Eine fesselnde Reportage aus dem Innersten des Vatikans: Der französische Journalist Frédéric Martel beschreibt, wie katholische Priester, Kardinäle und Bischöfe die rigide, homophobe Sexualmoral verteidigen. Obwohl die meisten von ihnen selbst homosexuell sind.
Warum diese Doppelmoral? Warum wird so hartnäckig geschwiegen, warum wird gegen Papst Franziskus intrigiert, den ersten Papst, der homophobe Positionen lockern will?
Dahinter steckt ein weltweiter Machtzirkel homosexueller Priester und Würdenträger, die sich selbst als die »Gemeinde« bezeichnen.
Sie verhindern jede Liberalisierung, um ihr Doppelleben zu schützen: Ob es um Kondome geht, um die gleichgeschlechtliche Ehe oder die wichtigste Bastion: das Zölibat. Auch das Schweigen über sexuellen Missbrauch ist Teil dieses Systems.
Ein Buch, mit dem Martel die Geschichte des Vatikans seit den 1970er Jahren neu schreibt. Er zeigt die Pontifikate von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus in gänzlich anderem Licht. Grandios geschrieben, hautnah, spannend wie ein Roman über Macht und Intrigen im Vatikan.
»Sensationell!« Sunday Times
Warum diese Doppelmoral? Warum wird so hartnäckig geschwiegen, warum wird gegen Papst Franziskus intrigiert, den ersten Papst, der homophobe Positionen lockern will?
Dahinter steckt ein weltweiter Machtzirkel homosexueller Priester und Würdenträger, die sich selbst als die »Gemeinde« bezeichnen.
Sie verhindern jede Liberalisierung, um ihr Doppelleben zu schützen: Ob es um Kondome geht, um die gleichgeschlechtliche Ehe oder die wichtigste Bastion: das Zölibat. Auch das Schweigen über sexuellen Missbrauch ist Teil dieses Systems.
Ein Buch, mit dem Martel die Geschichte des Vatikans seit den 1970er Jahren neu schreibt. Er zeigt die Pontifikate von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus in gänzlich anderem Licht. Grandios geschrieben, hautnah, spannend wie ein Roman über Macht und Intrigen im Vatikan.
»Sensationell!« Sunday Times
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Wenn Frédéric Martel in seinem Buch über Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan mit konkreten Zahlen operiert, dann bleibt Rezensentin Ina Rottscheidt skeptisch. Achtzig Prozent der Kurie sollen schwul sein? Das kann Rottschiedt nicht glauben. Überhaupt sieht sie Faktenlage und Gerücht nicht immer ganz sauber unterschieden. Trotzdem hat sie das Buch mit Gewinn gelesen. Denn auch wenn Martel durchaus Namen nennt - Papst Paul VI., Kardinal Angelo Sodano, Raymond Burke -, betont die Rezensentin, dass es dem Autor nicht darum geht, Einzelne zu outen, sondern ein System zu entlarven. Einleuchtend findet sie daher seine grundsätzlichen Überlegungen zum vatikanischen System aus verknöcherter Sexualmoral, Homophobie und permanenter Angst. Sie erfährt, dass sich etliche schwule Priester und Kardinäle durch rigide Homophobie auszeichnen. Und der Papst, lernt sie von einem fröhlichen Martel, lebt nicht unter Wölfen, sondern "unter Tunten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Heuchler
in Soutane
Frédéric Martel über Homosexualität im Vatikan
Und wenn nun nur die Hälfte stimmen würde? Dann reichte es immer noch, um vom Glauben abzufallen. Das ist das Problem der katholischen Kirche: dass ihr immer weniger Menschen vertrauen. Sie steckt in einer gigantischen Glaubwürdigkeitskrise. Und dann kommt auch noch dieser französische Soziologe und lässt einen neapolitanischen Callboy berichten, wie liebesbedürftig seine Kunden, die Priester, sind. „Sie sind sehr gefühlsbetont, auf Liebkosungen aus, wollen dich die ganze Zeit küssen.“ Arme Teufel. Ob das noch gut gehen kann mit der Kirche?
Frédéric Martel hat im Februar ein Enthüllungsbuch veröffentlicht, das erst jetzt unter dem Titel „Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan“ auf Deutsch erschienen ist. Es ist dem Autor vorgeworfen worden, seine Quellenlage sei zu dünn und seine Belege seien zu dürftig. Martels Feststellung zum Beispiel, achtzig Prozent der Priester im Vatikan sei homosexuell, stütze sich auf nur einen Zeugen. All das ist nicht von der Hand zu weisen. Martel könnte hier und dort konkreter werden, mitunter weniger andeuten oder unterstellen oder Kolportiertes kolportieren und dafür mehr benennen und auch strukturierter erzählen.
Aber: Widerlegt hat seine Einschätzungen bislang noch niemand. Es ist ein wichtiges Buch geworden. Seine Kritiker müssen Frédéric Martel zugestehen, dass er nicht zuletzt auch mit Indizien arbeitet, die mal stichhaltiger sind und mal gewagter. Wer seine Ausführungen über den ultrareaktionären US-Kardinal Burke, dessen Gehabe und Garderobe liest und Fellinis „Roma“ gesehen hat, wird seine Freude haben mit Martels Vergleichen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen müssten für jeden reichen, der allen zeitgeistlichen Anfechtungen zum Trotz das Credo an die „heilige katholische Kirche“ noch aus Überzeugung mitgebetet hat, zumindest über diese Stelle des Glaubensbekenntnisses diskret hinwegzulächeln. Und zu schweigen. Einen kleinen Trost könnten diese Leute immerhin herauslesen: Nicht alle Priester lieben Männer. Und manche leben wirklich zölibatär.
Stünde ein Gerichtsverfahren Vatikan vs. Martel auf Unterlassung an, könnte Martel mit einem Päckchen USB-Sticks anrücken, auf denen er seine 1500 Gespräche mit Kardinälen, Prälaten, ehemaligen Priestern, Gendarmen, Sozialarbeitern, Escortmännern und vielen anderen Gesprächspartnern aufgezeichnet hat. Darf er aufgrund seiner Recherchen den Vatikan mit Sodom vergleichen?
Richter messen in solchen Fällen den Grad des Belastungseifers. Sein Fleiß beim Sammeln von Statements und Antworten auf die Frage nach homosexuellen Netzwerken in der Kirche basiert aber offenbar weniger auf einem Wunsch, die Institution zu demontieren, als auf dem Ziel, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Martel betont, er wolle nicht Schwule in Soutane kompromittieren. Er ist selbst homosexuell und durchaus als Vorkämpfer für die Rechte Homosexueller in Erscheinung getreten. Ihm gehe es, das betont er mehrmals, vielmehr um das Bloßstellen eines Klerus, der Homosexualität als sündhafte Perversion abkanzelt – und doch selbst großteils schwul ist. So investigativ, dass er in Schlafkammern hochrangiger Kleriker Kameras versteckt, ist Martel dann auch wieder nicht. Er kennt seine Grenzen, die juristischen wie die moralischen. Womöglich hätte er provozieren können, dass ihm ein Würdenträger an die Wäsche geht. Er reizte es nicht aus.
Um die Frage zu beantworten: Ja, Martel darf den Vatikan mit Sodom vergleichen. Schließlich handelt es sich um ein Zitat. Es schließt das Kapitel über die Prostitution ab und stammt aus einem Interview, das Martel mit einem besonderen Zeugen führte: mit dem Beichtvater des Petersdomes. „Willkommen in Sodom“, habe ihm dieser Geistliche ins Ohr geraunt. Sodom ist im Alten Testament die Stadt, die der Herr wegen ihrer Sündhaftigkeit auslöschte.
Indizien für das, was die Kleriker selbst als Sünde bezeichnen, hat es schon vor Martels „Sodom“ und nicht erst seit Fellini oder Pasolini gegeben. Martel zählt sogar Päpste auf. Kirchenoberhäupter, die sich Innozenz nannten, stehen bei ihm schon wegen der Namenswahl unter Generalverdacht. Pauschalverdächtigungen wie diese machen es Kritikern leicht, Martel grundsätzlich anzuzweifeln.
Mag sein, dass der Priestermangel auch damit zu tun hat, dass sich homosexuelle Männer gerade in westlichen Ländern nicht mehr verstecken müssen. Für sie war die Kirche ein idealer Arbeitgeber, man konnte seine Neigung hinter dem Zölibat verbergen. Es gab Bistümer, in denen die Rektoren von Priesterseminaren solchen Kandidaten von einer geistlichen Laufbahn abrieten. In anderen Diözesen oder auch in manchen Klöstern waren sie umso willkommener. Sie bildeten Netzwerke. Das beschreibt Frédéric Martel ebenso wie einer seiner Gesprächspartnern, der neapolitanische Escortmann Francecso Mangiacapra. Dieser Homosexuelle hat im vergangenen Jahr ein mehr als 1200 Seiten umfassendes Dossier über seine Kunden beim Vatikan abgeliefert. Auch er wollte die Heuchelei bloßstellen. Martel macht das dezenter und nimmt darüber hinaus Finanzskandale und politische Entscheidungen ins Visier, die von solchen Netzwerken ausgehen.
Ja, die Homosexualität vieler und gerade hochrangiger katholischer Kleriker ist ein offenes Geheimnis. Aber solange sie nicht öffentlich knutschen oder dabei erwischt werden, bleibt es genau das weiterhin: ein Geheimnis.
RUDOLF NEUMAIER
Reichen die Belege,
um den Vatikan als
Sodom zu bezeichnen?
Frédéric Martel: Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. Aus dem Französischen von Katja Hald, Elsbeth Ranke, Eva Scharenberg, Anne Thomas. Verlag S. Fischer.
672 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in Soutane
Frédéric Martel über Homosexualität im Vatikan
Und wenn nun nur die Hälfte stimmen würde? Dann reichte es immer noch, um vom Glauben abzufallen. Das ist das Problem der katholischen Kirche: dass ihr immer weniger Menschen vertrauen. Sie steckt in einer gigantischen Glaubwürdigkeitskrise. Und dann kommt auch noch dieser französische Soziologe und lässt einen neapolitanischen Callboy berichten, wie liebesbedürftig seine Kunden, die Priester, sind. „Sie sind sehr gefühlsbetont, auf Liebkosungen aus, wollen dich die ganze Zeit küssen.“ Arme Teufel. Ob das noch gut gehen kann mit der Kirche?
Frédéric Martel hat im Februar ein Enthüllungsbuch veröffentlicht, das erst jetzt unter dem Titel „Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan“ auf Deutsch erschienen ist. Es ist dem Autor vorgeworfen worden, seine Quellenlage sei zu dünn und seine Belege seien zu dürftig. Martels Feststellung zum Beispiel, achtzig Prozent der Priester im Vatikan sei homosexuell, stütze sich auf nur einen Zeugen. All das ist nicht von der Hand zu weisen. Martel könnte hier und dort konkreter werden, mitunter weniger andeuten oder unterstellen oder Kolportiertes kolportieren und dafür mehr benennen und auch strukturierter erzählen.
Aber: Widerlegt hat seine Einschätzungen bislang noch niemand. Es ist ein wichtiges Buch geworden. Seine Kritiker müssen Frédéric Martel zugestehen, dass er nicht zuletzt auch mit Indizien arbeitet, die mal stichhaltiger sind und mal gewagter. Wer seine Ausführungen über den ultrareaktionären US-Kardinal Burke, dessen Gehabe und Garderobe liest und Fellinis „Roma“ gesehen hat, wird seine Freude haben mit Martels Vergleichen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen müssten für jeden reichen, der allen zeitgeistlichen Anfechtungen zum Trotz das Credo an die „heilige katholische Kirche“ noch aus Überzeugung mitgebetet hat, zumindest über diese Stelle des Glaubensbekenntnisses diskret hinwegzulächeln. Und zu schweigen. Einen kleinen Trost könnten diese Leute immerhin herauslesen: Nicht alle Priester lieben Männer. Und manche leben wirklich zölibatär.
Stünde ein Gerichtsverfahren Vatikan vs. Martel auf Unterlassung an, könnte Martel mit einem Päckchen USB-Sticks anrücken, auf denen er seine 1500 Gespräche mit Kardinälen, Prälaten, ehemaligen Priestern, Gendarmen, Sozialarbeitern, Escortmännern und vielen anderen Gesprächspartnern aufgezeichnet hat. Darf er aufgrund seiner Recherchen den Vatikan mit Sodom vergleichen?
Richter messen in solchen Fällen den Grad des Belastungseifers. Sein Fleiß beim Sammeln von Statements und Antworten auf die Frage nach homosexuellen Netzwerken in der Kirche basiert aber offenbar weniger auf einem Wunsch, die Institution zu demontieren, als auf dem Ziel, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Martel betont, er wolle nicht Schwule in Soutane kompromittieren. Er ist selbst homosexuell und durchaus als Vorkämpfer für die Rechte Homosexueller in Erscheinung getreten. Ihm gehe es, das betont er mehrmals, vielmehr um das Bloßstellen eines Klerus, der Homosexualität als sündhafte Perversion abkanzelt – und doch selbst großteils schwul ist. So investigativ, dass er in Schlafkammern hochrangiger Kleriker Kameras versteckt, ist Martel dann auch wieder nicht. Er kennt seine Grenzen, die juristischen wie die moralischen. Womöglich hätte er provozieren können, dass ihm ein Würdenträger an die Wäsche geht. Er reizte es nicht aus.
Um die Frage zu beantworten: Ja, Martel darf den Vatikan mit Sodom vergleichen. Schließlich handelt es sich um ein Zitat. Es schließt das Kapitel über die Prostitution ab und stammt aus einem Interview, das Martel mit einem besonderen Zeugen führte: mit dem Beichtvater des Petersdomes. „Willkommen in Sodom“, habe ihm dieser Geistliche ins Ohr geraunt. Sodom ist im Alten Testament die Stadt, die der Herr wegen ihrer Sündhaftigkeit auslöschte.
Indizien für das, was die Kleriker selbst als Sünde bezeichnen, hat es schon vor Martels „Sodom“ und nicht erst seit Fellini oder Pasolini gegeben. Martel zählt sogar Päpste auf. Kirchenoberhäupter, die sich Innozenz nannten, stehen bei ihm schon wegen der Namenswahl unter Generalverdacht. Pauschalverdächtigungen wie diese machen es Kritikern leicht, Martel grundsätzlich anzuzweifeln.
Mag sein, dass der Priestermangel auch damit zu tun hat, dass sich homosexuelle Männer gerade in westlichen Ländern nicht mehr verstecken müssen. Für sie war die Kirche ein idealer Arbeitgeber, man konnte seine Neigung hinter dem Zölibat verbergen. Es gab Bistümer, in denen die Rektoren von Priesterseminaren solchen Kandidaten von einer geistlichen Laufbahn abrieten. In anderen Diözesen oder auch in manchen Klöstern waren sie umso willkommener. Sie bildeten Netzwerke. Das beschreibt Frédéric Martel ebenso wie einer seiner Gesprächspartnern, der neapolitanische Escortmann Francecso Mangiacapra. Dieser Homosexuelle hat im vergangenen Jahr ein mehr als 1200 Seiten umfassendes Dossier über seine Kunden beim Vatikan abgeliefert. Auch er wollte die Heuchelei bloßstellen. Martel macht das dezenter und nimmt darüber hinaus Finanzskandale und politische Entscheidungen ins Visier, die von solchen Netzwerken ausgehen.
Ja, die Homosexualität vieler und gerade hochrangiger katholischer Kleriker ist ein offenes Geheimnis. Aber solange sie nicht öffentlich knutschen oder dabei erwischt werden, bleibt es genau das weiterhin: ein Geheimnis.
RUDOLF NEUMAIER
Reichen die Belege,
um den Vatikan als
Sodom zu bezeichnen?
Frédéric Martel: Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. Aus dem Französischen von Katja Hald, Elsbeth Ranke, Eva Scharenberg, Anne Thomas. Verlag S. Fischer.
672 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2019Der brave Papst, der unter Tunten lebt?
Frédéric Martel glaubt Rom entschlüsselt zu haben und betreibt Vatikanologie als gefallsüchtiges Geschwätz
Gleich zu Beginn, in einer Vorbemerkung des Autors, geht es los mit der Zahlenhuberei. Der Leser erfährt, dass Frédéric Martel mehr als vier Jahre lang für sein Buch recherchiert habe. Dabei habe er mit gut 1500 Leuten gesprochen, im Vatikan sowie in dreißig Ländern auf vier Kontinenten. Unterstützung habe er zudem von achtzig Rechercheuren, Korrespondenten, Beratern und Übersetzern erfahren.
Damit nicht genug, wird man auf den Seiten des langen Buches von Martel immer wieder mit der Information traktiert, wie oft er mit wem wo und wie lange gesprochen habe. Daraus geht in den meisten Fällen nichts hervor. Es offenbart aber die zentrale Autorenschwäche des zweiundfünfzig Jahre alten französischen Publizisten und Soziologen: Er befleißigt sich eines gefallsüchtigen Stils, und in den zentralen Thesen ist sein Buch gefallsüchtiges Geschwätz.
Im französischen Original sowie in weiteren sieben Sprachen ist das Buch schon im Februar herausgekommen, rechtzeitig zum Beginn des von Papst Franziskus im Vatikan einberufenen "Missbrauchsgipfels". Ein chronologisches oder argumentativ nachvollziehbares Narrativ gibt es in Martels Buch nicht. Er beginnt mit Papst Franziskus, springt zurück zu Paul VI., lässt ein Kapitel zu Johannes Paul II. folgen und schließt mit Benedikt XVI. Durchs Gewirr von Entwicklungen, Ereignissen und Gesprächen hat Martel willkürlich grellrote Fäden gelegt. Der dickste dieser Fäden handelt von einer angeblich "gigantischen homosexuellen Dimension" der jüngsten Geschichte des Vatikans. Schwulsein entspreche "im Klerus beinahe der Norm", will Martel aufgedeckt haben, und je höher hinauf man in der Kirchenhierarchie blicke, desto schwuler gehe es zu. Von Francesco Lepore, einem italienischen schwulen Ex-Priester, übernimmt der Autor umstandslos die Einschätzung, dass vier Fünftel der Mitarbeiter am Heiligen Stuhl schwul seien.
Selbstverständlich wird, so Martel, auch im Kardinalskollegium "Heterosexualität zur Ausnahme". Wohin Martel im Vatikan auch schaut, er entdeckt nichts als "fifty shades of gay". Es ist eine Welt, die "jede Vorstellungskraft" übersteige: Saunapartys mit männlichen Prostituierten; Priester, die an den einschlägigen Orten der Ewigen Stadt arabische Stricher frequentieren; Kirchenfürsten, die ein allseits bekanntes Doppelleben führen; junge Seminaristen, die mit ihrem Comingout ringen. Franziskus, für den der Autor eine glühende Sympathie hegt, lebe "unter Tunten", heißt es.
Den gegenwärtigen Papst zählt Martel, der selbst offen schwul ist, übrigens nicht "zur Gemeinde". Dafür seien vier der jüngsten Vorgänger von Franziskus schwul gewesen. Woher Martel das alles weiß? Er nimmt dafür sein angeblich stets zuverlässig arbeitendes "Gaydar" in Anspruch: Die Wortkontraktion aus "gay" und "Radar" insinuiert, dass er, Martel, dank seiner eigenen Homosexualität andere Schwule sofort erkenne.
Seine Küchenpsychologie hämmert Martel in sogenannte Sodom-Regeln. Die lauten etwa: Je homophober sich ein Kirchenfürst äußert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst schwul ist. Und: Je schwulenfreundlicher ein Prälat, desto weniger wahrscheinlich ist er selber schwul. Was treibt die maßgeblichen konservativen Kritiker von Franziskus in der Kurie an? Sie sind insgeheim schwul.
Sein monokausales Erklärungsmuster legt Martel über alle Entwicklungen der Weltkirche der vergangenen Jahrzehnte. Sämtliche Kritiker der autoritären Amtsführung sowie der linksliberalen Theologie von Papst Franziskus sind in den Augen Martels reaktionäre Feinde des Heiligen Vaters, deren Herz hart geworden ist, weil sie ihr Schwulsein verleugnen. Warum entscheiden sich in Europa und Nordamerika immer weniger junge Männer für das Priesteramt? Weil sie in den aufgeklärten westlichen Gesellschaften heute offen ihre Homosexualität ausleben können und nicht mehr nur in "der Gemeinde" hinter den Mauern des Kirchhofs oder eben des Vatikans.
Seinem bewunderten Kirchenreformer Franziskus erweist Martel mit seinem Buch einen doppelten Bärendienst. Erstens interessiert sich Martel allenfalls am Rande für die Vertuschung von notorischen Missbrauchsfällen in Argentinien durch den einstigen Erzbischof von Buenos Aires sowie für den skandalösen Umgang des späteren Papstes mit dem massiven Missbrauchsskandal in Chile, wo sich Franziskus erst nach einem internationalen Aufschrei zum radikalen Durchgreifen gegen die chilenischen Bischöfe gezwungen sah. Martel lässt dem Peronisten im Vatikan durchgehen, dass dieser die Untaten seiner Amigos unter den Teppich kehrt, während er seine weltanschaulichen Widersacher unerbittlich verfolgt. Damit spielt Martel das auch von Papst Franziskus betriebene obszöne Spiel mit, in welchem der monströse Missbrauch von Schutzbefohlenen als Waffe im politischen Kampf gegen innerkirchliche Gegner eingesetzt wird.
Zweitens entkräftet Martel mit seiner "Schwulenbrille" das Hauptargument von Franziskus, wonach die sexualisierte Gewalt in der Kirche ein Problem des Machtmissbrauchs - des "Klerikalismus" in den Worten des Papstes - sei und nicht ursächlich mit der sexuellen Orientierung der Täter zusammenhänge. Wenn aber nachweislich achtzig Prozent der Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche Jungen und männliche Jugendliche sind und nach Martel das Priestertum der bevorzugte Karriereweg für verkappte oder auch geoutete Schwule ist, dann ist der globale Missbrauchsskandal eben doch ein Schwulenskandal und kein Machtskandal.
Innerkirchliche Advokaten einer theologisch-dogmatischen Öffnung des Katholizismus gegenüber der Homosexualität wie der amerikanische Jesuit James Martin beklagen die verheerende Wirkung der Pauschalierungen Martels. Martin, Autor des 2017 erschienenen Buches "Building a Bridge: How the Catholic Church and the LGBT Community Can Enter into a Relationship of Respect, Compassion, and Sensitivity", wirft Martel vor, schwule Katholiken mit einer Art "friendly fire" zu belegen. Denn Martels Buch, schreibt Martin, erwecke "in den Köpfen die Vorstellung, dass alle schwulen Priester ihr Keuschheitsgelübde brechen und mit Missbrauch in Verbindung stehen".
MATTHIAS RÜB
Frédéric Martel: "Sodom". Macht, Homosexualität und Doppelmoral im
Vatikan.
Aus dem Französischen von Katja Hald u. a.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 671 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frédéric Martel glaubt Rom entschlüsselt zu haben und betreibt Vatikanologie als gefallsüchtiges Geschwätz
Gleich zu Beginn, in einer Vorbemerkung des Autors, geht es los mit der Zahlenhuberei. Der Leser erfährt, dass Frédéric Martel mehr als vier Jahre lang für sein Buch recherchiert habe. Dabei habe er mit gut 1500 Leuten gesprochen, im Vatikan sowie in dreißig Ländern auf vier Kontinenten. Unterstützung habe er zudem von achtzig Rechercheuren, Korrespondenten, Beratern und Übersetzern erfahren.
Damit nicht genug, wird man auf den Seiten des langen Buches von Martel immer wieder mit der Information traktiert, wie oft er mit wem wo und wie lange gesprochen habe. Daraus geht in den meisten Fällen nichts hervor. Es offenbart aber die zentrale Autorenschwäche des zweiundfünfzig Jahre alten französischen Publizisten und Soziologen: Er befleißigt sich eines gefallsüchtigen Stils, und in den zentralen Thesen ist sein Buch gefallsüchtiges Geschwätz.
Im französischen Original sowie in weiteren sieben Sprachen ist das Buch schon im Februar herausgekommen, rechtzeitig zum Beginn des von Papst Franziskus im Vatikan einberufenen "Missbrauchsgipfels". Ein chronologisches oder argumentativ nachvollziehbares Narrativ gibt es in Martels Buch nicht. Er beginnt mit Papst Franziskus, springt zurück zu Paul VI., lässt ein Kapitel zu Johannes Paul II. folgen und schließt mit Benedikt XVI. Durchs Gewirr von Entwicklungen, Ereignissen und Gesprächen hat Martel willkürlich grellrote Fäden gelegt. Der dickste dieser Fäden handelt von einer angeblich "gigantischen homosexuellen Dimension" der jüngsten Geschichte des Vatikans. Schwulsein entspreche "im Klerus beinahe der Norm", will Martel aufgedeckt haben, und je höher hinauf man in der Kirchenhierarchie blicke, desto schwuler gehe es zu. Von Francesco Lepore, einem italienischen schwulen Ex-Priester, übernimmt der Autor umstandslos die Einschätzung, dass vier Fünftel der Mitarbeiter am Heiligen Stuhl schwul seien.
Selbstverständlich wird, so Martel, auch im Kardinalskollegium "Heterosexualität zur Ausnahme". Wohin Martel im Vatikan auch schaut, er entdeckt nichts als "fifty shades of gay". Es ist eine Welt, die "jede Vorstellungskraft" übersteige: Saunapartys mit männlichen Prostituierten; Priester, die an den einschlägigen Orten der Ewigen Stadt arabische Stricher frequentieren; Kirchenfürsten, die ein allseits bekanntes Doppelleben führen; junge Seminaristen, die mit ihrem Comingout ringen. Franziskus, für den der Autor eine glühende Sympathie hegt, lebe "unter Tunten", heißt es.
Den gegenwärtigen Papst zählt Martel, der selbst offen schwul ist, übrigens nicht "zur Gemeinde". Dafür seien vier der jüngsten Vorgänger von Franziskus schwul gewesen. Woher Martel das alles weiß? Er nimmt dafür sein angeblich stets zuverlässig arbeitendes "Gaydar" in Anspruch: Die Wortkontraktion aus "gay" und "Radar" insinuiert, dass er, Martel, dank seiner eigenen Homosexualität andere Schwule sofort erkenne.
Seine Küchenpsychologie hämmert Martel in sogenannte Sodom-Regeln. Die lauten etwa: Je homophober sich ein Kirchenfürst äußert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst schwul ist. Und: Je schwulenfreundlicher ein Prälat, desto weniger wahrscheinlich ist er selber schwul. Was treibt die maßgeblichen konservativen Kritiker von Franziskus in der Kurie an? Sie sind insgeheim schwul.
Sein monokausales Erklärungsmuster legt Martel über alle Entwicklungen der Weltkirche der vergangenen Jahrzehnte. Sämtliche Kritiker der autoritären Amtsführung sowie der linksliberalen Theologie von Papst Franziskus sind in den Augen Martels reaktionäre Feinde des Heiligen Vaters, deren Herz hart geworden ist, weil sie ihr Schwulsein verleugnen. Warum entscheiden sich in Europa und Nordamerika immer weniger junge Männer für das Priesteramt? Weil sie in den aufgeklärten westlichen Gesellschaften heute offen ihre Homosexualität ausleben können und nicht mehr nur in "der Gemeinde" hinter den Mauern des Kirchhofs oder eben des Vatikans.
Seinem bewunderten Kirchenreformer Franziskus erweist Martel mit seinem Buch einen doppelten Bärendienst. Erstens interessiert sich Martel allenfalls am Rande für die Vertuschung von notorischen Missbrauchsfällen in Argentinien durch den einstigen Erzbischof von Buenos Aires sowie für den skandalösen Umgang des späteren Papstes mit dem massiven Missbrauchsskandal in Chile, wo sich Franziskus erst nach einem internationalen Aufschrei zum radikalen Durchgreifen gegen die chilenischen Bischöfe gezwungen sah. Martel lässt dem Peronisten im Vatikan durchgehen, dass dieser die Untaten seiner Amigos unter den Teppich kehrt, während er seine weltanschaulichen Widersacher unerbittlich verfolgt. Damit spielt Martel das auch von Papst Franziskus betriebene obszöne Spiel mit, in welchem der monströse Missbrauch von Schutzbefohlenen als Waffe im politischen Kampf gegen innerkirchliche Gegner eingesetzt wird.
Zweitens entkräftet Martel mit seiner "Schwulenbrille" das Hauptargument von Franziskus, wonach die sexualisierte Gewalt in der Kirche ein Problem des Machtmissbrauchs - des "Klerikalismus" in den Worten des Papstes - sei und nicht ursächlich mit der sexuellen Orientierung der Täter zusammenhänge. Wenn aber nachweislich achtzig Prozent der Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche Jungen und männliche Jugendliche sind und nach Martel das Priestertum der bevorzugte Karriereweg für verkappte oder auch geoutete Schwule ist, dann ist der globale Missbrauchsskandal eben doch ein Schwulenskandal und kein Machtskandal.
Innerkirchliche Advokaten einer theologisch-dogmatischen Öffnung des Katholizismus gegenüber der Homosexualität wie der amerikanische Jesuit James Martin beklagen die verheerende Wirkung der Pauschalierungen Martels. Martin, Autor des 2017 erschienenen Buches "Building a Bridge: How the Catholic Church and the LGBT Community Can Enter into a Relationship of Respect, Compassion, and Sensitivity", wirft Martel vor, schwule Katholiken mit einer Art "friendly fire" zu belegen. Denn Martels Buch, schreibt Martin, erwecke "in den Köpfen die Vorstellung, dass alle schwulen Priester ihr Keuschheitsgelübde brechen und mit Missbrauch in Verbindung stehen".
MATTHIAS RÜB
Frédéric Martel: "Sodom". Macht, Homosexualität und Doppelmoral im
Vatikan.
Aus dem Französischen von Katja Hald u. a.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 671 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein Buch ist alles in allem seriös und fundiert. Augsburger Allgemeine 20191219