Der international bekannte Filmregisseur Koreeda Hirokazu (_1962), Gewinner zahlreicher Filmpreise, veröffentlicht auch regelmäßig Romane mit hoher literarischer Qualität zu seinen Filmen. 2008 kam der Film Aruite mo aruite mo ("So weit wir auch gehen", bekannt unter dem englischen Titel Still Walking) in die Kinos, während fast zeitgleich auch der Roman erschien. Der Film schildert mehr oder weniger chronologisch die Begebenheiten während eines Familientreffens auf dem Lande anlässlich des fünfzehnten Todestages des älteren Sohns am Ende des Sommers. Der Roman selbst berichtet die Ereignisse aus der Perspektive des Ich-Erzählers Yokoyama Ry ta, wobei im Gegensatz zum Film Erinnerungen an Kindheit und Jugend wie auch die Geschehnisse nach dem Wochenende wie z.B. der Tod von Vater und Mutter ausführlich geschildert werden.Eine zentrale Rolle in der Geschichte spielt der besagte jüngere Bruder Yokoyama Ry ta, ein moderner japanischer Mann von heute - Großstädter, von Beruf Restaurateur und verheiratet mit der Kuratorin Yukari, die einen Sohn aus erster Ehe in die Verbindung mitbrachte. Schnell werden während der Familienfeier, an der neben den Eltern auch die Familie der Schwester teilnimmt, die Spannungen innerhalb der Familie deutlich. Auch der füllige und nicht sonderlich erfolgreiche junge Mann, bei dessen Rettung der ältere Bruder starb, stattet einen Besuch ab. Zuerst steht ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt im Mittelpunkt. Aber nach und nach wird deutlich, dass es auch ansonsten mit der Harmonie innerhalb der Familie nicht zum besten gestellt ist. So rächt sich die Mutter seit Jahren an ihrem Mann für die schweren seelischen Verletzungen, die er ihr in der Vergangenheit zugefügt hat. Vor allem aber konnte die Lücke, die der ältere Sohn durch seinen Tod in der Familie hinterlassen hat, nie geschlossen werden. Zwei Motive prägen die Geschichte im Roman mit; zum einen die Frage, was in der heutigen Zeit in Japan eigentlich in Bezug auf Beruf oder Familie als "normal", als gültiger Wertmaßstab, gelten kann, und zum zweiten das wehmütige Bedauern darüber, die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit nie wieder gutmachen zu können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2020LITERATUR
In deinen Armen schwanken
Der Tag, an dem der Vater an den Rand des Familienbildes gedrängt wird: Hirokazu Koreeda wiederholt
mit „So weit wir auch gehen“ die Geschichte eines seiner Filme noch einmal als Roman
VON FRITZ GÖTTLER
Wie schön, sagt Yukari, als sie das Blumenarrangement an der Eingangstür sieht, welche Ikebana-Schule das denn sei, fragt sie ihre Schwiegermutter. Auch ihren Mann Ryota hatte sie danach gefragt. „Du meinst so etwas wie omote oder ura“, hat der erwidert und wurde prompt ausgelacht – das sind doch Teezeremonien: „Ach nein, das ist typisch Mann. Obara oder ikenobi oder so sind Ikebana-Richtungen!“
Die Nuancen sind wesentlich in Japan, Akkuratesse ist das Merkmal seiner Kultur und der Kleinteiligkeit ihrer Erzählungen. Die dramatische Atemlosigkeit des Westens ist ihr fremd. Hier im Westen hat man vorschnell das Wort Minimalismus dafür, als ginge es um Größen, nicht um erzählerische Intensitäten.
Immer wieder wird das Familientreffen ausgebremst, weil einer sich an einen Sumoringer erinnert, aber wie war gleich der Name, oder an einen Typen aus der Hawaii-Reklame: Ein heißer Tag im Sommer, am Meer, die Yokoyamas kommen zusammen, wie jedes Jahr, im Haus der Eltern, der Sohn und die Tochter sind da, jeweils mit Lebenspartner und Kindern. Es ist ein Gedenktag, für den ältesten Sohn Junpei, der vor fünfzehn Jahren gestorben ist, ertrunken, als er einen anderen Jungen aus dem Meer rettete. Man besucht sein Grab auf dem kleinen Friedhof am Meer, mit einer Schöpfkelle gießt die Mutter kühlendes Wasser über den Grabstein, und die nassen Schriftzeichen Yokoyama leuchten für einen Moment schwarz auf. Die Mutter hat, für diese Begegnung mit dem Toten, dünn Lippenstift aufgetragen.
Der Vater ist Arzt, von den Patienten geachtet, aber nun praktiziert er nicht mehr. An seiner Praxis aber hat er das Schild gelassen. Die meiste Zeit sitzt er im alten Behandlungszimmer, in Selbstisolation, allein mit seinen Träumen. Ohne einen Sohn, der ihm nachfolgen würde. Junpei hatte Medizin studiert, Ryota wollte von Medizin nichts wissen. Er hat die junge Witwe Yukari geheiratet, die bereits einen kleinen Sohn hat. Ryota arbeitet als Kunstrestaurator, der Vater reagiert verächtlich, als man ihm sagt, das wären die Ärzte der Gemälde.
„Aruite mo aruite mo/Still Walking“ war 2008 einer der internationalen Erfolge des Filmemachers Hirokazu Koreeda. Im Jahr 2016 hat er die Geschichte auch als Roman herausgebracht. Die Gelassenheit des Films ist geschwunden, das Geschehen in den Kopf von Ryota gepresst. Er ist der Erzähler, zögerlich, unzufrieden mit seinem Leben. In allen Dingen ein wenig zu spät.
Die Kinder spielen vor dem Haus unter der roten Lagerströmie, immerzu wird gegessen oder neues Essen zubereitet, Tempura, Aallebersuppe und Sushi, dazu Windbeutel, eine Melone. Ryotas Zimmer ist, anders als das des toten Bruders, mit Gerümpel vollgestellt: „Weil zu Hause so viele unbenutzte Sachen von früher herumstanden, war das Leben im Haus in seine Winkel verdrängt worden“.
Wie jedes Jahr soll ein Foto gemacht werden. Der Vater, bedacht im Zentrum sich zu platzieren, wird an den Rand verdrängt, die unausgereifte Selbstinszenierung macht ihn zur komischen Figur. Anders als der Film wirft der Roman Blicke über den Tag hinaus, auf den Tod des Vaters, die Demenz der Mutter. In Koreedas Filmen ist der Tod auf eine spielerische Weise präsent, die Dialektik von Leben und Tod, das Nachleben. „After Life“ heißt einer seiner frühen Filme von 1998, da müssen die eben verstorbenen Menschen in einem Zwischenreich selbst aus ihrem Leben wählen, worin sie ihre Erinnerung daran konzentriert sehen mögen.
„Die Lichter der Stadt sind sehr schön, nicht wahr“, heißt es in einem Lied, das im Haus der Eltern immer wieder erklingt: „Yokohama Blue Light“ ... Ein Lied, das von weit her kommt, ein Schlager der Siebziger, vor der Weltausstellung in Tokio. Tatsächlich findet der Sohn die alte Platte und legt sie auf. Eine Zeile daraus hat dem Buch von Hirokazu Koreeda den Titel gegeben: „So weit wir auch gehen, wie ein kleines Boot schwanke ich, schwanke in deinen Armen.“
Die Mutter hat den Schlager gern gehört und auch gesungen. Einmal sang sie ihn, als sie mit dem jungen Ryota auf der Rückkehr aus der Stadt war: „Während ich den Rücken meiner singenden Mutter unverwandt anschaute, lief ich ihr mit einem ein ganz klein wenig größeren Abstand hinterher. Mich beschäftigt heute die Frage, was für ein Gesicht Mutter wohl gemacht hat, als sie dieses Lied sang.“
Koreeda Hirokazu: So weit wir auch gehen. Übersetzt, eingeleitet und mit einem Glossar versehen von Reinold Ophüls-Kashima. Iudicium Verlag, München 2020. 150 Seiten, 18 Euro.
Immerzu wird gegessen oder
gekocht: Tempura, Aallebersuppe,
Windbeutel, eine Melone
Der Familienausflug in Koreedas Film „Still Walking“ von 2008.
Foto: Mary Evans/imago images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In deinen Armen schwanken
Der Tag, an dem der Vater an den Rand des Familienbildes gedrängt wird: Hirokazu Koreeda wiederholt
mit „So weit wir auch gehen“ die Geschichte eines seiner Filme noch einmal als Roman
VON FRITZ GÖTTLER
Wie schön, sagt Yukari, als sie das Blumenarrangement an der Eingangstür sieht, welche Ikebana-Schule das denn sei, fragt sie ihre Schwiegermutter. Auch ihren Mann Ryota hatte sie danach gefragt. „Du meinst so etwas wie omote oder ura“, hat der erwidert und wurde prompt ausgelacht – das sind doch Teezeremonien: „Ach nein, das ist typisch Mann. Obara oder ikenobi oder so sind Ikebana-Richtungen!“
Die Nuancen sind wesentlich in Japan, Akkuratesse ist das Merkmal seiner Kultur und der Kleinteiligkeit ihrer Erzählungen. Die dramatische Atemlosigkeit des Westens ist ihr fremd. Hier im Westen hat man vorschnell das Wort Minimalismus dafür, als ginge es um Größen, nicht um erzählerische Intensitäten.
Immer wieder wird das Familientreffen ausgebremst, weil einer sich an einen Sumoringer erinnert, aber wie war gleich der Name, oder an einen Typen aus der Hawaii-Reklame: Ein heißer Tag im Sommer, am Meer, die Yokoyamas kommen zusammen, wie jedes Jahr, im Haus der Eltern, der Sohn und die Tochter sind da, jeweils mit Lebenspartner und Kindern. Es ist ein Gedenktag, für den ältesten Sohn Junpei, der vor fünfzehn Jahren gestorben ist, ertrunken, als er einen anderen Jungen aus dem Meer rettete. Man besucht sein Grab auf dem kleinen Friedhof am Meer, mit einer Schöpfkelle gießt die Mutter kühlendes Wasser über den Grabstein, und die nassen Schriftzeichen Yokoyama leuchten für einen Moment schwarz auf. Die Mutter hat, für diese Begegnung mit dem Toten, dünn Lippenstift aufgetragen.
Der Vater ist Arzt, von den Patienten geachtet, aber nun praktiziert er nicht mehr. An seiner Praxis aber hat er das Schild gelassen. Die meiste Zeit sitzt er im alten Behandlungszimmer, in Selbstisolation, allein mit seinen Träumen. Ohne einen Sohn, der ihm nachfolgen würde. Junpei hatte Medizin studiert, Ryota wollte von Medizin nichts wissen. Er hat die junge Witwe Yukari geheiratet, die bereits einen kleinen Sohn hat. Ryota arbeitet als Kunstrestaurator, der Vater reagiert verächtlich, als man ihm sagt, das wären die Ärzte der Gemälde.
„Aruite mo aruite mo/Still Walking“ war 2008 einer der internationalen Erfolge des Filmemachers Hirokazu Koreeda. Im Jahr 2016 hat er die Geschichte auch als Roman herausgebracht. Die Gelassenheit des Films ist geschwunden, das Geschehen in den Kopf von Ryota gepresst. Er ist der Erzähler, zögerlich, unzufrieden mit seinem Leben. In allen Dingen ein wenig zu spät.
Die Kinder spielen vor dem Haus unter der roten Lagerströmie, immerzu wird gegessen oder neues Essen zubereitet, Tempura, Aallebersuppe und Sushi, dazu Windbeutel, eine Melone. Ryotas Zimmer ist, anders als das des toten Bruders, mit Gerümpel vollgestellt: „Weil zu Hause so viele unbenutzte Sachen von früher herumstanden, war das Leben im Haus in seine Winkel verdrängt worden“.
Wie jedes Jahr soll ein Foto gemacht werden. Der Vater, bedacht im Zentrum sich zu platzieren, wird an den Rand verdrängt, die unausgereifte Selbstinszenierung macht ihn zur komischen Figur. Anders als der Film wirft der Roman Blicke über den Tag hinaus, auf den Tod des Vaters, die Demenz der Mutter. In Koreedas Filmen ist der Tod auf eine spielerische Weise präsent, die Dialektik von Leben und Tod, das Nachleben. „After Life“ heißt einer seiner frühen Filme von 1998, da müssen die eben verstorbenen Menschen in einem Zwischenreich selbst aus ihrem Leben wählen, worin sie ihre Erinnerung daran konzentriert sehen mögen.
„Die Lichter der Stadt sind sehr schön, nicht wahr“, heißt es in einem Lied, das im Haus der Eltern immer wieder erklingt: „Yokohama Blue Light“ ... Ein Lied, das von weit her kommt, ein Schlager der Siebziger, vor der Weltausstellung in Tokio. Tatsächlich findet der Sohn die alte Platte und legt sie auf. Eine Zeile daraus hat dem Buch von Hirokazu Koreeda den Titel gegeben: „So weit wir auch gehen, wie ein kleines Boot schwanke ich, schwanke in deinen Armen.“
Die Mutter hat den Schlager gern gehört und auch gesungen. Einmal sang sie ihn, als sie mit dem jungen Ryota auf der Rückkehr aus der Stadt war: „Während ich den Rücken meiner singenden Mutter unverwandt anschaute, lief ich ihr mit einem ein ganz klein wenig größeren Abstand hinterher. Mich beschäftigt heute die Frage, was für ein Gesicht Mutter wohl gemacht hat, als sie dieses Lied sang.“
Koreeda Hirokazu: So weit wir auch gehen. Übersetzt, eingeleitet und mit einem Glossar versehen von Reinold Ophüls-Kashima. Iudicium Verlag, München 2020. 150 Seiten, 18 Euro.
Immerzu wird gegessen oder
gekocht: Tempura, Aallebersuppe,
Windbeutel, eine Melone
Der Familienausflug in Koreedas Film „Still Walking“ von 2008.
Foto: Mary Evans/imago images
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam schätzt den gnadenlosen Blick des japanischen Autors und Regisseurs Hirokazu Koreeda auf Familiendramen, "überkommene Traditionen" und Geschlechterklischees. In dem im Original bereits 2008 erschienenen Roman, der wie der Film "Still Walking" vom langsamen Zerfall einer Familie in mehreren Generationen erzählt, stößt der Kritiker einmal mehr auf Koreedas Beschreibungskunst und dessen Gespür für sich zuspitzende Konflikte und Abgründe. Allein wie der Autor Motive wie Trauer, Leid des Alters und gebrochene Versprechen mit einem "Abgesang auf das alte Japan" verknüpft, hat den Rezensenten tief beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2020Abschied von den Wassermelonen
Zwischen Weltschmerz und Weiterleben: Ein Familienmelodram des Regisseurs und Autors Hirokazu Koreeda.
In meinem Leben kam ich immer ein klein wenig zu spät." Der 1962 geborene japanische Regisseur und Schriftsteller Hirokazu Koreeda, der seine Themen in Kino und Literatur bisweilen mehrfach verwertet, wurde in Deutschland mit seinen Filmen "Unsere kleine Schwester" (2015) und "Shoplifters - Familienbande" (2018) einem größeren Publikum bekannt. In seinen Werken betreibt er gern ein Mimikry von Familiendramen und ist darüber zum Chronisten von Patchwork-Existenzen und Ersatzheimaten geworden - mit scharfem Blick auf den trügerischen Kokon aus überkommener Tradition und Zugehörigkeit.
Doch schwingt in seinen Abgesängen auf das alte Japan auch der Gestus eines Archivars der Erinnerung mit. 2008 erschien in seinem Heimatland der nun ins Deutsche übersetzte Roman "So weit wir auch gehen" und zugleich auch ein Film mit dem gleichen Titel (der international als "Still Walking" vermarktet wurde). Roman und Film erzählen vom jährlichen Familientreffen am Wohnort der Eltern anlässlich des Todestags ihres durch einen Unfall gestorbenen ältesten Sohnes.
Im Buch ist dessen jüngerer Bruder Ryota der Erzähler. Ihn begleiten die ihm gerade angetraute und angesichts des ersten Besuchs bei den Schwiegereltern nervöse Yukari - Hauptverdienerin des frisch vermählten Ehepaars - sowie deren videospielsüchtiger Sohn aus erster Ehe. In umgekehrter Bewegung zu Yasujiro Ozus Filmklassiker "Die Reise nach Tokio" (1953) fährt hier die jüngere Generation von Tokio aus zu einem kleinen Küstenort. Dort erwartet sie der Vater (Arzt im Ruhestand), die gastliche, aber spitzzüngige Mutter und Ryotas selbstsüchtige Schwester samt Sunnyboy-Gemahl und gemeinsamen zwei Kindern.
Koreeda zeichnet aufeinanderprallende Weltbilder, Figuren und Geschlechterklischees. Das teils quälend minutiös geschilderte Familientreffen bietet Raum für schwelende Konflikte und Missverständnisse, die im Rhythmus der Gezeiten eskalieren und deeskalieren. Schwundbilder des japanischen Landlebens sind präsent über traditionelle Gewerke wie das Bespannen von Schiebetüren mit Papier oder einen Waffelladen, der einem 24-Stunden-Shop weichen muss. Ryota steht im Schatten seines verstorbenen Vorzeigebruders, der als Medizinstudent in des Vaters Spuren hätte treten sollen.
Die Tragik des Patriarchen und ausgedienten Workaholics bezeugen dessen immer noch nicht abmontiertes Arzt-Schild an der Praxis oder die Demütigung, wenn man ihn beim Familienfoto nicht mehr in der Mitte plaziert. Auch die Tochter, die ins Elternhaus umziehen will, hat eher praktisch-finanzielle Erwägungen als Kindespflichten im Kopf, zumal sie die väterlichen Praxisräume dafür abreißen lassen will. Beim Familie-Spielen werden auch Abgründe aus der ehedem vermittelten Ehe der Eltern deutlich, wenn die Mutter den Gästen den Schlager "Blue Light Yokohama" vorspielt - ein nur dem Vater verständlicher Seitenhieb, weil er dieses Musikstück mit einer Geliebten gehört hatte.
Die reduzierte Handlung geht mit spiritueller Symbolik einher: ein Tunnel aus Bäumen beim Anstieg zum Elternhaus als "Himmelstreppe", der Friedhof mit Meeresblick, wo der tote Sohn begraben liegt, oder ein gelber Schmetterling, in dem die Mutter dessen Reinkarnation vermutet. Anders als der Film umfasst der Roman auch die Zeit vor und nach dem Familientreffen: nachbarschaftliches Verspeisen gekühlter Wassermelonen in der Kinderzeit oder der spätere Sterbeprozess der Eltern.
Die Grundstimmung des Romans entsteht aus der Trauer über nicht eingelöste Versprechen, verkannte Elternliebe und die Leiden des Alterns. Das "Irgendwann des Sterbens" ist für Ryota auf der Rückreise nach Tokio nun nicht mehr vage und ungefähr. Bei allem Weltschmerz ist das Buch aber auch eine Ode auf das Leben und Weiterleben in der Generationenfolge: Der Vater stirbt zur Zeit der Kirschblüte, und Ryota macht nach dem Tod der Mutter endlich den Führerschein, auch wenn er sie nun nicht mehr zum Einkaufen fahren wird. Aus den Kindern werden Eltern, deren eigene Kinder ihnen dann auch ein wenig zu spät, aber "unsagbar" dankbar sein dürften.
STEFFEN GNAM
Koreeda Hirokazu: "So weit wir auch gehen". Roman.
Aus dem Japanischen, eingeleitet und mit einem Glossar versehen von Reinold Ophüls-Kashima. Iudicium Verlag, München 2020. 150 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Weltschmerz und Weiterleben: Ein Familienmelodram des Regisseurs und Autors Hirokazu Koreeda.
In meinem Leben kam ich immer ein klein wenig zu spät." Der 1962 geborene japanische Regisseur und Schriftsteller Hirokazu Koreeda, der seine Themen in Kino und Literatur bisweilen mehrfach verwertet, wurde in Deutschland mit seinen Filmen "Unsere kleine Schwester" (2015) und "Shoplifters - Familienbande" (2018) einem größeren Publikum bekannt. In seinen Werken betreibt er gern ein Mimikry von Familiendramen und ist darüber zum Chronisten von Patchwork-Existenzen und Ersatzheimaten geworden - mit scharfem Blick auf den trügerischen Kokon aus überkommener Tradition und Zugehörigkeit.
Doch schwingt in seinen Abgesängen auf das alte Japan auch der Gestus eines Archivars der Erinnerung mit. 2008 erschien in seinem Heimatland der nun ins Deutsche übersetzte Roman "So weit wir auch gehen" und zugleich auch ein Film mit dem gleichen Titel (der international als "Still Walking" vermarktet wurde). Roman und Film erzählen vom jährlichen Familientreffen am Wohnort der Eltern anlässlich des Todestags ihres durch einen Unfall gestorbenen ältesten Sohnes.
Im Buch ist dessen jüngerer Bruder Ryota der Erzähler. Ihn begleiten die ihm gerade angetraute und angesichts des ersten Besuchs bei den Schwiegereltern nervöse Yukari - Hauptverdienerin des frisch vermählten Ehepaars - sowie deren videospielsüchtiger Sohn aus erster Ehe. In umgekehrter Bewegung zu Yasujiro Ozus Filmklassiker "Die Reise nach Tokio" (1953) fährt hier die jüngere Generation von Tokio aus zu einem kleinen Küstenort. Dort erwartet sie der Vater (Arzt im Ruhestand), die gastliche, aber spitzzüngige Mutter und Ryotas selbstsüchtige Schwester samt Sunnyboy-Gemahl und gemeinsamen zwei Kindern.
Koreeda zeichnet aufeinanderprallende Weltbilder, Figuren und Geschlechterklischees. Das teils quälend minutiös geschilderte Familientreffen bietet Raum für schwelende Konflikte und Missverständnisse, die im Rhythmus der Gezeiten eskalieren und deeskalieren. Schwundbilder des japanischen Landlebens sind präsent über traditionelle Gewerke wie das Bespannen von Schiebetüren mit Papier oder einen Waffelladen, der einem 24-Stunden-Shop weichen muss. Ryota steht im Schatten seines verstorbenen Vorzeigebruders, der als Medizinstudent in des Vaters Spuren hätte treten sollen.
Die Tragik des Patriarchen und ausgedienten Workaholics bezeugen dessen immer noch nicht abmontiertes Arzt-Schild an der Praxis oder die Demütigung, wenn man ihn beim Familienfoto nicht mehr in der Mitte plaziert. Auch die Tochter, die ins Elternhaus umziehen will, hat eher praktisch-finanzielle Erwägungen als Kindespflichten im Kopf, zumal sie die väterlichen Praxisräume dafür abreißen lassen will. Beim Familie-Spielen werden auch Abgründe aus der ehedem vermittelten Ehe der Eltern deutlich, wenn die Mutter den Gästen den Schlager "Blue Light Yokohama" vorspielt - ein nur dem Vater verständlicher Seitenhieb, weil er dieses Musikstück mit einer Geliebten gehört hatte.
Die reduzierte Handlung geht mit spiritueller Symbolik einher: ein Tunnel aus Bäumen beim Anstieg zum Elternhaus als "Himmelstreppe", der Friedhof mit Meeresblick, wo der tote Sohn begraben liegt, oder ein gelber Schmetterling, in dem die Mutter dessen Reinkarnation vermutet. Anders als der Film umfasst der Roman auch die Zeit vor und nach dem Familientreffen: nachbarschaftliches Verspeisen gekühlter Wassermelonen in der Kinderzeit oder der spätere Sterbeprozess der Eltern.
Die Grundstimmung des Romans entsteht aus der Trauer über nicht eingelöste Versprechen, verkannte Elternliebe und die Leiden des Alterns. Das "Irgendwann des Sterbens" ist für Ryota auf der Rückreise nach Tokio nun nicht mehr vage und ungefähr. Bei allem Weltschmerz ist das Buch aber auch eine Ode auf das Leben und Weiterleben in der Generationenfolge: Der Vater stirbt zur Zeit der Kirschblüte, und Ryota macht nach dem Tod der Mutter endlich den Führerschein, auch wenn er sie nun nicht mehr zum Einkaufen fahren wird. Aus den Kindern werden Eltern, deren eigene Kinder ihnen dann auch ein wenig zu spät, aber "unsagbar" dankbar sein dürften.
STEFFEN GNAM
Koreeda Hirokazu: "So weit wir auch gehen". Roman.
Aus dem Japanischen, eingeleitet und mit einem Glossar versehen von Reinold Ophüls-Kashima. Iudicium Verlag, München 2020. 150 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main