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Produktdetails
  • Verlag: Brunnen-Verlag, Gießen
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 701
  • Abmessung: 185mm
  • Gewicht: 464g
  • ISBN-13: 9783765536946
  • Artikelnr.: 09484406
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1998

Gott erat demonstrandum
Achtzig Jahre vor dem Herrn: Die Autobiographie des begeisterten Predigers Billy Graham

In der Bibel steht viel geschrieben. Der Bogen spannt sich von dem blutrünstigen "Wohl dem, der deine kleinen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein!" des 137. Psalms bis zum "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen" der Bergpredigt. Jeder Bibelgläubige liest das, was er lesen will, und verdrängt den Rest. Auch der Evangelist Billy Graham, der am heutigen Samstag sein achtzigstes Lebensjahr vollendet, ist keine Ausnahme. Die frohe Botschaft, die er verkündet, kommt vom humanen und friedfertigen Ende des Spektrums des Christentums. Natürlich wähnt auch er sich im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit, aber er will seine Mitmenschen auf sanfte Art von ihr überzeugen. Er liebt das Zuckerbrot der endlosen Seligkeit mehr als die Peitsche der ewigen Verdammnis. Zumindest ist das der Eindruck, den ein naiver Agnostiker wie der Rezensent bei der Lektüre von Grahams Autobiographie "So wie ich bin" gewinnen kann.

Bei seiner Arbeit kommt Graham sein ausgeprägtes rhetorisches Talent zugute. Einer wie er hätte es nicht nötig gehabt, die Wechsler aus dem Tempel zu werfen, er hätte so lange auf sie eingeredet, bis sie freiwillig gegangen wären, nicht ohne ihm noch einige Sesterzen für seine Unkosten zuzustecken. Graham hat sein Leben lang geredet und zugehört. Er hat den Massen gepredigt und mit einzelnen Menschen gesprochen, mit Schwarzen und Weißen, mit Präsidenten und Huren, mit Pharisäern und Zöllnern. Dabei hat er eine schlagkräftige Organisation aufgebaut, die es ihm ermöglicht, ein großes Publikum zu erreichen.

Deutschland hat zwei Staatskirchen und hundert politische Parteien. In den Vereinigten Staaten ist es umgekehrt. Dort sind die Kirchen Teil des Showbusiness. Sie müssen tagtäglich genauso um das Geld der Bürger buhlen wie die kalifornischen Filmstudios. Die Vielfalt der Kirchen beginnt bei den Televangelisten, die den Sparstrumpf der armen Witwe ausplündern, um sich goldene Wasserhähne zu kaufen, bis durch einen unglücklichen Zufall ihre Weibergeschichten aufkommen. Sie endet noch lange nicht bei den frommen Amish in Pennsylvania, die mit ihren schmucken Pferdewagen umherfahren, keine Sozialversicherung zahlen und die Landwirtschaft nebst Andenkenverkauf sehr erfolgreich betreiben.

Graham ist Baptist. Die Baptisten sind eine Kirche, die den Lehren des Urchristentums nahesteht. Sie kennen kein gemeinsames Glaubensbekenntnis. Jeder, der an Christus und die Bibel glauben will, ist willkommen. Die theologischen Spitzfindigkeiten sind nicht so wichtig. Graham geifert in seinem Buch nicht gegen die Lehre von der Evolution oder wider die Sünde der Bluttransfusion. Die Bibel ist für ihn die absolute Grundlage, aber in Zweifelsfällen entscheidet nicht ein geistliches Oberhaupt, sondern die göttliche Eingebung.

Stereotyp führt der Evangelist bei jeder seiner Massenpredigten auf, wie viele Zuhörer am Ende "ihr Leben Jesus Christus anvertrauten". Wie dauerhaft diese Bekehrungen waren, kann man nicht wissen. Wozu auch? Graham ist kein Buchhalter. Wie ein Politiker im Wahlkampf hebt er nur die positiven Aspekte hervor. Er lügt nich, aber er beherrscht die hohe Kunst des Weglassens. Der Standpunkt der höllischen Gegenseite ist sowieso allgemein bekannt. Das Buch ist eine Autobiographie, kein missionarischer Text. Aber Graham wäre nicht Graham, wenn er nicht immer wieder dezent auf die Wohltaten Gottes hinwiese. Satan hat so manches Mal versucht, ihm Hindernisse in den Weg zu legen, aber Gott war immer stärker. Quod erat demonstrandum.

Graham hat sich nach seinem dreißigsten Lebensjahr kaum noch weiterentwickelt. Auf Seite 160 (von fast 700) verliert er die noch vorhandenen religiösen Zweifel, danach sind seine Überzeugungen konstant. Der Leser empfindet deshalb einen gewisse Eintönigkeit. Am Ende geschieht immer das Gleiche. Aber vermutlich spiegelt das genau das Leben des Verfassers wider. Die Bibel hat sich schließlich auch seit 1800 Jahren nicht mehr geändert. Geändert hat sich allenfalls die Art, wie wir Sünder vom göttlichen Gebot abweichen. Auch wenn das christliche Rapkonzert ("Jammin' in the Dome") mit High-Tech-Lightshow von 1994 dreißig Jahre vorher undenkbar gewesen wäre, die Predigt danach befaßte sich mit der "unveränderten Botschaft von Jesus Christus". Sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen. Und gegen alten Wein ist ja auch nichts einzuwenden.

Aber auch wer nicht religiös ist, könnte Interesse an diesem Buch finden. Billy Graham hat zwar international missioniert, aber er hat das doch auf eine spezifisch amerikanische Weise getan, selbst wenn ihm das vielleicht nie bewußt war. Er ist der Prototyp des unbekümmerten zupackenden Amerikaners, der nicht zögert, Hilfe zu leisten, wann und wo er es für nötig hält. Wer Billy Graham verstehen gelernt hat, der begreift auch das Sendungsbewußtsein, das hinter den Care-Paketen und dem Vietnam-Krieg stand.

Der Evangelist war eine Art Beichtvater für alle amerikanischen Präsidenten von Eisenhower bis Clinton. Mit Truman hatte er es sich verdorben, weil er in seiner jugendlichen Unerfahrenheit vor der Presse zuviel redete. Es ist wohl immer noch so, daß ein amerikanischer Präsident praktizierender Christ sein muß, weil er sonst keine Chance gehabt hätte, gewählt zu werden. Ob Kalkül oder ehrliche Überzeugung, jedenfalls war Graham immer ein gern gesehener Gast im Weißen Haus, er hat auch für manchen der Bewohner das letzte Gebet gesprochen. Die Vorstellung, daß ein Ludwig Erhard im Pyjama neben einem Evangelisten wie Werner Heukelbach vor dem Bett kniet und um Inspiration betet, käme uns Deutschen wohl eher seltsam vor, aber Graham und Lyndon B. Johnson pflegten genau das zu tun.

Johnsons "moralische Verfehlungen" machen den Verfasser traurig, aber er beherzigt auch das Christuswort, daß man in solchen Fällen nicht den ersten Stein werfen soll. Überhaupt teilt er wohl nicht die neurotische Fixierung mancher Kollegen auf das sechste Gebot. Wenn man ihn danach fragt, redet er biblischen Klartext, aber meistens hat er andere Dinge im Kopf. Er regt sich nicht lauthals über den "Playboy" auf. Selber lesen wird er ihn allerdings wohl auch nicht. Und er ist trotz seiner achtzig Jahre immer noch sehr auf seinen Ruf bedacht. Einmal lehnte er eine Einladung von Hillary Clinton zum Essen ab, denn: "Ich esse prinzipiell nicht allein mit schönen Frauen." Man einigte sich dann auf ein Dinner mitten im Speisesaal eines Hotels.

Viel erzählt er nicht über seine Kontakte mit den Präsidenten. Er bleibt so diskret, wie man es von einem geistlichen Beistand erwarten kann. Er hat auch nie vor Wahlen öffentlich Partei ergriffen. Es wäre ihm oft auch schwergefallen, weil er mit beiden Kanditaten befreundet war. Selbst über Richard Nixon schreibt er hauptsächlich Gutes. Dessen Verfehlungen schildert er als eine unverständliche zeitweilige Verirrung eines ansonsten integren Mannes. "Und man hätte dieses Thema schon vor langer Zeit endlich ruhen lassen sollen." Das ist Ansichtssache, aber bei einem Geistlichen ist ein solches tiefes Verständnis für die Unvollkommenheit der Menschen eine Tugend. Vor allem, wenn es sich nicht auf hohe konservative Politiker beschränkt, sondern auch jemanden wie die vierfache Mörderin Velma Barfield einbezieht, von der an anderer Stelle die Rede ist.

Natürlich steht in dem Buch auch das, was man sonst von einer Autobiographie erwartet. Kindheit, Jugend, Ausbildung, die ersten Arbeitsplätze, Ehe, Kinder, Krankheiten, es wird alles ausführlich geschildert. Nur kann man vermuten, daß Tausende von Predigern eine ähnliche Biographie hatten. Warum gerade aus dem Sohn des Milchbauern Frank Graham aus North Carolina der bekannteste Evangelist wurde, wahrlich, wir wissen es nicht.

1947 begannen die Kampagnen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, in den Vereinigten Staaten und im Ausland, bis zur völligen Erschöpfung. Allein die Liste der Orte füllt schon sechs Seiten im Buch. So wie andere Amerikaner ihre Greenbacks zählen, so zählt Graham die geretteten Seelen. Man wäre nicht sehr überrascht, wenn man erführe, daß er für jede Million eine Kerbe in seine Bibel schnitzt.

Die Technik gewann leider im Laufe der Jahre eine immer größere Bedeutung für Grahams Tätigkeit. Am Anfang stand er noch persönlich vor seinen Zuhörern. Später wuchs das Interesse so, daß die Boxarenen und Baseballstadien nicht mehr ausreichten. Film, Fernsehen, Telefon, Satelliten, Internet; was zur Verfügung stand, es wurde verwendet. Inzwischen verläuft der typische Kontakt mit ihm so, daß man ihn auf einer Bildröhre sieht und hinterher noch die Möglichkeit hat, per Telefon mit einem freiwilligen Helfer zu sprechen. Die oben erwähnten Amish hingegen haben noch nicht einmal Kirchen. Sie treffen sich reihum in ihren Häusern. Was menschlicher ist, muß jeder für sich selbst entscheiden.

Religion ist Opium fürs Volk, schrieb der Europäer Marx. Grahams Religion ist anders. Sie ist eine uramerikanische Droge wie die Hühnersuppe mit Reis, die Maurice Sendak so überzeugend besungen hat. ERNST HORST

Billy Graham: "So wie ich bin". Die Autobiographie. Brunnen Verlag, Gießen 1998. 699 S., Abb., geb., 49,80 DM.

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