Zu den zahlreichen Veröffentlichungen aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland zählt auch dieses Buch des bekannten Münchner Politikwissenschaftlers. Es behandelt das spannungsreiche Verhältnis von Geist und Politik in der deutschen Geschichte seit 1945/49 und steht wegen seiner grundsätzlich positiven Einschätzung der politischen Kultur der Bundesrepublik in einer Gegenposition zu der in Deutschland vorherrschenden Krisenstimmung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1999Ein Lob der Bundesrepublik
Kurt Sontheimer widerspricht politischen Klischees über die westdeutsche Nachkriegsgeschichte
Kurt Sontheimer: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. Verlag C. H. Beck, München 1999. 262 Seiten, 38,- Mark.
Kurt Sontheimer hat sich seit langem für das Verhältnis von "Geist" und "Macht" interessiert. Stets klagte er, unter den westdeutschen Intellektuellen überwiege die Neigung zu einer destruktiven Kritik an Politik. Es würden höchste Maßstäbe gesetzt; die Frage, ob politische Praxis diesen Maßstäben überhaupt entsprechen könne, werde ignoriert. Politik werde daher als unzulänglich, oft sogar als unmoralisch bewertet. Mit Vorliebe würden Katastrophen prophezeit. Selten sei in der Bundesrepublik hingegen Kritik, wie sie der französische Publizist und Soziologe Raymond Aron geübt habe: Kritik, die der Freiheit und Menschlichkeit verpflichtet ist, stets aber auch die Realität berücksichtigt und fragt, wie es in der konkreten Lage möglich ist, einem Ideal näher zu kommen.
Den 50. Geburtstag der Bundesrepublik nimmt Sontheimer zum Anlaß, den Kontrast zwischen der Entwicklung der Bundesrepublik, so wie sie in Wirklichkeit seit 1949 verlief, und den Kassandrarufen herauszuarbeiten, zu denen die Intellektuellen neigten. Der Titel seiner Schrift "So war Deutschland nie" nimmt das Ergebnis in doppelter Hinsicht vorweg: Die Bundesrepublik ist für Sontheimer eine gelungene Demokratie, sie blickt auf eine glückliche Entwicklung zurück. Sie habe schon in den fünfziger Jahren nicht mehr viel und seit den siebziger Jahren nichts mehr mit dem obrigkeitsstaatlichen, nationalistischen Deutschland früherer Zeiten gemein gehabt.
Aus dieser Sicht folgt, daß die Bundesrepublik auch nie so war, wie sie von der Mehrzahl der Intellektuellen dargestellt wurde. So hält Sontheimer die zuerst 1950 von Walter Dirks formulierte, bis in die siebziger Jahre hinein modische Restaurationsthese für völlig falsch. Er meint, in Westdeutschland sei es 1948/49 keineswegs zur Wiederherstellung des alten Kapitalismus, von Militarismus und autoritärer Staatsordnung gekommen. Sogar die heute noch verbreitete Ansicht, in der Bundesrepublik sei die Vergangenheitsbewältigung gescheitert, hält er für weit übertrieben. Er stimmt dem holländischen Historiker Friso Wielenga zu: Zwar habe es keine tiefgreifende moralische Katharsis gegeben, doch die Vergangenheit sei ständig präsent als Gegen-Identität der jungen Demokratie gewesen und habe die Basis für eine politische Katharsis gebildet.
Sontheimer betont, er wolle kein wissenschaftliches Werk vorlegen. Vielmehr gehe es ihm darum, einen bestimmten Aspekt der politischen Kultur der Bundesrepublik, eben das Verhältnis von "Geist, Kultur und Politik" in Form von Essays zu beleuchten. Das erlaubt ihm, auf ausführliche Analysen zu verzichten und seine Bewertungen lediglich durch Meinungen zu begründen - durch seine eigene Meinung sowie durch die Meinungen ähnlich denkender Fachkollegen. Gewiß, wer sich auskennt, weiß, daß Sontheimers Bewertungen inzwischen von der Mehrheit der anerkannten Zeithistoriker geteilt werden. Doch Sontheimer will ja die interessierten Laien erreichen, und es könnte sein, daß diese Zielgruppe zwar nach eingängiger, wohlformulierter Lektüre verlangt, aber zugleich mehr Hintergrund wünscht.
Problematischer ist, daß Sontheimer offensichtlich glaubt, der essayistische Charakter seiner Schrift erlaube den Verzicht auf klare Auswahlkriterien. So geht er mit dem Begriff "Geist" recht großzügig um. Die Vertreter des "Geistes" sind für ihn die Intellektuellen, und in der französischen, von Zola begründeten Tradition versteht er unter Intellektuellen intelligente Leute, die sich politisch engagieren, publizistisch äußern und mehr oder weniger unabhängig sind. So weit, so gut. Sontheimer interessiert sich aber vor allem für die Schriftsteller, von Hans-Werner Richter und Heinrich Böll über Hans Magnus Enzensberger bis zu Günter Grass. Ihnen gilt seine besondere Liebe, wenn er auch an ihrer politischen Urteilsfähigkeit zu Recht oft verzweifelt. Außerdem zitiert er Philosophen wie Karl Jaspers und Jürgen Habermas, deren Blindheit für die politische Realität ihn (und den Leser) den Kopf schütteln läßt. Daneben erwähnt er eine ganze Reihe von Historikern und Politologen; in dieser Gruppe findet er einige Unterstützung für seine Sicht. Warum ignoriert er aber die Journalisten fast vollständig? Hätte er sie einbezogen, so wäre der deutsche "Geist" nicht ganz so wirklichkeitsfremd erschienen. Sollte er etwa Journalisten, mögen sie noch so viel Einfluß haben, nicht zum "Geist" rechnen?
Der geneigte Leser wird aber diese Schwächen als läßliche Sünden ansehen, die durch treffende Plädoyers für politische Vernunft mehr als wettgemacht werden. Zwei besonders aktuelle Beispiele sollen zeigen, wie Sontheimer argumentiert: Er meint, Angst verkaufe sich in Deutschland besonders gut.
"Die Realität des Lebens in der Bundesrepublik, die zu den westlichen Staaten gehört, die auch für die vom Leben relativ Benachteiligten ein dichtes soziales Netz ausgebreitet haben, dürfte eigentlich nicht gerade ein günstiger Nährboden für die Verbreitung von Ängsten sein. Dennoch scheint es so, als seien Deutsche aller sozialen Schichten für Angstparolen empfänglicher als die Menschen in anderen westlichen Gesellschaften. Was sind die Gründe? Die starken Besitzverteidigungsinteressen der westdeutschen bürgerlichen Gesellschaft generieren Ängste vor einem möglichen Verlust, . . . doch eine wichtige Erklärung für das deutsche Angstphänomen scheint mir darin zu liegen, daß das geistige Klima, das öffentliche Meinungsbild in der Bundesrepublik durch ein zu hohes Maß an Kritik und Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen geprägt wird."
Er ärgert sich über die Ansicht, der Wiedervereinigungsprozeß sei mißlungen. "Vielmehr läßt sich gerade der Prozeß der Vereinigung, ungeachtet der Mängel und Defizite, die man bei ihm konstatieren mag, als eine große Leistung der Deutschen würdigen. Natürlich handelt es sich um einen ziemlich einseitigen Prozeß . . . Die Last der Veränderung, die im großen und ganzen eine Veränderung zum Besseren war, wurde ausschließlich den Ostdeutschen zugemutet, nicht den Westdeutschen. Wie hätte es anders sein können? Hatten die Bürger der DDR . . . etwas anderes gewollt als ein Leben in ähnlich prosperierenden Verhältnissen wie die Landsleute in der Bundesrepublik? . . . Es ist eine klare Mißachtung des Volkswillens der Ostdeutschen, von der Wiedervereinigung als einer Kolonisierung Ostdeutschlands zu sprechen, wie dies einige linke Intellektuelle noch immer tun zu müssen glauben."
DIETER GROSSER
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Kurt Sontheimer widerspricht politischen Klischees über die westdeutsche Nachkriegsgeschichte
Kurt Sontheimer: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. Verlag C. H. Beck, München 1999. 262 Seiten, 38,- Mark.
Kurt Sontheimer hat sich seit langem für das Verhältnis von "Geist" und "Macht" interessiert. Stets klagte er, unter den westdeutschen Intellektuellen überwiege die Neigung zu einer destruktiven Kritik an Politik. Es würden höchste Maßstäbe gesetzt; die Frage, ob politische Praxis diesen Maßstäben überhaupt entsprechen könne, werde ignoriert. Politik werde daher als unzulänglich, oft sogar als unmoralisch bewertet. Mit Vorliebe würden Katastrophen prophezeit. Selten sei in der Bundesrepublik hingegen Kritik, wie sie der französische Publizist und Soziologe Raymond Aron geübt habe: Kritik, die der Freiheit und Menschlichkeit verpflichtet ist, stets aber auch die Realität berücksichtigt und fragt, wie es in der konkreten Lage möglich ist, einem Ideal näher zu kommen.
Den 50. Geburtstag der Bundesrepublik nimmt Sontheimer zum Anlaß, den Kontrast zwischen der Entwicklung der Bundesrepublik, so wie sie in Wirklichkeit seit 1949 verlief, und den Kassandrarufen herauszuarbeiten, zu denen die Intellektuellen neigten. Der Titel seiner Schrift "So war Deutschland nie" nimmt das Ergebnis in doppelter Hinsicht vorweg: Die Bundesrepublik ist für Sontheimer eine gelungene Demokratie, sie blickt auf eine glückliche Entwicklung zurück. Sie habe schon in den fünfziger Jahren nicht mehr viel und seit den siebziger Jahren nichts mehr mit dem obrigkeitsstaatlichen, nationalistischen Deutschland früherer Zeiten gemein gehabt.
Aus dieser Sicht folgt, daß die Bundesrepublik auch nie so war, wie sie von der Mehrzahl der Intellektuellen dargestellt wurde. So hält Sontheimer die zuerst 1950 von Walter Dirks formulierte, bis in die siebziger Jahre hinein modische Restaurationsthese für völlig falsch. Er meint, in Westdeutschland sei es 1948/49 keineswegs zur Wiederherstellung des alten Kapitalismus, von Militarismus und autoritärer Staatsordnung gekommen. Sogar die heute noch verbreitete Ansicht, in der Bundesrepublik sei die Vergangenheitsbewältigung gescheitert, hält er für weit übertrieben. Er stimmt dem holländischen Historiker Friso Wielenga zu: Zwar habe es keine tiefgreifende moralische Katharsis gegeben, doch die Vergangenheit sei ständig präsent als Gegen-Identität der jungen Demokratie gewesen und habe die Basis für eine politische Katharsis gebildet.
Sontheimer betont, er wolle kein wissenschaftliches Werk vorlegen. Vielmehr gehe es ihm darum, einen bestimmten Aspekt der politischen Kultur der Bundesrepublik, eben das Verhältnis von "Geist, Kultur und Politik" in Form von Essays zu beleuchten. Das erlaubt ihm, auf ausführliche Analysen zu verzichten und seine Bewertungen lediglich durch Meinungen zu begründen - durch seine eigene Meinung sowie durch die Meinungen ähnlich denkender Fachkollegen. Gewiß, wer sich auskennt, weiß, daß Sontheimers Bewertungen inzwischen von der Mehrheit der anerkannten Zeithistoriker geteilt werden. Doch Sontheimer will ja die interessierten Laien erreichen, und es könnte sein, daß diese Zielgruppe zwar nach eingängiger, wohlformulierter Lektüre verlangt, aber zugleich mehr Hintergrund wünscht.
Problematischer ist, daß Sontheimer offensichtlich glaubt, der essayistische Charakter seiner Schrift erlaube den Verzicht auf klare Auswahlkriterien. So geht er mit dem Begriff "Geist" recht großzügig um. Die Vertreter des "Geistes" sind für ihn die Intellektuellen, und in der französischen, von Zola begründeten Tradition versteht er unter Intellektuellen intelligente Leute, die sich politisch engagieren, publizistisch äußern und mehr oder weniger unabhängig sind. So weit, so gut. Sontheimer interessiert sich aber vor allem für die Schriftsteller, von Hans-Werner Richter und Heinrich Böll über Hans Magnus Enzensberger bis zu Günter Grass. Ihnen gilt seine besondere Liebe, wenn er auch an ihrer politischen Urteilsfähigkeit zu Recht oft verzweifelt. Außerdem zitiert er Philosophen wie Karl Jaspers und Jürgen Habermas, deren Blindheit für die politische Realität ihn (und den Leser) den Kopf schütteln läßt. Daneben erwähnt er eine ganze Reihe von Historikern und Politologen; in dieser Gruppe findet er einige Unterstützung für seine Sicht. Warum ignoriert er aber die Journalisten fast vollständig? Hätte er sie einbezogen, so wäre der deutsche "Geist" nicht ganz so wirklichkeitsfremd erschienen. Sollte er etwa Journalisten, mögen sie noch so viel Einfluß haben, nicht zum "Geist" rechnen?
Der geneigte Leser wird aber diese Schwächen als läßliche Sünden ansehen, die durch treffende Plädoyers für politische Vernunft mehr als wettgemacht werden. Zwei besonders aktuelle Beispiele sollen zeigen, wie Sontheimer argumentiert: Er meint, Angst verkaufe sich in Deutschland besonders gut.
"Die Realität des Lebens in der Bundesrepublik, die zu den westlichen Staaten gehört, die auch für die vom Leben relativ Benachteiligten ein dichtes soziales Netz ausgebreitet haben, dürfte eigentlich nicht gerade ein günstiger Nährboden für die Verbreitung von Ängsten sein. Dennoch scheint es so, als seien Deutsche aller sozialen Schichten für Angstparolen empfänglicher als die Menschen in anderen westlichen Gesellschaften. Was sind die Gründe? Die starken Besitzverteidigungsinteressen der westdeutschen bürgerlichen Gesellschaft generieren Ängste vor einem möglichen Verlust, . . . doch eine wichtige Erklärung für das deutsche Angstphänomen scheint mir darin zu liegen, daß das geistige Klima, das öffentliche Meinungsbild in der Bundesrepublik durch ein zu hohes Maß an Kritik und Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen geprägt wird."
Er ärgert sich über die Ansicht, der Wiedervereinigungsprozeß sei mißlungen. "Vielmehr läßt sich gerade der Prozeß der Vereinigung, ungeachtet der Mängel und Defizite, die man bei ihm konstatieren mag, als eine große Leistung der Deutschen würdigen. Natürlich handelt es sich um einen ziemlich einseitigen Prozeß . . . Die Last der Veränderung, die im großen und ganzen eine Veränderung zum Besseren war, wurde ausschließlich den Ostdeutschen zugemutet, nicht den Westdeutschen. Wie hätte es anders sein können? Hatten die Bürger der DDR . . . etwas anderes gewollt als ein Leben in ähnlich prosperierenden Verhältnissen wie die Landsleute in der Bundesrepublik? . . . Es ist eine klare Mißachtung des Volkswillens der Ostdeutschen, von der Wiedervereinigung als einer Kolonisierung Ostdeutschlands zu sprechen, wie dies einige linke Intellektuelle noch immer tun zu müssen glauben."
DIETER GROSSER
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