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Wie vieles an ihrer Prosa ist der Titel dieses Buches von Barbara Honigmann doppelbödig. Eigentlich wird von zwei großen Reisen Soharas, der Ich-Erzählerin, berichtet: die eine macht sie mit dem Schiff, sechzehnjährig, als sie nach dem Algerienkrieg wie alle arabischen Juden aus der algerischen Heimat vertrieben und nach Frankreich "repatriiert" wird; die andere mit dem Flugzeug, als sie, am Ende des Buches, mit Hilfe einer "Tora-Connection" ihre vom Vater entführten Kinder von London nach Straßburg zurückholt. "Soharas Reise" aber meint eher die Reise, die dazwischen liegt, im Sinn von…mehr

Produktbeschreibung
Wie vieles an ihrer Prosa ist der Titel dieses Buches von Barbara Honigmann doppelbödig. Eigentlich wird von zwei großen Reisen Soharas, der Ich-Erzählerin, berichtet: die eine macht sie mit dem Schiff, sechzehnjährig, als sie nach dem Algerienkrieg wie alle arabischen Juden aus der algerischen Heimat vertrieben und nach Frankreich "repatriiert" wird; die andere mit dem Flugzeug, als sie, am Ende des Buches, mit Hilfe einer "Tora-Connection" ihre vom Vater entführten Kinder von London nach Straßburg zurückholt. "Soharas Reise" aber meint eher die Reise, die dazwischen liegt, im Sinn von Lebensreise, aber auch im Sinn "längeren Entfernens vom Heimatort" - ihres Exils also - und zugleich in dem von Aufbruch. Denn mit der tragikomischen Geschichte von der Entführung und Rückentführung der sechs Kinder wird auch die Geschichte einer Emanzipation erzählt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.1996

Der Rabbiner von Singapur
Glückliche Landung: Barbara Honigmanns Roman "Soharas Reise"

Als Barbara Honigmann 1986 mit ihrem "Roman von einem Kinde" ein glänzendes literarisches Debüt erlebte, hatte sie die DDR, die sozialistische Wahlheimat ihrer jüdischen Eltern, schon verlassen. Sie war in Straßburg "gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein". In ihrem zweiten Buch, "Eine Liebe aus nichts" (1991), ist die junge Romanheldin in Frankreich angekommen, aber nicht in Straßburg, sondern in Paris, der Stadt ihrer Sehnsucht und nun enttäuschten Erwartung.

Der neue, wiederum schmale Roman, "Soharas Reise", führt endlich nach Straßburg, das die bekehrte Autorin als Zentrum gelehrter jüdischer Orthodoxie angezogen hatte. Aber die Erzählerin setzt nun keineswegs zum Preis der Frömmigkeit an, sondern bringt die Handlung mit dem Motiv religiöser Scharlatanerie ins Rollen. Einen Teil seiner Milieureize bezieht der Roman aus den Unterschieden zwischen den beiden jüdischen Lagern, den Sephardim (spanisch-portugiesischer, afrikanischer und orientalischer Herkunft) und den Aschkenasim (mittel- und osteuropäischer Herkunft). Sohara, die Hauptfigur, und ihr Mann gehören zu Gruppen arabischer Juden, die am Ende des Algerien-Krieges ihr Land verlassen mußten. Straßburg ist die letzte Station der Flüchtlinge.

Die Familie lebt in einem zugleich gesegneten und zerrütteten Zustand. Sechs gesunde Kinder wachsen heran, aber Vater Simon reist in der Welt herum. Und wenn er heimkehrt, ist er immer noch auf der Durchfahrt: Frau und Kinder werden für ein paar Stunden über den Rhein und die Grenze zum Bahnhof in Kehl beordert. Angeblich sammelt er Geld für Juden in der Diaspora und für die Jeschiwot in Israel, für Friedhöfe, Schulen und Thorarollen. Für seine Familie läßt er andere sorgen. Kurzum, der "Rabbiner von Singapur", wie er sich nennt, ist ein Betrüger.

Die Erzählung setzt mit seinem eigentlichen Bubenstück ein. Er lockt die Familie mit dem Versprechen einer Ferienreise über den Rhein und verschwindet mit den Kindern, als Sohara nach Straßburg zurückkehrt, um eine vergessene Medikamententasche zu holen. Die Entführung glückt und löst zunächst keine Fahndung aus, weil er mit der Hilflosigkeit einer Frau rechnen kann, die er zur strikten Befolgung der Riten und Gesetze erzogen hat. Nun nimmt der Roman in ruhigeren Kapiteln der Erinnerung und der Zustandsbeschreibung seinen Fortgang, ohne je die Frage nach dem Schicksal der Kinder und die Spannung auf das Ende der Geschichte abzuschwächen. Sohara, die Ich-Erzählerin, vergegenwärtigt sich die Geschichte ihrer Familie in Ora, ihre Flucht mit dem Schiff, die Verlobung und die Heirat mit Simon. In Barbara Honigmanns Roman wird das Glaubensleben der arabischen Sephardim mit den verrückten und verzückten Tänzen der Männer in der Synagoge, zum Fest Simchat Thora, ebenso gegenwärtig wie das häusliche Leben mit seinem Alltag und der Vorbereitung und Feier des Schabbat.

Barbara Honigmann gibt ihrer Hauptfigur zusätzliches Profil durch eine Gegen-oder doch Begleitfigur, die Nachbarin Frau Kahn, eine deutschen Jüdin aus Mannheim, die das Konzentrationslager überlebte und mit ihrer Leidensgeschichte nicht hausieren gehen will. Sie hat sogar mit einer atheistischen jüdischen Vereinigung zu tun. Das Verhältnis der beiden Frauen konkretisiert eine Toleranz und Humanität jenseits der Glaubensgegensätze; und es entlastet die Autorin Barbara Honigmann von dem Verdacht religiösen Bekehrungseifers, wenn sie in der Gestalt der Sohara Frömmigkeit und Natürlichkeit so verbindet, daß niemals der Eindruck barer Simplizität aufkommt. Solcher zweiten Natürlichkeit entspricht die Sprache der Ich-Erzählerin, die den Leser gerade dadurch gefangennimmt, daß sie völlig unprätentiös wirkt - eine der gegenständlichen Welt zugewandte und selbst die Glaubensfragen ganz ins Sinnliche einschließende Sprache.

Eine humorlose moralische Exempelgeschichte jüdischer Orthodoxie ist dieser Roman daher ganz und gar nicht. Sohara wird von Frau Kahn behutsam aus ihrem Gefängnis herausgeführt und hat das Gefühl, "Urlaub" "in der eigenen Stadt" zu machen und "einen neuen Kontinent zu entdecken". Sie läßt Rabbiner Hagenau, den Richter der Gemeinde, tätig werden. Der schaltet sich ins internationale Netz der Rabbiner ein, in die "Thora Connection", und man findet in London den "Wunderheiler" Simon mit seinen Kindern.

Der Schluß des Romans "Soharas Reise" wird zum rasanten Finale. Wie man den falschen Rabbi in eine Falle lockt und dem Entführer die Kinder entführt, wie Mutter und Kinder zum Flugplatz rasen und sich während des Flugs vor Freude nicht bändigen können, wie sie in der Straßburger Wohnung die Großfamilie erwartet und wie alle ein Wiedersehensfest feiern - dies läßt wohl auch den hartgesottensten Leser nicht kalt. Eine am Ende märchenhafte und wunderbar stimmige Geschichte. WALTER HINCK

Barbara Honigmann: "Soharas Reise". Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1996. 128 S., geb., 28,- DM.

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