Produktdetails
- Verlag: Unionsverlag
- Originaltitel: Walkin' the Dog
- Seitenzahl: 271
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 445g
- ISBN-13: 9783293002906
- ISBN-10: 3293002900
- Artikelnr.: 09933714
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2002Luther in L.A.
Stadt der betrunkenen Engel: Walter Mosleys Ghetto-Roman
Bill Clinton erklärte den schwarzen Krimischriftsteller Walter Mosley Anfang der Neunziger zu seinem Lieblingsautor. Auch das jüngste Werk des Amerikaners dürfte ihm gefallen haben. Zwar schreibt Mosley keine Krimis mehr, aber das Milieu, in dem sich seine Figuren bewegen, ist das gleiche geblieben. "Socrates' Welt" handelt von einem sechzigjährigen schwarzen Bewohner des für seine sozialen Unruhen bekannten Los-Angeles-Ghettos Watts.
Socrates ist der Sohn eines Trinkers und einer überforderten Mutter, er hat eines Mordes wegen siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht und bemüht sich seither um einen unauffälligen Lebenswandel. Das ist nicht ganz einfach, denn die Gewaltbereitschaft steckt ihm in den Knochen, er fühlt eine Wut im Bauch, die sich mit Schuldgefühlen und Angst vor einem Rückfall mischt. Während der seinem Helden nahe Erzähler uns Socrates' seelische Nöte anvertraut, verrät die Achtung der anderen, wie weit der Exsträfling es in neun Jahren Freiheit mit der Selbstdisziplin gebracht hat. Er ist zum Vertrauten des jungen Straftäters Darryl geworden, das Wohlwollen der Frauen ist ihm sicher, und er genießt auch die Wertschätzung seines Arbeitgebers, eines Supermarkt-Managers, der ihn aus der Pack- gern in die gutbezahlte Gemüseabteilung versetzen möchte. Es bedarf einiger Überredungskunst und Schicksalsschläge, bis Socrates trotz beharrlicher Skrupel das Angebot annimmt.
Mit viel Einfühlungsvermögen und Sinn für die düstere Kollegialität der Underdogs schildert Mosley die Tage am Rande des Existenzminimums, den gehetzten Schlaf des von Albträumen Gequälten, seine Dosenmahlzeiten und gelegentlichen Stippvisiten in einem Diner, mit dessen Betreiberin er die Wochenendnächte verbringt. Einsilbige Besuche in Kneipen, die nur drei Getränkesorten anbieten, gehören ebenso zu seiner Feierabendroutine wie die Teilnahme an einem larmoyanten Gesprächskreis, der sich regelmäßig beim örtlichen Bestattungsunternehmer trifft. Immer wenn sich in der Nähe ein Mord ereignet, wird Socrates' karger Zweizimmerunterschlupf von Polizeipatrouillen heimgesucht, hin und wieder landet er grundlos in Untersuchungshaft; nur als er tatsächlich aus Notwehr einen weiteren Mord begeht, verdächtigt ihn niemand.
Wie es die Handlungslogik will, treibt ihn das schlechte Gewissen nun zu allen erdenklichen guten und sogar heroischen Taten. Doch hier versagt das dramaturgische Talent des Autors, denn sein Protagonist ist trotz gelegentlicher Faustschläge und eines tödlichen Steinwurfs von Anfang an hoffnungslos gut. Der in seinen Entscheidungen wirksame kategorische Imperativ würde einen Kant erblassen lassen, die Gewissensskrupel nähmen es mit Martin Luther auf. Socrates ist nicht der einzige gute Mensch im Ghetto.
Unter der Oberfläche gereizter Verletztheit streben alle Figuren zum Licht, wälzen moralische Hypothesen, geben selbstlose Ratschläge und gehen regelmäßig zum Gottesdienst. Als Socrates in einem Akt der Selbstreinigung auf die Ermordung eines bösen, weißen Polizeibeamten verzichtet und dessen Untaten statt dessen auf einem umgeschnallten Cheeseboard vor dem Polizeirevier kundtut, kommt es zu einem Aufstand des farbigen Stadtteils. Socrates avanciert zum Märtyrer, übernimmt nach seiner triumphalen Entlassung aus einem illegalen Polizeigewahrsam den Posten in der Gemüseabteilung und zieht dank einer größeren Schmerzensgeldzahlung in ein nobles Haus um.
Der Roman hat etwas von einer Legende; ein bedeutungsschwangerer Engel, der in Gestalt eines von Socrates reformierten Säufers auftritt, spielt eine große Rolle. Die Funktion der Utopie übernimmt eine illegale Garagenparty, auf der Frauen aller Couleur, barbusig, in Latex oder Transparenz gekleidet, dem Liebesgospel frönen: "Kuck dich hier um, Mensch", erklärt der Gastgeber: "Alle Hautfarben und Weltanschauungen. Und das gilt eines Tages für ganz Amerika." Mosley macht Socrates zur moralischen Stimmgabel des schwarzen Selbstgefühls, sein weiser Nobody ist ein kalifornischer Kohlhaas und hat als den Aufstand entzündender Funke das Potential zur allegorischen Gestalt. Solange es sich nicht um weiße Polizisten handelt, sind die Übeltäter bei Mosley bedauernswerte Kreaturen, die zum Opfer ihrer Umwelt wurden: "Und daß man schreit oder zuschlägt", erklärt Socrates jedem, der es noch nicht begriffen hat, "- das muß man doch meistens, eben weil ei'm sonst kein Mensch zuhört."
Die Übersetzerin Pieke Biermann überträgt den L.A.-Slang in einen transgermanischen Baustellenjargon und schlägt sich dabei besser durch, als wenn sie aus Einsicht ins Schiefe und Krumme jeder Dialektübertragung zum Hochdeutschen gegriffen hätte. Ihre Vision trifft das Original, insofern sie genuschelt und schwerfällig ist. Sie bleibt den Figuren näher als der Autor selbst, der mit einem Auge auf die mögliche Verfilmung seines Stoffes kleine Hollywood-Einlagen nicht verschmäht: Als Mosleys Martin-Luther-King-Doppelgänger einmal das Büro einer Wohnbaugesellschaft betritt, die ihn vor die Tür setzen will, empfängt ihn ein "schönes Kind". Grund genug, den wortkargen Proleten in einen brillanten Causeur zu verwandeln: "Hat Ihnen mal jemand gesagt, daß Sie jetzt schon eine Schönheit sind, Malva?" Den Namen hatte er auf dem Schild vor ihr gelesen - manche Pointen eignen sich mehr für den Kameraschwenk.
INGEBORG HARMS
Walter Mosley: "Socrates' Welt". Aus dem Englischen übersetzt von Pieke Biermann. Unionsverlag, Zürich 2001. 272 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stadt der betrunkenen Engel: Walter Mosleys Ghetto-Roman
Bill Clinton erklärte den schwarzen Krimischriftsteller Walter Mosley Anfang der Neunziger zu seinem Lieblingsautor. Auch das jüngste Werk des Amerikaners dürfte ihm gefallen haben. Zwar schreibt Mosley keine Krimis mehr, aber das Milieu, in dem sich seine Figuren bewegen, ist das gleiche geblieben. "Socrates' Welt" handelt von einem sechzigjährigen schwarzen Bewohner des für seine sozialen Unruhen bekannten Los-Angeles-Ghettos Watts.
Socrates ist der Sohn eines Trinkers und einer überforderten Mutter, er hat eines Mordes wegen siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht und bemüht sich seither um einen unauffälligen Lebenswandel. Das ist nicht ganz einfach, denn die Gewaltbereitschaft steckt ihm in den Knochen, er fühlt eine Wut im Bauch, die sich mit Schuldgefühlen und Angst vor einem Rückfall mischt. Während der seinem Helden nahe Erzähler uns Socrates' seelische Nöte anvertraut, verrät die Achtung der anderen, wie weit der Exsträfling es in neun Jahren Freiheit mit der Selbstdisziplin gebracht hat. Er ist zum Vertrauten des jungen Straftäters Darryl geworden, das Wohlwollen der Frauen ist ihm sicher, und er genießt auch die Wertschätzung seines Arbeitgebers, eines Supermarkt-Managers, der ihn aus der Pack- gern in die gutbezahlte Gemüseabteilung versetzen möchte. Es bedarf einiger Überredungskunst und Schicksalsschläge, bis Socrates trotz beharrlicher Skrupel das Angebot annimmt.
Mit viel Einfühlungsvermögen und Sinn für die düstere Kollegialität der Underdogs schildert Mosley die Tage am Rande des Existenzminimums, den gehetzten Schlaf des von Albträumen Gequälten, seine Dosenmahlzeiten und gelegentlichen Stippvisiten in einem Diner, mit dessen Betreiberin er die Wochenendnächte verbringt. Einsilbige Besuche in Kneipen, die nur drei Getränkesorten anbieten, gehören ebenso zu seiner Feierabendroutine wie die Teilnahme an einem larmoyanten Gesprächskreis, der sich regelmäßig beim örtlichen Bestattungsunternehmer trifft. Immer wenn sich in der Nähe ein Mord ereignet, wird Socrates' karger Zweizimmerunterschlupf von Polizeipatrouillen heimgesucht, hin und wieder landet er grundlos in Untersuchungshaft; nur als er tatsächlich aus Notwehr einen weiteren Mord begeht, verdächtigt ihn niemand.
Wie es die Handlungslogik will, treibt ihn das schlechte Gewissen nun zu allen erdenklichen guten und sogar heroischen Taten. Doch hier versagt das dramaturgische Talent des Autors, denn sein Protagonist ist trotz gelegentlicher Faustschläge und eines tödlichen Steinwurfs von Anfang an hoffnungslos gut. Der in seinen Entscheidungen wirksame kategorische Imperativ würde einen Kant erblassen lassen, die Gewissensskrupel nähmen es mit Martin Luther auf. Socrates ist nicht der einzige gute Mensch im Ghetto.
Unter der Oberfläche gereizter Verletztheit streben alle Figuren zum Licht, wälzen moralische Hypothesen, geben selbstlose Ratschläge und gehen regelmäßig zum Gottesdienst. Als Socrates in einem Akt der Selbstreinigung auf die Ermordung eines bösen, weißen Polizeibeamten verzichtet und dessen Untaten statt dessen auf einem umgeschnallten Cheeseboard vor dem Polizeirevier kundtut, kommt es zu einem Aufstand des farbigen Stadtteils. Socrates avanciert zum Märtyrer, übernimmt nach seiner triumphalen Entlassung aus einem illegalen Polizeigewahrsam den Posten in der Gemüseabteilung und zieht dank einer größeren Schmerzensgeldzahlung in ein nobles Haus um.
Der Roman hat etwas von einer Legende; ein bedeutungsschwangerer Engel, der in Gestalt eines von Socrates reformierten Säufers auftritt, spielt eine große Rolle. Die Funktion der Utopie übernimmt eine illegale Garagenparty, auf der Frauen aller Couleur, barbusig, in Latex oder Transparenz gekleidet, dem Liebesgospel frönen: "Kuck dich hier um, Mensch", erklärt der Gastgeber: "Alle Hautfarben und Weltanschauungen. Und das gilt eines Tages für ganz Amerika." Mosley macht Socrates zur moralischen Stimmgabel des schwarzen Selbstgefühls, sein weiser Nobody ist ein kalifornischer Kohlhaas und hat als den Aufstand entzündender Funke das Potential zur allegorischen Gestalt. Solange es sich nicht um weiße Polizisten handelt, sind die Übeltäter bei Mosley bedauernswerte Kreaturen, die zum Opfer ihrer Umwelt wurden: "Und daß man schreit oder zuschlägt", erklärt Socrates jedem, der es noch nicht begriffen hat, "- das muß man doch meistens, eben weil ei'm sonst kein Mensch zuhört."
Die Übersetzerin Pieke Biermann überträgt den L.A.-Slang in einen transgermanischen Baustellenjargon und schlägt sich dabei besser durch, als wenn sie aus Einsicht ins Schiefe und Krumme jeder Dialektübertragung zum Hochdeutschen gegriffen hätte. Ihre Vision trifft das Original, insofern sie genuschelt und schwerfällig ist. Sie bleibt den Figuren näher als der Autor selbst, der mit einem Auge auf die mögliche Verfilmung seines Stoffes kleine Hollywood-Einlagen nicht verschmäht: Als Mosleys Martin-Luther-King-Doppelgänger einmal das Büro einer Wohnbaugesellschaft betritt, die ihn vor die Tür setzen will, empfängt ihn ein "schönes Kind". Grund genug, den wortkargen Proleten in einen brillanten Causeur zu verwandeln: "Hat Ihnen mal jemand gesagt, daß Sie jetzt schon eine Schönheit sind, Malva?" Den Namen hatte er auf dem Schild vor ihr gelesen - manche Pointen eignen sich mehr für den Kameraschwenk.
INGEBORG HARMS
Walter Mosley: "Socrates' Welt". Aus dem Englischen übersetzt von Pieke Biermann. Unionsverlag, Zürich 2001. 272 S., geb., 17,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "philosophischen Ex-Häftling" bezeichnet Leuchtenmüller den Helden aus Mosleys anderer Erzählreihe neben den Easy-Rawlins-Büchern). "Socrates' Welt" ist der zweite aus dieser Folge, und wie in den meisten Büchern des afroamerikanischen Autors dient Socrates laut Leuchtenmüller mehr oder weniger als Katalysator für unzählige Geschichten und Schicksale der amerikanischen black community. Jede Nebenfigur habe eine unverwechselbare Stimme und ein eigenes Profil, schwärmt der Rezensent, der insgesamt von den Easy-Rawlins-Büchern, ohne es explizit zuzugeben, begeisterter zu sein scheint. An der Übersetzung von Pieke Biermann hat er nichts auszusetzen, das einzig Störende für ihn ist der ab und an zu hoch erhobende moralische Zeigefinger des Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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