Ende 1972, mehr als 13 Jahre nach seinem »Umzug« von Leipzig nach West-Berlin, und elf Jahre nach dem Bau der Mauer, darf der inzwischen weltweit anerkannte Autor Uwe Johnson zum ersten Mal wieder nach Leipzig reisen: zu seinem Freund, dem Musikwissenschaftler Eberhard Klemm, einem Mitglied des legendären Freundeskreises während Johnsons Leipziger Studentenzeit Mitte bis Ende der fünfziger Jahre. Diese Reise ist mehr als ein privates Wiedersehen: es ist eine Zeitreise, eine Wiederbesichtigung des »Stadtkreises Leipzig«, eine Wiedererkennung der DDR (und aller Gründe, sie verlassen zu haben), eine Konfrontation mit früheren und aktuell erlebten sozialen und kulturellen Gegebenheiten. Diese Reise (und eine zweite, etwa ein Jahr später und ebenfalls nach Leipzig) gestaltet sich so bemerkenswert, daß Uwe Johnson zwei weiteren Freunden aus seiner Leipziger Zeit, Klaus und Sabine Baumgärtner (die wie er in den Westen geflohen waren), an deren Stuttgarter Adresse lange Briefe schickt - 15 bzw. 24 dichtbeschriebene Schreibmaschinenseiten nebst jeweils fünf Seiten »Berichtigungen und Nachträge« -, die zu dem Aufregendsten und Kuriosesten gehören, was der geniale Briefeschreiber Uwe Johnson je zu Papier gebracht hat: »133 Absätze über Anreise, Wohnsitz, Fernsehen, Gewürze, Institut, Vorfälle, Kinder, Absichten, Heizung, Ostreisen, Westreisen, Musik, Universität, Familie, Sprache, Bücher und Verlage, Abschied und Abreise undwerweißwas sonst im Bericht zu 1972 und dann wiederum ebensolche 137 Absätze ein Jahr darauf im Bericht zu 1973.« (Klaus Baumgärtner in seiner Einleitung)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2005Von Nachsicht durchtränkt
Besuch in der DDR: Vier Briefe und zwei Reisen Uwe Johnsons
Es gibt Schriftsteller, die ziehen nach ihrem Tod eine heftige Interpretations- und Editionsphilologie nach sich: Da wird der Nachlaß bis zur letzten verbliebenen Manuskriptseite geplündert. Der Meister solcher kometenhaften Rezeptionsproduktion ist zweifellos Arno Schmidt, der es mit dem "Bargfelder Boten" sogar zu einer eigenen Auslegungspostille gebracht hat.
Auch Uwe Johnson unterhält ein lebhaftes Auslegungs- und Interpretationsgewerbe. Ein Jahrbuch, zahlreiche Schriften mit philologischen Abhandlungen und zwei sehr schöne und aufschlußreiche Bände mit Stimmen von Freunden und Lesern zur Wirkungsgeschichte verdanken wir solchem Bemühen, das den Autor nicht nur als überaus konsequenten und eigensinnigen, sondern auch als einen in seinem Eigensinn zuweilen bis ins Schrullige komischen und bissig humorvollen Schriftsteller zeigt.
Zu den kleinen Schriften aus seinem Nachlaß gehört auch die Edition von vier Briefen, in denen Johnson zwei Reisen beschrieb, die er, da sie nach Abschluß des Grundlagenvertrags zwischen BRD und DDR möglich geworden waren, mit Frau und Tochter 1972 und 1973 in die DDR zur befreundeten Familie Eberhardt Klemms (einst Béla genannt) unternommen hatte. Über sie hat er damals seinen Freunden Sabine und Klaus Baumgärtner ausführlich berichtet. Baumgärtner gehörte ebenso wie Klemm und Manfred Bierwisch zu seinen Leipziger Studienfreunden, floh zwei Jahre nach Johnsons Übersiedelung nach West-Berlin in den Westen und war später Professor für Linguistik in Stuttgart. Bierwisch und Klemm blieben in der DDR.
Baumgärtner hat die vier Briefe ediert und mit einem tief in die Geschichte dieser Freundschaft führenden Nachwort versehen - er ist 2003, nicht lange vor der Publikation des Bändchens, im Alter von 72 Jahren gestorben.
Der Freundeskreis, der damals entstand, als Johnson, aus Rostock kommend, mit einem Manuskript des Titels "Ingrid Babendererde" in der Tasche in Leipzig eintraf, existierte von der Mitte bis zum Ende der fünfziger Jahre: ein, wie Rainer Nitsche in einer editorischen Notiz anmerkt, "ungewöhnlich kreativer, sich fast kabbalistisch gegen das realsozialistisch Genormte abgrenzender Kreis junger Menschen, die sich auf selbstbestimmte, neugierige Art der Literatur, der Kunst und der Musik" näherten.
Wer sich "kabbalistisch" den Normen verweigert, braucht eine eigene Sprache, in der er sich klandestin verhalten und im "kabbalistischen" Kreis selbst vermitteln kann. So etwas zeichnet, mit demselben politischen Grund, später die inverse Sprache von Hans Joachim Schädlichs Erzählungen "Versuchte Nähe" aus - und es grundierte auch schon die frühen Briefe Johnsons aus der Leipziger Zeit. Und es bestimmt, als ironische Wiederaufnahme der früheren Übung, diese vier Briefe, die, wie Baumgärtner in seinem Nachwort schreibt, "gewisse Kuriositäten verbergen oder dunkel anklingen lassen, ohne daß ihnen davon wortwörtlich Genaueres abzulesen wäre (womit auch der Naturalismus, der von einer prononcierten Rechenschaft eigentlich zu verlangen wäre, eher verfehlt wird). Die meisten Leser, die sich ohne Warnung den Berichten harmlos anvertrauen, dürfte besonders irritieren, mit welcher Raffinesse sich der Dichter eine Schreibweise zielbewußt heraussucht und zurechtlegt, die praktisch jede Passage mit tückischer Ironie und Leutseligkeit, Sarkasmus und schnöder Nachsicht geradezu durchtränkt."
So bewahren sie, die Grenze zum Manierierten zuweilen freilich (bewußt) deutlich übertretend, auf scharf sezierende Weise die Verhältnisse in der DDR zu Anfang der siebziger Jahre in einer das grausig Spießige ihrer Gesellschaft komisch spiegelnden Nacherzählung.
Etwa so: "Wir waren in ein Land des entwickelten (L.V.Z.) Sozialismus gereist auch in der Hoffnung, dort vor bürgerlich-atavistischem Mythengut gerettet zu sein, aber womit begrüßte uns hier das Deutsche Reich durch seine Bahn? Mit einem automatisch beleuchteten Tannenbaum. Unser Entsetzen verlor sich erst auf den Treppen der Westhalle in den mächtigen Urinschwaden, die von rechts über uns und die Ecke von Blumen-Hanisch herfielen mit einer Gewalt, als sei sie von Fachleuten zu Forschungszwecken erzeugt. Wer dann seiner Nase nicht traut, ist noch einmal dankbar für sachverständige Begleitung und Auskünfte."
Solch sachverständiger Auskünfte bedarf auch der Leser der hier nur sparsam kommentierten Briefe. Auch wenn sich ihm nicht jegliche Einzelheit der Briefe erschließt, liefert doch das ausführliche Nachwort Klaus Baumgärtners Ersatz - ein Text, der zuweilen selbst in die klandestine Sprache der frühen Jahre und den sie abbildenden Ton der Briefe schlüpft und in seiner Nachbildung dem Freundeskreis ein letztes ironisches Denkmal setzt: "Folglich, was alles mit dieser Skizze jetzt noch zu sagen bleiben könnte, läuft darauf hinaus, die denkwürdigsten gemeinsamen Momente aufzusammeln für eine Art letzter runder Flaschenpost über Bélas Leipziger Freundesbande, und das heißt auch, wovon und womit er sie über die Jahre zu unterhalten wußte."
Und heute noch immer ihre und Uwe Johnsons Freunde und Leser.
HEINZ LUDWIG ARNOLD
Uwe Johnson: "Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein". Rechenschaft über zwei Reisen. Hrsg. von Klaus Baumgärtner. Transit Verlag, Berlin 2004. 120 S., Fotos und Faksimiles, geb., 14,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Besuch in der DDR: Vier Briefe und zwei Reisen Uwe Johnsons
Es gibt Schriftsteller, die ziehen nach ihrem Tod eine heftige Interpretations- und Editionsphilologie nach sich: Da wird der Nachlaß bis zur letzten verbliebenen Manuskriptseite geplündert. Der Meister solcher kometenhaften Rezeptionsproduktion ist zweifellos Arno Schmidt, der es mit dem "Bargfelder Boten" sogar zu einer eigenen Auslegungspostille gebracht hat.
Auch Uwe Johnson unterhält ein lebhaftes Auslegungs- und Interpretationsgewerbe. Ein Jahrbuch, zahlreiche Schriften mit philologischen Abhandlungen und zwei sehr schöne und aufschlußreiche Bände mit Stimmen von Freunden und Lesern zur Wirkungsgeschichte verdanken wir solchem Bemühen, das den Autor nicht nur als überaus konsequenten und eigensinnigen, sondern auch als einen in seinem Eigensinn zuweilen bis ins Schrullige komischen und bissig humorvollen Schriftsteller zeigt.
Zu den kleinen Schriften aus seinem Nachlaß gehört auch die Edition von vier Briefen, in denen Johnson zwei Reisen beschrieb, die er, da sie nach Abschluß des Grundlagenvertrags zwischen BRD und DDR möglich geworden waren, mit Frau und Tochter 1972 und 1973 in die DDR zur befreundeten Familie Eberhardt Klemms (einst Béla genannt) unternommen hatte. Über sie hat er damals seinen Freunden Sabine und Klaus Baumgärtner ausführlich berichtet. Baumgärtner gehörte ebenso wie Klemm und Manfred Bierwisch zu seinen Leipziger Studienfreunden, floh zwei Jahre nach Johnsons Übersiedelung nach West-Berlin in den Westen und war später Professor für Linguistik in Stuttgart. Bierwisch und Klemm blieben in der DDR.
Baumgärtner hat die vier Briefe ediert und mit einem tief in die Geschichte dieser Freundschaft führenden Nachwort versehen - er ist 2003, nicht lange vor der Publikation des Bändchens, im Alter von 72 Jahren gestorben.
Der Freundeskreis, der damals entstand, als Johnson, aus Rostock kommend, mit einem Manuskript des Titels "Ingrid Babendererde" in der Tasche in Leipzig eintraf, existierte von der Mitte bis zum Ende der fünfziger Jahre: ein, wie Rainer Nitsche in einer editorischen Notiz anmerkt, "ungewöhnlich kreativer, sich fast kabbalistisch gegen das realsozialistisch Genormte abgrenzender Kreis junger Menschen, die sich auf selbstbestimmte, neugierige Art der Literatur, der Kunst und der Musik" näherten.
Wer sich "kabbalistisch" den Normen verweigert, braucht eine eigene Sprache, in der er sich klandestin verhalten und im "kabbalistischen" Kreis selbst vermitteln kann. So etwas zeichnet, mit demselben politischen Grund, später die inverse Sprache von Hans Joachim Schädlichs Erzählungen "Versuchte Nähe" aus - und es grundierte auch schon die frühen Briefe Johnsons aus der Leipziger Zeit. Und es bestimmt, als ironische Wiederaufnahme der früheren Übung, diese vier Briefe, die, wie Baumgärtner in seinem Nachwort schreibt, "gewisse Kuriositäten verbergen oder dunkel anklingen lassen, ohne daß ihnen davon wortwörtlich Genaueres abzulesen wäre (womit auch der Naturalismus, der von einer prononcierten Rechenschaft eigentlich zu verlangen wäre, eher verfehlt wird). Die meisten Leser, die sich ohne Warnung den Berichten harmlos anvertrauen, dürfte besonders irritieren, mit welcher Raffinesse sich der Dichter eine Schreibweise zielbewußt heraussucht und zurechtlegt, die praktisch jede Passage mit tückischer Ironie und Leutseligkeit, Sarkasmus und schnöder Nachsicht geradezu durchtränkt."
So bewahren sie, die Grenze zum Manierierten zuweilen freilich (bewußt) deutlich übertretend, auf scharf sezierende Weise die Verhältnisse in der DDR zu Anfang der siebziger Jahre in einer das grausig Spießige ihrer Gesellschaft komisch spiegelnden Nacherzählung.
Etwa so: "Wir waren in ein Land des entwickelten (L.V.Z.) Sozialismus gereist auch in der Hoffnung, dort vor bürgerlich-atavistischem Mythengut gerettet zu sein, aber womit begrüßte uns hier das Deutsche Reich durch seine Bahn? Mit einem automatisch beleuchteten Tannenbaum. Unser Entsetzen verlor sich erst auf den Treppen der Westhalle in den mächtigen Urinschwaden, die von rechts über uns und die Ecke von Blumen-Hanisch herfielen mit einer Gewalt, als sei sie von Fachleuten zu Forschungszwecken erzeugt. Wer dann seiner Nase nicht traut, ist noch einmal dankbar für sachverständige Begleitung und Auskünfte."
Solch sachverständiger Auskünfte bedarf auch der Leser der hier nur sparsam kommentierten Briefe. Auch wenn sich ihm nicht jegliche Einzelheit der Briefe erschließt, liefert doch das ausführliche Nachwort Klaus Baumgärtners Ersatz - ein Text, der zuweilen selbst in die klandestine Sprache der frühen Jahre und den sie abbildenden Ton der Briefe schlüpft und in seiner Nachbildung dem Freundeskreis ein letztes ironisches Denkmal setzt: "Folglich, was alles mit dieser Skizze jetzt noch zu sagen bleiben könnte, läuft darauf hinaus, die denkwürdigsten gemeinsamen Momente aufzusammeln für eine Art letzter runder Flaschenpost über Bélas Leipziger Freundesbande, und das heißt auch, wovon und womit er sie über die Jahre zu unterhalten wußte."
Und heute noch immer ihre und Uwe Johnsons Freunde und Leser.
HEINZ LUDWIG ARNOLD
Uwe Johnson: "Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein". Rechenschaft über zwei Reisen. Hrsg. von Klaus Baumgärtner. Transit Verlag, Berlin 2004. 120 S., Fotos und Faksimiles, geb., 14,80 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2005Die Asche der Genossin Trauma
Leipzig als Lebensform: Uwe Johnsons Reiseberichte „Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein” (1972-74)
Manchmal ragt ein Stück Zeitgeschichte in die Leipziger Buchmesse hinein. So am vergangenen Samstag, als am Wohnhaus des Literaturwissenschaftlers und Essayisten Hans Mayer (1907-2001) im Waldhausviertel eine Gedenktafel enthüllt wurde, die an sein Wirken in Leipzig in den Jahren 1948 bis 1963 erinnert. Uwe Johnson, der als Student 1954 von Rostock nach Leipzig gegangen war, gehörte dort zu Mayers Schülern und fand schnell Zugang zu einem Freundeskreis um den Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm, den Kunsthistoriker Joachim Menzhausen und die Linguisten Manfred Bierwisch und Klaus Baumgärtner.
Die „Minima Moralia” Adornos wurden hier ebenso herumgereicht (und kritisch erörtert) wie die Schriften Roman Jakobsons oder Platten von Gesualdo bis Schönberg. Johnson verließ die DDR im Juli 1959 Richtung Westberlin, Klaus Baumgärtner war nach seiner Flucht im Jahre 1961 zunächst Assistent von Walter Höllerer, ging dann als Professor für Linguistik nach Stuttgart. Bierwisch, Klemm und Menzhausen, der später Direktor des Grünen Gewölbes in Dresden wurde, blieben in der DDR.
Im Jahre 1972, dem Jahr des Grundlagenvertrages zwischen Bundesrepublik und DDR, konnte Uwe Johnson zum ersten Mal wieder nach Leipzig reisen. Er hat über seinen Besuch bei Eberhardt Klemm vom 26. bis 28. November 1972, kurz nach der Wiederwahl Willy Brandts, dem ehemaligen Mit-Leipziger Klaus Baumgärtner und dessen Frau nach Stuttgart berichtet, in einem Typoskript von seiner West-Berliner Wohnung aus: „Friedenau in Böhmen am Meer.”
Der Transit Verlag, der 2002 Johnsons Leipziger Briefe an Jochen Ziem herausgebracht hat („Leaving Leipsic next week”), lässt nun die „Rechenschaftsbriefe” über die Leipzig-Besuche von 1972 und vom Jahreswechsel 1973/74 folgen. Sie sind trotz - oder gerade wegen - ihrer Mimikry mit der Präzision von Fahrplänen und der Umständlichkeit der DDR-Reisebürokratie eines gewiss nicht: zuverlässige Reiseberichte. Johnson heißt „Ossian” wie ein gefälschter Barde aus dem 18. Jahrhundert und unterzeichnet auch so, Klemm ist „Béla”, ein Leipziger Bártok, Bierwisch „Jake”.
Wer sich in das Dickicht aus Anspielungen, Selbstkorrekturen und nachgetragenen Erläuterungen begibt, wird mit einer halb übermütigen, halb verzweifelten Momentaufnahme zur ästhetisch-politischen Opposition in der DDR Anfang der Siebziger Jahre belohnt. Und mit herrlichen Fotografien einer Faust-Film-Parodie.
LOTHAR MÜLLER
UWE JOHNSON: „Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein.” Rechenschaft über zwei Reisen. Herausgegeben von Klaus Baumgärtner. Transit Verlag, Berlin 2004. 120 Seiten, 14, 80 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Leipzig als Lebensform: Uwe Johnsons Reiseberichte „Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein” (1972-74)
Manchmal ragt ein Stück Zeitgeschichte in die Leipziger Buchmesse hinein. So am vergangenen Samstag, als am Wohnhaus des Literaturwissenschaftlers und Essayisten Hans Mayer (1907-2001) im Waldhausviertel eine Gedenktafel enthüllt wurde, die an sein Wirken in Leipzig in den Jahren 1948 bis 1963 erinnert. Uwe Johnson, der als Student 1954 von Rostock nach Leipzig gegangen war, gehörte dort zu Mayers Schülern und fand schnell Zugang zu einem Freundeskreis um den Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm, den Kunsthistoriker Joachim Menzhausen und die Linguisten Manfred Bierwisch und Klaus Baumgärtner.
Die „Minima Moralia” Adornos wurden hier ebenso herumgereicht (und kritisch erörtert) wie die Schriften Roman Jakobsons oder Platten von Gesualdo bis Schönberg. Johnson verließ die DDR im Juli 1959 Richtung Westberlin, Klaus Baumgärtner war nach seiner Flucht im Jahre 1961 zunächst Assistent von Walter Höllerer, ging dann als Professor für Linguistik nach Stuttgart. Bierwisch, Klemm und Menzhausen, der später Direktor des Grünen Gewölbes in Dresden wurde, blieben in der DDR.
Im Jahre 1972, dem Jahr des Grundlagenvertrages zwischen Bundesrepublik und DDR, konnte Uwe Johnson zum ersten Mal wieder nach Leipzig reisen. Er hat über seinen Besuch bei Eberhardt Klemm vom 26. bis 28. November 1972, kurz nach der Wiederwahl Willy Brandts, dem ehemaligen Mit-Leipziger Klaus Baumgärtner und dessen Frau nach Stuttgart berichtet, in einem Typoskript von seiner West-Berliner Wohnung aus: „Friedenau in Böhmen am Meer.”
Der Transit Verlag, der 2002 Johnsons Leipziger Briefe an Jochen Ziem herausgebracht hat („Leaving Leipsic next week”), lässt nun die „Rechenschaftsbriefe” über die Leipzig-Besuche von 1972 und vom Jahreswechsel 1973/74 folgen. Sie sind trotz - oder gerade wegen - ihrer Mimikry mit der Präzision von Fahrplänen und der Umständlichkeit der DDR-Reisebürokratie eines gewiss nicht: zuverlässige Reiseberichte. Johnson heißt „Ossian” wie ein gefälschter Barde aus dem 18. Jahrhundert und unterzeichnet auch so, Klemm ist „Béla”, ein Leipziger Bártok, Bierwisch „Jake”.
Wer sich in das Dickicht aus Anspielungen, Selbstkorrekturen und nachgetragenen Erläuterungen begibt, wird mit einer halb übermütigen, halb verzweifelten Momentaufnahme zur ästhetisch-politischen Opposition in der DDR Anfang der Siebziger Jahre belohnt. Und mit herrlichen Fotografien einer Faust-Film-Parodie.
LOTHAR MÜLLER
UWE JOHNSON: „Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein.” Rechenschaft über zwei Reisen. Herausgegeben von Klaus Baumgärtner. Transit Verlag, Berlin 2004. 120 Seiten, 14, 80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Richtige "Reiseberichte" darf man bei dem Buch mit zwei Briefen von Uwe Johnson über seine Reisen nach Leipzig 1972 und 1973/74 nicht erwarten, warnt Lothar Müller in seiner kurzen Kritik. Wer sich allerdings durch den Wust von "Anspielungen", Kommentaren und Korrekturen arbeitet, wird durch einen erhellenden Blick in die "ästhetisch-politische Opposition" der DDR der 70er Jahre "belohnt", verspricht der Rezensent, der begeistert auch auf die in dem Band enthaltenden "herrlichen" Fotos einer "Faust-Film-Parodie" hinweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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