdrängte.
Sohn eines Totengräbers und streng calvinistisch erzogen, war der 1944 geborene Autor in seiner Jugend eine Mischung aus Überflieger und Sonderling. Frühe Ängste und Versagungen, Einsamkeit, ein problematisches Verhältnis zu Frauen, die radikale Abkehr vom Glauben und die rebellisch erkämpfte Hinwendung zu Literatur und klassischer Musik prägten seine Entwicklung. Zunächst als Verhaltensbiologe, dann als unermüdlich produktiver, bald hochrenommierter Schriftsteller fand er seinen Weg, doch ließ er nie Zweifel daran aufkommen, dass er gegen das Unglücklichsein anschrieb. Als ausgebildeter Organist und Bach-Kenner blieb er stets in Kontakt mit dem protestantischen Milieu, aus dem er sich befreit hatte. Sein niederländisches Publikum kennt und respektiert seine Exzentrik und sein ungeselliges Wesen, seinen zeitweiligen Hang zur Travestie und seine polemische Ader, aber es schätzt ihn auch als Tierschützer und naturbegeisterten Protagonisten einer TV-Serie über seinen Gemüsegarten.
All diese Motive tauchen nun, en miniature, in den achtzehn Erzählungen wieder auf, die sich aus verschiedenen Phasen seines Lebens speisen. Anekdotisch kurze Begebenheiten und Begegnungen wechseln sich ab mit längeren, dialogreichen Texten, und allen ist gemeinsam, dass sie sich um Dramaturgie, Pointen und sonstige formale Aspekte nicht scheren. Einige scheinen einfach mittendrin aufzuhören, und zwischen Anfang und Ende flattert oft nur ein hauchdünner Faden. Auch sind manche Episoden, etwa das Eröffnungsstück über den mit Töchtern reich gesegneten Bäcker Stoof in ’t Harts Herkunftsstadt Maassluis, eine Art Recycling früher veröffentlichter Geschichten in leicht veränderter Form. Das alles verstärkt den Eindruck der Nonchalance, mit der hier jemand auf seine Vergangenheit zurückschaut.
Der gealterte Schriftsteller kann mit seinen Defiziten fast abgeklärt kokettieren – etwa mit seinem unauffälligen Äußeren, mit dem Konkurrenzverhältnis zu seinem Freund und Kollegen Maarten Biesheuvel oder einer gewissen Weltfremdheit, die ihn in kuriose Situationen bringt, nicht zuletzt mit verpassten oder verpatzten erotischen Gelegenheiten. Entscheidend für die Wirkung seiner Prosa ist jedoch, dass der Ich-Erzähler gleichermaßen distanziert und liebevoll auf die Menschen seiner nächsten Umgebung blickt, ihre Schrullen und tragikomischen Verstrickungen schildert, ohne ihre Würde zu beschädigen.
Natürlich lässt ihn, den bekennenden Atheisten, die Frage nach Gott nie ganz los. Hier erscheint sie ihm in Gestalt eines kleinen Jungen, der glaubt, dass Gott in Warmond wohnt. Der Erzähler muss ihm eine herbe Enttäuschung bereiten und wird dadurch wieder einmal an die unlösbaren Rätsel des Lebens erinnert. Eine Erscheinung ganz anderer Art, sehr nahe an der Versuchung, ist eine junge Pastorin mit dem unglaublichen Namen Ilonka de Priester, die vertretungsweise in Warmond predigt.
Maarten ’t Hart, Kenner und Liebhaber der Lohman-Orgel, springt als Organist ein. Was fehlt, ist die Gemeinde. Es ist Ferienzeit, die Kirche bleibt leer. Jedoch: „Für einen Gottesdienst, so zeigte sich rasch, braucht man keine Gläubigen. Ein Pastor und ein Organist reichen.“ Will heißen: Literatur und Musik treten an die Stelle der Religion. Von dieser hintersinnigen Geschichte erhielt der Band seinen Originaltitel: „Die Mutter des Ikabod“. Aber um die alttestamentarische Anspielung zu verstehen, muss man wohl Niederländer sein. Bei uns funktionieren die Hähne besser.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Maarten ’t Hart: So viele Hähne, so nah beim Haus. Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Piper Verlag, München 2019. 284 Seiten, 22 Euro.
Distanziert und liebevoll
blickt der Erzähler auf die
Menschen in seiner Umgebung
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Sein in diesem Jahr erschienener Erzählband 'So viele Hähne, so nah beim Haus' bringt 't Harts Kunst des Pointiert-Anekdotischen zum Leuchten.« Michael Köhler Deutschlandfunk "Büchermarkt" 20191023
»In 'So viele Hähne, so nah beim Haus' erzählt Maarten´t Hart aus seinem Leben - mal nachdenklich, mal traurig, mal schalkhaft.« Neue Rhein Zeitung 20190614