Michael Beard ist Physiker - und Frauenheld. Er hat den Nobelpreis erhalten, doch ist er alles andere als nobel: Im Beruf ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus, privat hält es ihn auf Dauer bei keiner Frau. Bis die geniale Idee eines Rivalen für Zündstoff in seinem Leben sorgt. In 'Solar' geht es nicht nur um Sonnen-, sondern auch um kriminelle Energie.
Er gehörte zu jener Sorte Männer – nicht wirklich attraktiv, meist kahl, klein, dick und klug –, die auf gewisse schöne Frauen unglaublich anziehend wirken. Zugute kam ihm dabei auch, dass manche Frauen ihn für ein Genie hielten, das man retten musste. Im Moment allerdings war Michael Beard nicht in bester Verfassung, lustlos, verzweifelt, nur auf eins fixiert, denn gerade ging seine fünfte Ehe in die Brüche. Michael Beard, 53, ist Nobelpreisträger der Physik. Doch seine besten Zeiten hat er hinter sich. Er lebt von seiner Reputation, gibt seinen Namen für Briefköpfe her, käut seine prämierte Idee in Vorträgen wieder und ergattert Fördergelder für ein politisches Prestigeprojekt: das Institut für Erneuerbare Energien. Wirklich neue Energie aber steckt er nur in den privaten Bereich: Während seiner fünften Ehe hat er es zu elf Affären gebracht. Nun aber rächt sich seine Frau und nimmt sich einen Liebhaber. Genau in dem Moment, als alles ins Wanken gerät, bietet sich ihm die Gelegenheit zu einem Coup. ›Solar‹ führt den Leser von London in die Arktis und bis nach New Mexico. Ian McEwans Roman ist eine ebenso gnadenlose wie vielschichtige Abrechnung mit der Politik, dem Wissenschaftsbetrieb – und einer Sorte Mann. Ein Buch, das den Faktor Mensch auf literarisch neue Art und Weise in die Klimarechnung einführt.
Er gehörte zu jener Sorte Männer – nicht wirklich attraktiv, meist kahl, klein, dick und klug –, die auf gewisse schöne Frauen unglaublich anziehend wirken. Zugute kam ihm dabei auch, dass manche Frauen ihn für ein Genie hielten, das man retten musste. Im Moment allerdings war Michael Beard nicht in bester Verfassung, lustlos, verzweifelt, nur auf eins fixiert, denn gerade ging seine fünfte Ehe in die Brüche. Michael Beard, 53, ist Nobelpreisträger der Physik. Doch seine besten Zeiten hat er hinter sich. Er lebt von seiner Reputation, gibt seinen Namen für Briefköpfe her, käut seine prämierte Idee in Vorträgen wieder und ergattert Fördergelder für ein politisches Prestigeprojekt: das Institut für Erneuerbare Energien. Wirklich neue Energie aber steckt er nur in den privaten Bereich: Während seiner fünften Ehe hat er es zu elf Affären gebracht. Nun aber rächt sich seine Frau und nimmt sich einen Liebhaber. Genau in dem Moment, als alles ins Wanken gerät, bietet sich ihm die Gelegenheit zu einem Coup. ›Solar‹ führt den Leser von London in die Arktis und bis nach New Mexico. Ian McEwans Roman ist eine ebenso gnadenlose wie vielschichtige Abrechnung mit der Politik, dem Wissenschaftsbetrieb – und einer Sorte Mann. Ein Buch, das den Faktor Mensch auf literarisch neue Art und Weise in die Klimarechnung einführt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tja, was soll man sagen, ein perfekter Roman. Mit Ian McEwans neuem Buch hat Rezensent Markus Gasser ihn tatsächlich gefunden. Kurz noch den Weg des Autors vom makabren Giftmischer des Literaturbetriebs über seinen Platz neben all den Jonathan Franzens des postpostmodernen Romans bis hin zu diesem hier skizziert. Und dann anfangen zu lesen, um nicht mehr aufzuhören, eintauchen in McEwans Abenteuerkosmos, glücklich gelenkt mittels eines "scharfkonturierten Plots". Wichtig zu wissen: Um Solarenergie geht es nur am Rande. Für Gasser nur vorgeschobene Aussage, um das Räderwerk des Romans in Gang zu bringen. Und er ist froh darüber. Ein Roman ist schließlich kein Debattenfeuilleton. Wenn McEwan hier und da sarkastisch gegen Klimawandelrhetorik Stellung bezieht, durch seine Figur, einen Handelsreisenden in solchen Sachen, indem er ihn mehr um Suff und Völlerei als um den Planeten sich sorgen lässt, so genügt das Gasser als Konzession an den Zeitgeist voll und ganz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2010Das Leben ist lesenswert
In diesem Bücherherbst ist das Rennen noch offen. Elf Romane, auf die man sich schon jetzt freuen kann - und ein Tagebuch.
Wir leben im Zeitalter der Selbstversuche: Geht es auch mal ohne Handy, Internet, Auto, Kaffee, Alkohol, High Heels? Während die große Urlaubsfrage für viele zu sein scheint: Laptop einpacken - oder mutiger Entzug vom Netz?, kommt niemand ernstlich auf die Idee, ohne Bücher in die Ferien zu fahren. Im Gegensatz zu fast allem anderen Zeitvertreib gibt es beim Lesen von Literatur kein Zuviel. Nur: was?
Eines schönen Herbstmorgens, als sie auf der Suche nach einem Buch in ihren gut gefüllten Regalen über Dutzende von Bänden stolperte, die sie schon lange nicht mehr abgestaubt, geschweige denn gelesen hatte oder die sie, wie ihr da bewusst wurde, eigentlich gern ein zweites Mal lesen würde, beschloss die englische Schriftstellerin Susan Hill, ein Jahr lang keine neuen Bücher mehr zu kaufen, sondern ausschließlich die zu lesen, die sie schon besaß. Ihr sehr persönlicher, ausschweifender Erfahrungsbericht vom Wiederlesen alter Lieblinge und Neuentdecken mancher Klassiker, "Howards End is on the Landing" (Profile Books, 2009), mag Buchhändlern, Verlegern und Agenten als Häresie erscheinen, macht aber Lust, ihrem Beispiel zu folgen - wenngleich er die Wirkung einer Einkaufsliste hat: Das möchte ich auch alles lesen.
Aber der neue Herbst steht vor der Tür. Der letzte war eine an überragenden Werken - man nehme nur Herta Müller, David Foster Wallace, Roberto Bolaño - außergewöhnlich reiche Saison (F.A.Z. vom 17. Juli 2009). Was solche Instant-Klassiker-Dichte angeht, kann der neue Bücherherbst zwar nicht mithalten. Wenn aber die Titel fehlen, an denen man nicht vorbeikommt, lassen sich umso mehr Entdeckungen machen. Zum Beispiel dürfen wir uns schon einmal auf zwölf aparte neue Erscheinungen freuen.
Auf die Gipfel deutscher Erzählkunst spaziert Martin Mosebach mit unnachahmlicher Eleganz und Leichtigkeit. In seinem Roman "Was davor geschah" (Hanser, 16. August) erzählt er davon, dass mitunter zwei Paare auseinandergehen müssen, damit ein drittes entstehen kann, während ein weiteres über der rückblickenden gemeinsamen Betrachtung dieser Commedia dell'Arte zusammenfindet. Eigentlich aber handelt auch dieser Roman des Frankfurter Autors von den Versuchen der Menschen, mit Hilfe der Form ihre Natur zu überwinden - und der Erkenntnis, dass ihnen dies selbst bei größten Zivilisierungsanstrengungen nie dauerhaft gelingen wird. Nur durch die Kunst, so begreifen wir beim Lesen dieses meisterlich komponierten Werks, lassen sich in diesem ewigen Kampf Etappensiege erzielen.
Für viel Gesprächsstoff wird Fritz J. Raddatz sorgen, der in seinen "Tagebüchern 1982 - 2001" (Rowohlt, 17. September) großartige Innenansichten der Jahre, die wir kennen, liefert. Wenn nicht gerade selbst im Zentrum des Geschehens, dann doch nie weit davon entfernt, gehört Raddatz nicht zu jenen Tagebuchschreibern, die sich als Chronisten verstehen. Er ist ein Mann der Hauptsachen, der Hauptpersonen und der Hauptgerüchte. Alle, wirklich alle, die im literarischen Leben dieser Zeit etwas zu melden hatten, kommen vor - und noch viele andere. Sei es die jahrzehntelang enge, letztlich aber doch enttäuschende Freundschaft mit Günter Grass oder der unglaublich eitle Hans Mayer, Marion Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt oder andere seiner Kollegen von der "Zeit" - für die literarische Republik dürften die Tagebücher von Raddatz das werden, was Dietls "Kir Royal" in den achtziger Jahren für München war: Kult- und Hassobjekt zugleich.
Wann immer es ihm zu doll wird, zieht Raddatz sich nach Sylt zurück. Dort verbringt auch Verlagsvertreter und Teilzeitvater Peter eine Ferienwoche mit seiner heranwachsenden Tochter. Thomas Hettche stellt sich in "Die Liebe der Väter" (Kiepenheuer & Witsch, 19. August) der ungeheuren Frage, wie viel Vater man sein kann, wenn man sein Kind nur selten sieht. Dass die Antwort darauf immer wieder neu gesucht und gefunden werden muss, macht die Integrität dieses Romans aus, der sich nebenbei auch als Nachruf auf unsere Buchkultur lesen lässt.
Der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach setzt seine im vergangenen Herbst mit "Verbrechen" fulminant begonnene literarische Karriere mit "Schuld" nahtlos fort (Piper, 2. August). Seine knappen, auf den Punkt erzählten Stories beziehen ihre Wucht aus der Berufserfahrung des Autors, ihre Intensität hingegen aus seinem schnörkellosen Stil - und der Erkenntnis, dass das Gesetz niemandem die moralische Verantwortung abnimmt, bisweilen am wenigsten dem, der es vertritt.
Gleich mehrere der stärksten Romane dieses Herbstes kommen aus Großbritannien. Hilary Mantels "Wölfe" (Dumont, 23. August), die Geschichte vom Aufstieg Thomas Cromwells zum Berater des politisch verblutenden Heinrichs VIII. und infolgedessen zur prägenden Gestalt im England des sechzehnten Jahrhunderts, wurde dort im vergangenen Jahr verdient mit dem Booker-Preis ausgezeichnet und sollte die Autorin nun endlich auch bei uns bekannt machen. Indem sie die Machtkämpfe zwischen Cromwell, Thomas More und Kardinal Wolsey nicht nur mit souveräner Kennerschaft, sondern auch mit subjektiver Charakterdeutung nachzeichnet, verwandelt Mantel den historischen Stoff in ein großes Stück Gegenwartsliteratur. Ihr Cromwell, Sohn eines Schmieds aus Putney, der den Krieg in Frankreich, das Geldgeschäft in Florenz und den Handel in Antwerpen kennengelernt hat, hält insgeheim zu den Protestanten. Wer glaubt, aus der sicheren Distanz von fünf Jahrhunderten gegenüber den Handelnden im Vorteil zu sein, wird eines Besseren belehrt.
Der fünfundfünfzigjährige Ire Colm Tóibín, der sich mit seinem Henry-James-Roman "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" (2005) auch hierzulande als herausragender Autor seiner Generation etabliert hat, erzählt in "Brooklyn" (Hanser, 6. September) von der jungen Eilis, die auf Drängen ihrer Schwester die ärmlichen Verhältnisse, aber auch die Sicherheit ihres südirischen Städtchens aufgibt und nach Amerika geht. Mit der aufrechten, intelligenten Eilis hat Tóibín eine Figur geschaffen, die den Leser nicht mehr loslässt. Vor allem aber ist sein Roman, getragen von einem Ton stiller Selbstverständlichkeit, eine ergreifende Meditation über Fremdheit, Heimweh, den Preis der Selbstbehauptung und das Vergehen der Zeit.
Wer es bunt, schnell, aufgeregt und anstößig mag, wird bei Adam Thirlwell auf seine Kosten kommen. Wie bereits in seinem bemerkenswerten Debüt "Strategie" (2004) geht es auch im neuen und drittem Roman des 1978 geborenen Engländers, "Flüchtig" (S. Fischer, 8. September), um die Lust des verdoppelten Zuschauens. Wir betrachten Haffner, den Helden, in einem alpinen Resort beim Betrachten des ihm entgleitenden Lebens. Aber Haffner, Ende siebzig, Londoner Jude, vermögender Banker und kürzlich verwitwet, ist noch nicht bereit, seinen Lastern - Frauen, Jazz, Cricket - abzuschwören. Auch wenn dem betagten, doch gänzlich unverzagten Helden dieses spritzigen Romans in seiner Liebe zu der Yogalehrerin Zinka nicht viel anderes übrigbleibt, als durchs Schlüsselloch gleichsam frustriert auf sein Leben zu spähen, ist das Resultat alles andere als ernüchternd. Thirlwells neues Buch besticht, wie schon die vorigen, vor allem als Experiment, das seinen Helden als Folie für erzählerische Extravaganzen und stilistische Ertüchtigung benutzt.
Ian McEwan betritt mit jedem seiner Romane Neuland, thematisch wie stilistisch. "Solar" (Diogenes, 27. September) beschäftigt sich in der tragikomischen Gestalt von Physik-Nobelpreisträger Michael Beard mit der Forscherszene rund um den Klimawandel, erzählt aber vor allem davon, dass der Mensch noch so ausgebufft sein kann - seine inneren Schweinehunde in Form von Bequemlichkeit, Gier, Gefallsucht und Eitelkeit werden ihm fast immer einen Strich noch durch die schlaueste Rechnung machen. Aus einem vermeintlich trockenen, schwierigen Thema macht Großmeister McEwan den brillantesten, witzigsten Roman der Saison.
"Die Unperfekten", das in Amerika bereits gefeierte Romandebüt des Kanadiers Tom Rachman (dtv Premium, 15. September), erzählt auf höchst originelle Weise vom allmählichen, doch unaufhaltsamen Niedergang einer internationalen Tageszeitung mit Sitz in Rom. Das Szenario, geschildert aus der kapitelweise wechselnden Perspektive der Beteiligten und Betroffenen, entfaltet neben unbedingter Melancholie indes auch anrührende Komik. Denn vom abgehalfterten Korrespondenten in Paris über die frustrierte Wirtschaftsreporterin, den besonnenen Chefkorrektor und eine habituell gestresste Chefredakteurin bis zum unfähigen panikstarren Verleger entwirft Rachman, ehemaliger Redakteur der "International Herald Tribune", ein denkwürdiges Panoptikum von Individualisten.
Der New Yorker David Levithan dekliniert in seinem "Wörterbuch der Liebenden" von A wie abwegig (",Normalerweise tu ich so was nicht', sagtest du.") bis Z wie Zenit ("Das ist er, der Augenblick, bevor du mir genau das erzählst, was ich nicht hören will.") ein vertrautes Gefühl in ungewöhnlichen Stichworten (Graf Verlag, 13. August). Und zu guter Letzt beschert uns die amerikanische Literatur noch ein großes Geheimnis: "Freedom", Jonathan Franzens ersten Roman seit den "Korrekturen" (Rowohlt, 17. September). Im Fall dieses Autors dürfte sich das Warten aller Wahrscheinlichkeit nach lohnen.
Argentinien, Heimat größter literarischen Einbildungskraft und Gastland der diesjährigen Buchmesse, verheißt außergewöhnliche Entdeckungen. Einen ersten Vorgeschmack gibt "Geschichte der Tränen" von Alan Pauls (Klett-Cotta, 20. August), ein im Supermankostüm eines rasanten Bewusstseinsmonologs getarnter Blick auf die verdrängte politische Vergangenheit. Und im November schließlich, einen Monat nach der Messe, gibt der hundertste Todestag Leo Tolstois dann all jenen, die es vielleicht doch Susan Hill nachtun möchten, den denkbar besten Grund, die Neuerscheinungen zugunsten dieses Klassikers unter den Klassikern zu überspringen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In diesem Bücherherbst ist das Rennen noch offen. Elf Romane, auf die man sich schon jetzt freuen kann - und ein Tagebuch.
Wir leben im Zeitalter der Selbstversuche: Geht es auch mal ohne Handy, Internet, Auto, Kaffee, Alkohol, High Heels? Während die große Urlaubsfrage für viele zu sein scheint: Laptop einpacken - oder mutiger Entzug vom Netz?, kommt niemand ernstlich auf die Idee, ohne Bücher in die Ferien zu fahren. Im Gegensatz zu fast allem anderen Zeitvertreib gibt es beim Lesen von Literatur kein Zuviel. Nur: was?
Eines schönen Herbstmorgens, als sie auf der Suche nach einem Buch in ihren gut gefüllten Regalen über Dutzende von Bänden stolperte, die sie schon lange nicht mehr abgestaubt, geschweige denn gelesen hatte oder die sie, wie ihr da bewusst wurde, eigentlich gern ein zweites Mal lesen würde, beschloss die englische Schriftstellerin Susan Hill, ein Jahr lang keine neuen Bücher mehr zu kaufen, sondern ausschließlich die zu lesen, die sie schon besaß. Ihr sehr persönlicher, ausschweifender Erfahrungsbericht vom Wiederlesen alter Lieblinge und Neuentdecken mancher Klassiker, "Howards End is on the Landing" (Profile Books, 2009), mag Buchhändlern, Verlegern und Agenten als Häresie erscheinen, macht aber Lust, ihrem Beispiel zu folgen - wenngleich er die Wirkung einer Einkaufsliste hat: Das möchte ich auch alles lesen.
Aber der neue Herbst steht vor der Tür. Der letzte war eine an überragenden Werken - man nehme nur Herta Müller, David Foster Wallace, Roberto Bolaño - außergewöhnlich reiche Saison (F.A.Z. vom 17. Juli 2009). Was solche Instant-Klassiker-Dichte angeht, kann der neue Bücherherbst zwar nicht mithalten. Wenn aber die Titel fehlen, an denen man nicht vorbeikommt, lassen sich umso mehr Entdeckungen machen. Zum Beispiel dürfen wir uns schon einmal auf zwölf aparte neue Erscheinungen freuen.
Auf die Gipfel deutscher Erzählkunst spaziert Martin Mosebach mit unnachahmlicher Eleganz und Leichtigkeit. In seinem Roman "Was davor geschah" (Hanser, 16. August) erzählt er davon, dass mitunter zwei Paare auseinandergehen müssen, damit ein drittes entstehen kann, während ein weiteres über der rückblickenden gemeinsamen Betrachtung dieser Commedia dell'Arte zusammenfindet. Eigentlich aber handelt auch dieser Roman des Frankfurter Autors von den Versuchen der Menschen, mit Hilfe der Form ihre Natur zu überwinden - und der Erkenntnis, dass ihnen dies selbst bei größten Zivilisierungsanstrengungen nie dauerhaft gelingen wird. Nur durch die Kunst, so begreifen wir beim Lesen dieses meisterlich komponierten Werks, lassen sich in diesem ewigen Kampf Etappensiege erzielen.
Für viel Gesprächsstoff wird Fritz J. Raddatz sorgen, der in seinen "Tagebüchern 1982 - 2001" (Rowohlt, 17. September) großartige Innenansichten der Jahre, die wir kennen, liefert. Wenn nicht gerade selbst im Zentrum des Geschehens, dann doch nie weit davon entfernt, gehört Raddatz nicht zu jenen Tagebuchschreibern, die sich als Chronisten verstehen. Er ist ein Mann der Hauptsachen, der Hauptpersonen und der Hauptgerüchte. Alle, wirklich alle, die im literarischen Leben dieser Zeit etwas zu melden hatten, kommen vor - und noch viele andere. Sei es die jahrzehntelang enge, letztlich aber doch enttäuschende Freundschaft mit Günter Grass oder der unglaublich eitle Hans Mayer, Marion Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt oder andere seiner Kollegen von der "Zeit" - für die literarische Republik dürften die Tagebücher von Raddatz das werden, was Dietls "Kir Royal" in den achtziger Jahren für München war: Kult- und Hassobjekt zugleich.
Wann immer es ihm zu doll wird, zieht Raddatz sich nach Sylt zurück. Dort verbringt auch Verlagsvertreter und Teilzeitvater Peter eine Ferienwoche mit seiner heranwachsenden Tochter. Thomas Hettche stellt sich in "Die Liebe der Väter" (Kiepenheuer & Witsch, 19. August) der ungeheuren Frage, wie viel Vater man sein kann, wenn man sein Kind nur selten sieht. Dass die Antwort darauf immer wieder neu gesucht und gefunden werden muss, macht die Integrität dieses Romans aus, der sich nebenbei auch als Nachruf auf unsere Buchkultur lesen lässt.
Der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach setzt seine im vergangenen Herbst mit "Verbrechen" fulminant begonnene literarische Karriere mit "Schuld" nahtlos fort (Piper, 2. August). Seine knappen, auf den Punkt erzählten Stories beziehen ihre Wucht aus der Berufserfahrung des Autors, ihre Intensität hingegen aus seinem schnörkellosen Stil - und der Erkenntnis, dass das Gesetz niemandem die moralische Verantwortung abnimmt, bisweilen am wenigsten dem, der es vertritt.
Gleich mehrere der stärksten Romane dieses Herbstes kommen aus Großbritannien. Hilary Mantels "Wölfe" (Dumont, 23. August), die Geschichte vom Aufstieg Thomas Cromwells zum Berater des politisch verblutenden Heinrichs VIII. und infolgedessen zur prägenden Gestalt im England des sechzehnten Jahrhunderts, wurde dort im vergangenen Jahr verdient mit dem Booker-Preis ausgezeichnet und sollte die Autorin nun endlich auch bei uns bekannt machen. Indem sie die Machtkämpfe zwischen Cromwell, Thomas More und Kardinal Wolsey nicht nur mit souveräner Kennerschaft, sondern auch mit subjektiver Charakterdeutung nachzeichnet, verwandelt Mantel den historischen Stoff in ein großes Stück Gegenwartsliteratur. Ihr Cromwell, Sohn eines Schmieds aus Putney, der den Krieg in Frankreich, das Geldgeschäft in Florenz und den Handel in Antwerpen kennengelernt hat, hält insgeheim zu den Protestanten. Wer glaubt, aus der sicheren Distanz von fünf Jahrhunderten gegenüber den Handelnden im Vorteil zu sein, wird eines Besseren belehrt.
Der fünfundfünfzigjährige Ire Colm Tóibín, der sich mit seinem Henry-James-Roman "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" (2005) auch hierzulande als herausragender Autor seiner Generation etabliert hat, erzählt in "Brooklyn" (Hanser, 6. September) von der jungen Eilis, die auf Drängen ihrer Schwester die ärmlichen Verhältnisse, aber auch die Sicherheit ihres südirischen Städtchens aufgibt und nach Amerika geht. Mit der aufrechten, intelligenten Eilis hat Tóibín eine Figur geschaffen, die den Leser nicht mehr loslässt. Vor allem aber ist sein Roman, getragen von einem Ton stiller Selbstverständlichkeit, eine ergreifende Meditation über Fremdheit, Heimweh, den Preis der Selbstbehauptung und das Vergehen der Zeit.
Wer es bunt, schnell, aufgeregt und anstößig mag, wird bei Adam Thirlwell auf seine Kosten kommen. Wie bereits in seinem bemerkenswerten Debüt "Strategie" (2004) geht es auch im neuen und drittem Roman des 1978 geborenen Engländers, "Flüchtig" (S. Fischer, 8. September), um die Lust des verdoppelten Zuschauens. Wir betrachten Haffner, den Helden, in einem alpinen Resort beim Betrachten des ihm entgleitenden Lebens. Aber Haffner, Ende siebzig, Londoner Jude, vermögender Banker und kürzlich verwitwet, ist noch nicht bereit, seinen Lastern - Frauen, Jazz, Cricket - abzuschwören. Auch wenn dem betagten, doch gänzlich unverzagten Helden dieses spritzigen Romans in seiner Liebe zu der Yogalehrerin Zinka nicht viel anderes übrigbleibt, als durchs Schlüsselloch gleichsam frustriert auf sein Leben zu spähen, ist das Resultat alles andere als ernüchternd. Thirlwells neues Buch besticht, wie schon die vorigen, vor allem als Experiment, das seinen Helden als Folie für erzählerische Extravaganzen und stilistische Ertüchtigung benutzt.
Ian McEwan betritt mit jedem seiner Romane Neuland, thematisch wie stilistisch. "Solar" (Diogenes, 27. September) beschäftigt sich in der tragikomischen Gestalt von Physik-Nobelpreisträger Michael Beard mit der Forscherszene rund um den Klimawandel, erzählt aber vor allem davon, dass der Mensch noch so ausgebufft sein kann - seine inneren Schweinehunde in Form von Bequemlichkeit, Gier, Gefallsucht und Eitelkeit werden ihm fast immer einen Strich noch durch die schlaueste Rechnung machen. Aus einem vermeintlich trockenen, schwierigen Thema macht Großmeister McEwan den brillantesten, witzigsten Roman der Saison.
"Die Unperfekten", das in Amerika bereits gefeierte Romandebüt des Kanadiers Tom Rachman (dtv Premium, 15. September), erzählt auf höchst originelle Weise vom allmählichen, doch unaufhaltsamen Niedergang einer internationalen Tageszeitung mit Sitz in Rom. Das Szenario, geschildert aus der kapitelweise wechselnden Perspektive der Beteiligten und Betroffenen, entfaltet neben unbedingter Melancholie indes auch anrührende Komik. Denn vom abgehalfterten Korrespondenten in Paris über die frustrierte Wirtschaftsreporterin, den besonnenen Chefkorrektor und eine habituell gestresste Chefredakteurin bis zum unfähigen panikstarren Verleger entwirft Rachman, ehemaliger Redakteur der "International Herald Tribune", ein denkwürdiges Panoptikum von Individualisten.
Der New Yorker David Levithan dekliniert in seinem "Wörterbuch der Liebenden" von A wie abwegig (",Normalerweise tu ich so was nicht', sagtest du.") bis Z wie Zenit ("Das ist er, der Augenblick, bevor du mir genau das erzählst, was ich nicht hören will.") ein vertrautes Gefühl in ungewöhnlichen Stichworten (Graf Verlag, 13. August). Und zu guter Letzt beschert uns die amerikanische Literatur noch ein großes Geheimnis: "Freedom", Jonathan Franzens ersten Roman seit den "Korrekturen" (Rowohlt, 17. September). Im Fall dieses Autors dürfte sich das Warten aller Wahrscheinlichkeit nach lohnen.
Argentinien, Heimat größter literarischen Einbildungskraft und Gastland der diesjährigen Buchmesse, verheißt außergewöhnliche Entdeckungen. Einen ersten Vorgeschmack gibt "Geschichte der Tränen" von Alan Pauls (Klett-Cotta, 20. August), ein im Supermankostüm eines rasanten Bewusstseinsmonologs getarnter Blick auf die verdrängte politische Vergangenheit. Und im November schließlich, einen Monat nach der Messe, gibt der hundertste Todestag Leo Tolstois dann all jenen, die es vielleicht doch Susan Hill nachtun möchten, den denkbar besten Grund, die Neuerscheinungen zugunsten dieses Klassikers unter den Klassikern zu überspringen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2010Neun Lachsbrötchen
Eiskalt kalkuliert: Ian McEwans neuer Roman „Solar”
Auf der viertletzten Seite des Romans, als der schließlich in vielfacher Gestalt auftretende Teufel schon heftig an seinem Helden zerrt, um ihn in den Höllenschlund zu reißen, bekommt Professor Michael Beard noch eine Einladung. Sie gilt einer Rede vor Außenministern auf der Klimakonferenz in Kopenhagen, eben jenem Weltereignis vom vergangenen Dezember, das mit einem „Minimalkonsens” endete, der keinen der teilnehmenden Staaten verpflichtete, und das seitdem als Debakel gilt. „He would be at one with its spirits”, denkt sich der Held, „he was, he supposed, the perfect choice. He would be there.” Diese Einigkeit ist selbstverständlich, von Seiten des Autors betrachtet, tiefe Ironie. Was auch heißt: Der Autor ist mit seinem Helden von Grund auf einverstanden, als die Übertreibung, die er sein soll.
Zu Beginn von Ian McEwans Roman „Solar” (Jonathan Cape Publishers. 286 Seiten, 18.99 Pfund), der in Großbritannien vor drei Wochen erschienen ist und zum bisher größten Publikumserfolg dieses Autors zu werden scheint, ist der Physiker Michael Beard dreiundfünfzig Jahre alt. Als Endzwanziger erhielt er für seine Studien zur Einwirkung von Licht auf feste Materie den Nobelpreis. Sein Name schmückt Briefbögen, er hält Reden, er leitet, eher pro forma, ein Institut für die Erforschung erneuerbarer Energien, das offenbar eine größere politische Fehlentscheidung ist – und verwaltet ansonsten seine Pfründe. Er ist ein Schwätzer, der dick und immer dicker wird, ein Frauenheld, dessen fünfte Ehe auseinanderbricht, ein schlechter Freund und verantwortungsloser Chef. Er ist ein Säufer, ein Dieb, ein Betrüger, der nichts dabei findet, den Assistenten seiner Forschungsergebnisse zu berauben und einen Unschuldigen, der ihm im Wege ist, ins Gefängnis zu bringen. Die Erwärmung des Klimas interessiert ihn weitaus weniger als die Qualität seiner Vorspeise.
Man muss also nicht bis zum Ende, bis zur Einladung nach Kopenhagen, lesen, um zu wissen, was Michael Beard tatsächlich ist, nämlich eine Allegorie – für den Menschen, die Menschheit oder die globale Politik, ganz wie es dem Leser behagt. Er ist eine Bebilderung des ebenso schlichten wie moralischen Gedankens, es sei der Mensch als solcher, der den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, herbeiführt, durch seine Gier, seinen Egoismus, seine Ignoranz und seine nicht nachlassende Bereitschaft, Ausreden für seine eigenen radikale Unvernunft zu finden. Über neun Jahre erstreckt sich die Handlung des Romans, und während Michael Beard immer fetter wird und trotzdem immer neue Frauen findet, die mit ihm schlafen wollen, ändert sich sein Charakter nicht – er wird eben nur immer monströser.
Für die Dramaturgie der Geschichte hat die bedingungslose Unveränderlichkeit des Helden erhebliche Konsequenzen: Er gliedert sich, wie ein Schelmenroman, in Episoden, aus denen der Unverbesserliche herauskommt, wie er hineingegangen war – Episoden übrigens, mit denen der Autor oft zu ungeduldig umgeht. So schafft Beard sich zwar seine Wettbewerber um die geschlechtliche Gunst der eigenen Frau und den unliebsamen, weil von ihm ausgebeuteten Assistenten durch eine mörderische Intrige vom Hals. Aber kaum ist die Falle gestellt, sind Polizei und Staatsanwaltschaft schon hineingestolpert – und der liederliche Professor hat all seine Ziele erreicht. Gute Kriminalgeschichten verlangen einen höheren detektivischen wie psychologischen Aufwand.
Ein hohes Maß an Slapstick ist dabei wohl unvermeidlich, wobei es mehr als eine Frage des guten (oder schlechten) Geschmacks ist, ob man es lustig findet, wenn Michael Beard bei einer großen Rede aufgrund des vorherigen Verzehrs von neun Lachsbrötchen mit der Übelkeit kämpft oder wenn ihm während eines hochpolitischen Besuchs in der Arktis beim Urinieren in großer Kälte der Penis abzufrieren droht. Solche Szenen wirken wie Versuche, eine Figur, die sich für den Leser schnell erschöpft, dadurch interessant zu machen, dass man ihr noch eine rote Pappnase spendiert.
Es steckt also ein literarisches, ein handwerkliches Problem in diesen vermeintlich komischen Szenen, ein Problem, das dadurch nicht geringer wird, dass die Geschichte ausschließlich aus der Perspektive des Helden erzählt wird – denn spätestens im zweiten Teil des Romans, der im Jahr 2005 spielt und in dem sich Michael Beard in einen Unternehmer in der Solarbranche verwandelt, wüsste man gern, was ihn denn, abgesehen vom Nobelpreis, für seine Frauen, Auftraggeber und Mitarbeiter so interessant macht. Man erfährt es nicht. Und deswegen bricht man auch kein Geheimnis, wenn man verrät, wie der Roman endet: in einer persönlichen Apokalypse, in der sich alle Sünden gleichzeitig rächen.
Das Buch „Solar” wird gepriesen als der erste Roman eines Schriftstellers von Weltrang, der vom Klimawandel handle. Nun trifft es zwar zu, dass sich Michael Beard, und zwar längst nur noch aus Bequemlichkeit und Gewinnstreben, mit physikalischen Problemen beschäftigt, die womöglich zu neuen, ökologischen Techniken der Energiegewinnung führen. Und es stimmt auch, dass der Roman einige (und gar nicht langweilige) Passagen zur Photosynthese enthält, in denen deren Potential auf wissenschaftliche Weise betrachtet wird. Nun kann aber bei einem Autor vom Rang Ian McEwans die Recherche nicht das letzte und höchste Argument für ein Buch sein, sondern nur die gelungene Form.
Die Überhöhung der Recherche hat indessen einen Zweck: Je abstoßender der Professor wirkt, desto heller leuchtet die Wissenschaft, wie sie sich der Autor zu eigen macht. Er will die Anerkennung des Klimawandels als Gegenstand der universalen Sorge – und seine Anerkennung als Autor des Sujets. Aber wem nützt das, außer ihm, und das nur abstrakt?
Denn was solche Anerkennung praktisch bedeutet, lässt sich vortrefflich an der angeblich gescheiterten Klimakonferenz beobachten. Anerkannt war das Problem der globalen Erwärmung ja von allen Delegierten, auch von den Amerikanern und den Chinesen. Wobei eben diese Anerkennung für jeden teilnehmenden Staat die Ermächtigung bedeutete, das eigene politische und wirtschaftliche Interesse angesichts des Klimawandels zu verfolgen – mit dem bekannten Ergebnis, dass die mächtigen Staaten ihre nicht nur klimapolitischen, sondern vor allem energiepolitischen Interessen besser durchsetzen konnten als die schwächeren und die europäischen Nationen, die in dieser Konkurrenz auf der Verliererseite standen. Wobei gewiss ist, dass das Problem anerkannt genug ist, um in die nächste Konferenz getragen zu werden. Wo, fragt man sich da, soll nun der besondere Nutzen einer literarischen Anerkennung der globalen Erwärmung liegen?
Vielleicht in einer Gestalt wie Professor Michael Beard. Vielleicht in einer poetischen Bestätigung des volkstümlichen Vorurteils von der allgemeinen und unverbesserlichen Gier, die das Menschengeschlecht in den Untergang treibe. Ian McEwan war einmal einer der besten Schriftsteller Europas, und „Atonement” („Abbitte”, 2001) ist ein Meisterwerk der psychologischen Intrige und der historischen Verdichtung. Doch mit dem Erfolg scheint in Ian McEwan das Bedürfnis gewachsen zu sein, sich in die Mitte der Gesellschaft hineinzuschreiben, seine Bücher zu Dokumenten allfälliger Gemeinplätze zu machen. Das war schon bei „Saturday” (2005) so, den vierundzwanzig Stunden eines Arztes zwischen Straßenkriminalität, Chorea Huntington und Demonstrationen gegen den Irakkrieg. In „Solar” ist es ärger, weil McEwan aus dem Helden einen Popanz macht. Aus der Bekräftigung volkstümlicher Vorurteile entstehen aber keine guten Bücher. THOMAS STEINFELD
Muss man einer Allegorie eine rote Pappnase aufsetzen?
Muss es wirklich eine Literatur der globalen Erwärmung geben?
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Eiskalt kalkuliert: Ian McEwans neuer Roman „Solar”
Auf der viertletzten Seite des Romans, als der schließlich in vielfacher Gestalt auftretende Teufel schon heftig an seinem Helden zerrt, um ihn in den Höllenschlund zu reißen, bekommt Professor Michael Beard noch eine Einladung. Sie gilt einer Rede vor Außenministern auf der Klimakonferenz in Kopenhagen, eben jenem Weltereignis vom vergangenen Dezember, das mit einem „Minimalkonsens” endete, der keinen der teilnehmenden Staaten verpflichtete, und das seitdem als Debakel gilt. „He would be at one with its spirits”, denkt sich der Held, „he was, he supposed, the perfect choice. He would be there.” Diese Einigkeit ist selbstverständlich, von Seiten des Autors betrachtet, tiefe Ironie. Was auch heißt: Der Autor ist mit seinem Helden von Grund auf einverstanden, als die Übertreibung, die er sein soll.
Zu Beginn von Ian McEwans Roman „Solar” (Jonathan Cape Publishers. 286 Seiten, 18.99 Pfund), der in Großbritannien vor drei Wochen erschienen ist und zum bisher größten Publikumserfolg dieses Autors zu werden scheint, ist der Physiker Michael Beard dreiundfünfzig Jahre alt. Als Endzwanziger erhielt er für seine Studien zur Einwirkung von Licht auf feste Materie den Nobelpreis. Sein Name schmückt Briefbögen, er hält Reden, er leitet, eher pro forma, ein Institut für die Erforschung erneuerbarer Energien, das offenbar eine größere politische Fehlentscheidung ist – und verwaltet ansonsten seine Pfründe. Er ist ein Schwätzer, der dick und immer dicker wird, ein Frauenheld, dessen fünfte Ehe auseinanderbricht, ein schlechter Freund und verantwortungsloser Chef. Er ist ein Säufer, ein Dieb, ein Betrüger, der nichts dabei findet, den Assistenten seiner Forschungsergebnisse zu berauben und einen Unschuldigen, der ihm im Wege ist, ins Gefängnis zu bringen. Die Erwärmung des Klimas interessiert ihn weitaus weniger als die Qualität seiner Vorspeise.
Man muss also nicht bis zum Ende, bis zur Einladung nach Kopenhagen, lesen, um zu wissen, was Michael Beard tatsächlich ist, nämlich eine Allegorie – für den Menschen, die Menschheit oder die globale Politik, ganz wie es dem Leser behagt. Er ist eine Bebilderung des ebenso schlichten wie moralischen Gedankens, es sei der Mensch als solcher, der den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, herbeiführt, durch seine Gier, seinen Egoismus, seine Ignoranz und seine nicht nachlassende Bereitschaft, Ausreden für seine eigenen radikale Unvernunft zu finden. Über neun Jahre erstreckt sich die Handlung des Romans, und während Michael Beard immer fetter wird und trotzdem immer neue Frauen findet, die mit ihm schlafen wollen, ändert sich sein Charakter nicht – er wird eben nur immer monströser.
Für die Dramaturgie der Geschichte hat die bedingungslose Unveränderlichkeit des Helden erhebliche Konsequenzen: Er gliedert sich, wie ein Schelmenroman, in Episoden, aus denen der Unverbesserliche herauskommt, wie er hineingegangen war – Episoden übrigens, mit denen der Autor oft zu ungeduldig umgeht. So schafft Beard sich zwar seine Wettbewerber um die geschlechtliche Gunst der eigenen Frau und den unliebsamen, weil von ihm ausgebeuteten Assistenten durch eine mörderische Intrige vom Hals. Aber kaum ist die Falle gestellt, sind Polizei und Staatsanwaltschaft schon hineingestolpert – und der liederliche Professor hat all seine Ziele erreicht. Gute Kriminalgeschichten verlangen einen höheren detektivischen wie psychologischen Aufwand.
Ein hohes Maß an Slapstick ist dabei wohl unvermeidlich, wobei es mehr als eine Frage des guten (oder schlechten) Geschmacks ist, ob man es lustig findet, wenn Michael Beard bei einer großen Rede aufgrund des vorherigen Verzehrs von neun Lachsbrötchen mit der Übelkeit kämpft oder wenn ihm während eines hochpolitischen Besuchs in der Arktis beim Urinieren in großer Kälte der Penis abzufrieren droht. Solche Szenen wirken wie Versuche, eine Figur, die sich für den Leser schnell erschöpft, dadurch interessant zu machen, dass man ihr noch eine rote Pappnase spendiert.
Es steckt also ein literarisches, ein handwerkliches Problem in diesen vermeintlich komischen Szenen, ein Problem, das dadurch nicht geringer wird, dass die Geschichte ausschließlich aus der Perspektive des Helden erzählt wird – denn spätestens im zweiten Teil des Romans, der im Jahr 2005 spielt und in dem sich Michael Beard in einen Unternehmer in der Solarbranche verwandelt, wüsste man gern, was ihn denn, abgesehen vom Nobelpreis, für seine Frauen, Auftraggeber und Mitarbeiter so interessant macht. Man erfährt es nicht. Und deswegen bricht man auch kein Geheimnis, wenn man verrät, wie der Roman endet: in einer persönlichen Apokalypse, in der sich alle Sünden gleichzeitig rächen.
Das Buch „Solar” wird gepriesen als der erste Roman eines Schriftstellers von Weltrang, der vom Klimawandel handle. Nun trifft es zwar zu, dass sich Michael Beard, und zwar längst nur noch aus Bequemlichkeit und Gewinnstreben, mit physikalischen Problemen beschäftigt, die womöglich zu neuen, ökologischen Techniken der Energiegewinnung führen. Und es stimmt auch, dass der Roman einige (und gar nicht langweilige) Passagen zur Photosynthese enthält, in denen deren Potential auf wissenschaftliche Weise betrachtet wird. Nun kann aber bei einem Autor vom Rang Ian McEwans die Recherche nicht das letzte und höchste Argument für ein Buch sein, sondern nur die gelungene Form.
Die Überhöhung der Recherche hat indessen einen Zweck: Je abstoßender der Professor wirkt, desto heller leuchtet die Wissenschaft, wie sie sich der Autor zu eigen macht. Er will die Anerkennung des Klimawandels als Gegenstand der universalen Sorge – und seine Anerkennung als Autor des Sujets. Aber wem nützt das, außer ihm, und das nur abstrakt?
Denn was solche Anerkennung praktisch bedeutet, lässt sich vortrefflich an der angeblich gescheiterten Klimakonferenz beobachten. Anerkannt war das Problem der globalen Erwärmung ja von allen Delegierten, auch von den Amerikanern und den Chinesen. Wobei eben diese Anerkennung für jeden teilnehmenden Staat die Ermächtigung bedeutete, das eigene politische und wirtschaftliche Interesse angesichts des Klimawandels zu verfolgen – mit dem bekannten Ergebnis, dass die mächtigen Staaten ihre nicht nur klimapolitischen, sondern vor allem energiepolitischen Interessen besser durchsetzen konnten als die schwächeren und die europäischen Nationen, die in dieser Konkurrenz auf der Verliererseite standen. Wobei gewiss ist, dass das Problem anerkannt genug ist, um in die nächste Konferenz getragen zu werden. Wo, fragt man sich da, soll nun der besondere Nutzen einer literarischen Anerkennung der globalen Erwärmung liegen?
Vielleicht in einer Gestalt wie Professor Michael Beard. Vielleicht in einer poetischen Bestätigung des volkstümlichen Vorurteils von der allgemeinen und unverbesserlichen Gier, die das Menschengeschlecht in den Untergang treibe. Ian McEwan war einmal einer der besten Schriftsteller Europas, und „Atonement” („Abbitte”, 2001) ist ein Meisterwerk der psychologischen Intrige und der historischen Verdichtung. Doch mit dem Erfolg scheint in Ian McEwan das Bedürfnis gewachsen zu sein, sich in die Mitte der Gesellschaft hineinzuschreiben, seine Bücher zu Dokumenten allfälliger Gemeinplätze zu machen. Das war schon bei „Saturday” (2005) so, den vierundzwanzig Stunden eines Arztes zwischen Straßenkriminalität, Chorea Huntington und Demonstrationen gegen den Irakkrieg. In „Solar” ist es ärger, weil McEwan aus dem Helden einen Popanz macht. Aus der Bekräftigung volkstümlicher Vorurteile entstehen aber keine guten Bücher. THOMAS STEINFELD
Muss man einer Allegorie eine rote Pappnase aufsetzen?
Muss es wirklich eine Literatur der globalen Erwärmung geben?
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»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern