Der Erfolg der ersten Ausgabe dieses Buchs hat uns durchaus überrascht. "SODOM UND GOMORRHA kann als Grundstein einer zukünftigen queer-Mediävistik gelten" lobte die ZEITSCHRIFT FÜR GERMANISTIK. Der Verlag "stößt mit dieser Veröffentlichung praktisch in ein Niemandsland vor", schrieb die FAZ. Die FAZ war es auch, die sich für eine Nachauflage die Ergänzung um ein Register wünschte. Zwei Jahre nach Erscheinen legen wir nun eine grundlegend überarbeitete und um einen Index der Orte und Personen sowie um ein Sachregister ergänzte Neuausgabe vor. Nach dem Aspekt der Verfolgung behandelt der vorliegende Band die Alltagssituation der "Sodomiter" und frühe Formen einer "Subkultur". Eine klare Trennung zwischen Text und Anhang gewährleistet, dass das Buch wie ein "Lesebuch" aufgenommen werden kann. Die beiden Register dienen einer schnellen Erschließung des Textes unter speziellen Forschungsgesichtspunkten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.1998Sodomiten, gebt uns unsere Schiffe zurück!
Der Klageruf aus dem Munde des Klägers: Im Mittelalter waren Homosexuelle als Sündenböcke hochwillkommen
Der Sehende kann auch heute noch offenen Auges direkt ins Mittelalter wandern. Am einfachsten fällt das in den noch zahlreich erhaltenen freskierten Kirchen Italiens. Das lebendigste Bild von der Alltagswirklichkeit geben dabei nicht die frommen Darstellungen der Engelschöre oder der Heiligen im Paradiese. Viel interessanter sind die oft genau gegenüber an den Nordseiten abgebildeten Schreckensszenen der Qualen der Hölle.
Im Dom von San Gimignano, Toskana, etwa ist eine Szene zu beobachten, in der ein Mann von einem Dämonen gepfählt wird und mit einer Papierkrone, welche die Aufschrift "Sotomitta" trägt, bekrönt ist. So wollten es in seltener Eintracht kirchliche und weltliche Obrigkeit, das war nach dem mittelalterlichen Prinzip der Spiegelbildlichkeit der Weltordnung die zu erwartende Strafe für Sodomiten. Selbstverständlich galt dieses Talionprinzip für alle Sünder: Der Wucherer wurde mit glühenden Münzen gefüttert, der Mörder zersägt und so weiter. Daß diese Strafen durchaus nicht nur der Rache Gottes anheimgestellt, sondern tatkräftig von der irdischen Gerichtsbarkeit angewandt wurden, zeigen die Kriminalordnungen der damaligen Zeit überdeutlich.
Daß auch in weniger öffentlichen Verhandlungen diese Vergeltung weidlich geübt wurde, und zwar insbesondere, wenn es um Homosexualität ging, ist durch das Ende König Edwards II. von England bekannt. Er wurde mit Hilfe einer glühenden Eisenstange gepfählt und auf diese Weise ermordet. Wie allerdings Bernd-Ulrich Hergemöller nachweist, war die Tötung eines Adeligen wegen des in den Quellen oft einfach "die stumme Sünde" (nach einer falschen, aber typisch mittelalterlichen Etymologie aus peccatum ignominiae) genannten Vergehens, eine Ausnahme. Bei Edward ist sowieso eher das Motiv des Königsmordes zu unterstellen. Klerus und Adel hatten sich auch diesen Bereich der Welt darein geteilt, daß gewöhnliche Leute seit dem sechsten und vermehrt seit dem zwölften Jahrhundert für diese Tat verbrannt (und zwar auch im Falle einer sogenannten Verführung beider Beteiligten), Geistliche aber in ein Kloster verbannt wurden und Adeligen die Flucht ermöglicht wurde.
Nachdem Hergemöller weitschweifig ergründet hat, ob es überhaupt korrekt sei, für das Mittelalter von Homosexualität oder Homosexuellen zu sprechen, und diese Frage dann doch mit "ja" beantwortet, schlägt er in seinem Werk einen Bogen vom Beginn der systematischen, gesetzlich legitimierten Verfolgung Homosexueller seit Kaiser Justinian bis zum Ausgang des Mittelalters und gibt in einem kurzen Überblick noch eine Zusammenfassung der weiteren Rechtsentwicklung bis ins zwanzigste Jahrhundert. In Venedig gab es zum Beispiel eine eigene Sonderkommission zur Ausforschung von homosexuellen Vorgängen, die, obwohl nicht der Kirche unterstellt, sich der kirchlichen Inquisitionspraxis bediente. Nach Schätzungen Hergemöllers fielen allein dieser Sondertruppe mehr als fünfhundert Menschen zum Opfer.
Die Verfolgung Homosexueller war von christlichen Theologen (und hier ist keine der verschiedenen Spielarten dieser Religion, ob römisch, orthodox oder später reformiert, ausgenommen) direkt aus der Bibel begründet worden, klarerweise zuvorderst mit der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas, aber auch besonders aus dem Römerbrief 1,26 des Paulus. Nach diesem bezog sich die im Mittelalter am weitesten verbreitete Bezeichnung "Sodomie" auf alle sexuellen Betätigungen "wider die Natur", also von Masturbation über Kontakt zwischen Menschen gleichen Geschlechts (auch und besonders bei Paulus an erster Stelle Frauen), aber auch heterosexuellem Analverkehr bis zu Verkehr mit Tieren. Auf letztere Betätigung wurde der Begriff der Sodomie, wie er heute noch gebräuchlich ist, erst im neunzehnten Jahrhundert eingeengt. Und in der Behauptung der Widernatürlichkeit lag auch die Begründung der Verfolgung, die an Grausamkeit durchaus den seinerzeitigen Pogromen gegen Juden und in der Neuzeit den Hexenverfolgungen gleichzusetzen ist.
Homosexuelle, denen seit der Auslegung der Gesetze Justinians im dreizehnten Jahrhundert genauso wie allen Andersgläubigen (Juden, Albigensern, Waldensern, Hussiten - die Reihe ließe sich ad infinitum verlängern) der Vorwurf der Ketzerei gemacht wurde, störten den Schöpfungsplan. Sie waren aus christlicher Sicht schlimmer als Vergewaltiger, denn sie verweigerten sich der Fortpflanzung. Sie trugen nach dieser Ansicht die Schuld an Naturkatastrophen und Seuchen, in Fällen, wo seefahrende Gemeinden betroffen waren (Venedig oder Holland), sogar am Verlust von Schiffen mit Handelsgut aus See!
Hergemöller gelingt es auch nachzuweisen, daß Homosexuelle schon im Mittelalter durchaus als eigene Gruppe angesehen wurden und selbst frühe Formen einer Subkultur, zumindest in bestimmten Städten wie Rom, Florenz oder Köln, ausbilden konnten (bestimmte Treffpunkte wie Latrinen oder Barbierstuben waren schon damals offenbar beliebt), ja sich in Einzelfällen die Sodomiten nicht einmal als Sünder betrachteten, sondern sogar mit Schriftzitaten ihr Leben zu rechtfertigen imstande waren.
"Sodom und Gomorrha" ist eine Zusammenfassung aus zum Teil nicht mehr erhältlichen, zum Teil erstmalig veröffentlichten Aufsätzen des Autors und wurde für diese Zusammenschau neu überarbeitet. Obwohl im englischen Sprachraum gerade durch die Genderstudies des letzten Jahrzehnts bereits sehr viel über Homosexualität seit dem späten Mittelalter vorliegt (zum Beispiel von John Boswell oder Michael J. Rocke), liegt dieses Forschungsfeld in Mitteleuropa bislang mit einigen wenigen Ausnahmen völlig brach. Englische oder amerikanische Arbeiten wurden ignoriert. Der MännerschwarmSkript Verlag stößt mit dieser Veröffentlichung praktisch in ein Niemandsland vor. Leider strotzt das Buch in seiner ersten Auflage vor Druckfehlern und exzessiver Anwendung von Anführungszeichen. Die von Bernd-Ulrich Hergemöller angewandte Methode der kapitelweisen Stichwortzentrierung, um den, wie er es nennt, "lesehemmenden Anmerkungsapparat" zu umgehen, hätte nur dann etwas für sich, wenn sie um ein Register ergänzt würde. Dies könnte die wissenschaftliche Benutzbarkeit doch erheblich steigern. Eine sicher bald auf dem Markt benötigte zweite Auflage sollte dahingehend wesentlich überarbeitet werden. MARTIN LHOTZKY
Bernd-Ulrich Hergemöller: "Sodom und Gomorrha". Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 1998. 216 S., 1 Abb., br., 36,- DM.
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Der Klageruf aus dem Munde des Klägers: Im Mittelalter waren Homosexuelle als Sündenböcke hochwillkommen
Der Sehende kann auch heute noch offenen Auges direkt ins Mittelalter wandern. Am einfachsten fällt das in den noch zahlreich erhaltenen freskierten Kirchen Italiens. Das lebendigste Bild von der Alltagswirklichkeit geben dabei nicht die frommen Darstellungen der Engelschöre oder der Heiligen im Paradiese. Viel interessanter sind die oft genau gegenüber an den Nordseiten abgebildeten Schreckensszenen der Qualen der Hölle.
Im Dom von San Gimignano, Toskana, etwa ist eine Szene zu beobachten, in der ein Mann von einem Dämonen gepfählt wird und mit einer Papierkrone, welche die Aufschrift "Sotomitta" trägt, bekrönt ist. So wollten es in seltener Eintracht kirchliche und weltliche Obrigkeit, das war nach dem mittelalterlichen Prinzip der Spiegelbildlichkeit der Weltordnung die zu erwartende Strafe für Sodomiten. Selbstverständlich galt dieses Talionprinzip für alle Sünder: Der Wucherer wurde mit glühenden Münzen gefüttert, der Mörder zersägt und so weiter. Daß diese Strafen durchaus nicht nur der Rache Gottes anheimgestellt, sondern tatkräftig von der irdischen Gerichtsbarkeit angewandt wurden, zeigen die Kriminalordnungen der damaligen Zeit überdeutlich.
Daß auch in weniger öffentlichen Verhandlungen diese Vergeltung weidlich geübt wurde, und zwar insbesondere, wenn es um Homosexualität ging, ist durch das Ende König Edwards II. von England bekannt. Er wurde mit Hilfe einer glühenden Eisenstange gepfählt und auf diese Weise ermordet. Wie allerdings Bernd-Ulrich Hergemöller nachweist, war die Tötung eines Adeligen wegen des in den Quellen oft einfach "die stumme Sünde" (nach einer falschen, aber typisch mittelalterlichen Etymologie aus peccatum ignominiae) genannten Vergehens, eine Ausnahme. Bei Edward ist sowieso eher das Motiv des Königsmordes zu unterstellen. Klerus und Adel hatten sich auch diesen Bereich der Welt darein geteilt, daß gewöhnliche Leute seit dem sechsten und vermehrt seit dem zwölften Jahrhundert für diese Tat verbrannt (und zwar auch im Falle einer sogenannten Verführung beider Beteiligten), Geistliche aber in ein Kloster verbannt wurden und Adeligen die Flucht ermöglicht wurde.
Nachdem Hergemöller weitschweifig ergründet hat, ob es überhaupt korrekt sei, für das Mittelalter von Homosexualität oder Homosexuellen zu sprechen, und diese Frage dann doch mit "ja" beantwortet, schlägt er in seinem Werk einen Bogen vom Beginn der systematischen, gesetzlich legitimierten Verfolgung Homosexueller seit Kaiser Justinian bis zum Ausgang des Mittelalters und gibt in einem kurzen Überblick noch eine Zusammenfassung der weiteren Rechtsentwicklung bis ins zwanzigste Jahrhundert. In Venedig gab es zum Beispiel eine eigene Sonderkommission zur Ausforschung von homosexuellen Vorgängen, die, obwohl nicht der Kirche unterstellt, sich der kirchlichen Inquisitionspraxis bediente. Nach Schätzungen Hergemöllers fielen allein dieser Sondertruppe mehr als fünfhundert Menschen zum Opfer.
Die Verfolgung Homosexueller war von christlichen Theologen (und hier ist keine der verschiedenen Spielarten dieser Religion, ob römisch, orthodox oder später reformiert, ausgenommen) direkt aus der Bibel begründet worden, klarerweise zuvorderst mit der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas, aber auch besonders aus dem Römerbrief 1,26 des Paulus. Nach diesem bezog sich die im Mittelalter am weitesten verbreitete Bezeichnung "Sodomie" auf alle sexuellen Betätigungen "wider die Natur", also von Masturbation über Kontakt zwischen Menschen gleichen Geschlechts (auch und besonders bei Paulus an erster Stelle Frauen), aber auch heterosexuellem Analverkehr bis zu Verkehr mit Tieren. Auf letztere Betätigung wurde der Begriff der Sodomie, wie er heute noch gebräuchlich ist, erst im neunzehnten Jahrhundert eingeengt. Und in der Behauptung der Widernatürlichkeit lag auch die Begründung der Verfolgung, die an Grausamkeit durchaus den seinerzeitigen Pogromen gegen Juden und in der Neuzeit den Hexenverfolgungen gleichzusetzen ist.
Homosexuelle, denen seit der Auslegung der Gesetze Justinians im dreizehnten Jahrhundert genauso wie allen Andersgläubigen (Juden, Albigensern, Waldensern, Hussiten - die Reihe ließe sich ad infinitum verlängern) der Vorwurf der Ketzerei gemacht wurde, störten den Schöpfungsplan. Sie waren aus christlicher Sicht schlimmer als Vergewaltiger, denn sie verweigerten sich der Fortpflanzung. Sie trugen nach dieser Ansicht die Schuld an Naturkatastrophen und Seuchen, in Fällen, wo seefahrende Gemeinden betroffen waren (Venedig oder Holland), sogar am Verlust von Schiffen mit Handelsgut aus See!
Hergemöller gelingt es auch nachzuweisen, daß Homosexuelle schon im Mittelalter durchaus als eigene Gruppe angesehen wurden und selbst frühe Formen einer Subkultur, zumindest in bestimmten Städten wie Rom, Florenz oder Köln, ausbilden konnten (bestimmte Treffpunkte wie Latrinen oder Barbierstuben waren schon damals offenbar beliebt), ja sich in Einzelfällen die Sodomiten nicht einmal als Sünder betrachteten, sondern sogar mit Schriftzitaten ihr Leben zu rechtfertigen imstande waren.
"Sodom und Gomorrha" ist eine Zusammenfassung aus zum Teil nicht mehr erhältlichen, zum Teil erstmalig veröffentlichten Aufsätzen des Autors und wurde für diese Zusammenschau neu überarbeitet. Obwohl im englischen Sprachraum gerade durch die Genderstudies des letzten Jahrzehnts bereits sehr viel über Homosexualität seit dem späten Mittelalter vorliegt (zum Beispiel von John Boswell oder Michael J. Rocke), liegt dieses Forschungsfeld in Mitteleuropa bislang mit einigen wenigen Ausnahmen völlig brach. Englische oder amerikanische Arbeiten wurden ignoriert. Der MännerschwarmSkript Verlag stößt mit dieser Veröffentlichung praktisch in ein Niemandsland vor. Leider strotzt das Buch in seiner ersten Auflage vor Druckfehlern und exzessiver Anwendung von Anführungszeichen. Die von Bernd-Ulrich Hergemöller angewandte Methode der kapitelweisen Stichwortzentrierung, um den, wie er es nennt, "lesehemmenden Anmerkungsapparat" zu umgehen, hätte nur dann etwas für sich, wenn sie um ein Register ergänzt würde. Dies könnte die wissenschaftliche Benutzbarkeit doch erheblich steigern. Eine sicher bald auf dem Markt benötigte zweite Auflage sollte dahingehend wesentlich überarbeitet werden. MARTIN LHOTZKY
Bernd-Ulrich Hergemöller: "Sodom und Gomorrha". Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 1998. 216 S., 1 Abb., br., 36,- DM.
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