Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman um die Phantasiemaschine Solenoid schreibt sich Mircea Cartarescu endgültig in die Reihe der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart ein.
Hohn und Spott erntet ein junger Mann in seinem Literaturkreis, als er dort seinen Text "Der Niedergang" zum Besten gibt. Aus ihm wird nicht wie erhofft ein gefeierter Schriftsteller, sondern ein Lehrer in der Vorstadt von Bukarest. Als dieser namenlose Erzähler jedoch ein Haus in Form eines Schiffes kauft, gerät er in den Bannkreis des Solenoids, einer Art riesiger Magnetspule, die sich unterhalb des Kellers befindet. Deren Gravitationskraft zieht aber nicht nach unten, sondern hebt konsequent alles in die Höhe, was in ihr Umfeld gerät - Menschen, Dinge, ja die Wirklichkeit selbst. Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman hat Mircea Cartarescu erneut Weltliteratur geschaffen.
Hohn und Spott erntet ein junger Mann in seinem Literaturkreis, als er dort seinen Text "Der Niedergang" zum Besten gibt. Aus ihm wird nicht wie erhofft ein gefeierter Schriftsteller, sondern ein Lehrer in der Vorstadt von Bukarest. Als dieser namenlose Erzähler jedoch ein Haus in Form eines Schiffes kauft, gerät er in den Bannkreis des Solenoids, einer Art riesiger Magnetspule, die sich unterhalb des Kellers befindet. Deren Gravitationskraft zieht aber nicht nach unten, sondern hebt konsequent alles in die Höhe, was in ihr Umfeld gerät - Menschen, Dinge, ja die Wirklichkeit selbst. Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman hat Mircea Cartarescu erneut Weltliteratur geschaffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2019Das Schöne rettet die Welt
Ein zwölfseitiger Hilfeschrei als Ausdruck der menschlichen Agonie? Mircea Cartarescu kann sich das leisten, denn in seinem überbordenden Roman "Solenoid" hat er den Raum dazu. Und die außerdem nötige Poesie.
Zur Begriffsklärung des Titels vorweg dies: Ein Solenoid bezeichnet eine zylinderförmig möglichst eng gewickelte Drahtspule, mit der ein Magnetfeld erzeugt werden kann. So weit die technische Praxis. In der literarischen Fiktion von Mircea Cartarescus neuem Roman "Solenoid" sind sechs solcher Spulen ins Riesenhafte vergrößert unter dem Stadtkern von Bukarest angebracht: eine in der Mitte und fünf schwächere, aber immer noch sehr wirkungsmächtige kreisförmig darum herum, eine davon unter dem Haus des namenlosen Ich-Erzählers.
Wenn er sich über architektonisch verschachtelte Wege abwärts bewegt, klingt das wechselweise wie Lovecraft in der Beschwörung namenlosen Grauens und wie Borges in der dann wieder akribisch-präzisen Kälte einer Prosa wie dieser hier: "Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, war die Welt verschwunden. Nicht nur konnte ich nichts mehr sehen, das Sehen selbst war verschwunden. Ich erinnerte mich nicht mehr, was es hieß, sehen zu können. Ich schloss und öffnete die Augen, ohne eine Änderung zu spüren. Auch die anderen Sinne mit den dazugehörigen Lichtern waren verschwunden, bis auf den Druck meiner Sohlen auf dem Gitter. Äußerst verschreckt versuchte ich, die Tür wieder zu öffnen. Aber es gab keine Tür mehr. Es gab auch die Wände um mich herum nicht mehr. Meine Hände ragten ins Leere, ins Nichts, und meine Fingerspitzen wollten sich wie Insektenfühler an die Wirklichkeit klammern. Oder wie ganz geringfügige elektrische Entladungen die Wirklichkeit generieren. Aber sie kehrten reglos und ohne eine Nachricht aus Tod und Ödnis zurück. Ich war allein, hing wie eine Statue auf meinem Gitterabsatz in der Unendlichkeit der Nacht."
Ohne Einfluss des Phantastischen geht es bei Cartarescu nicht
Dieses lange Zitat ist nur ein winziger Ausschnitt aus einer mehrere Seiten umfassenden Beschreibung des Wegs hinab zum Solenoid. Cartarescu nimmt sich generell viel Zeit, schafft opulente Bilder und Visionen. Sein Roman bietet dafür neunhundert Seiten Raum, und wer mit Phantastik nichts anfangen kann, der spare sich die Lektüre. Aber er verpasst dann auch ein Bravourstück zeitgenössischer Literatur, die ihre Wurzeln in der Tradition hat. Nicht umsonst ist eine Passage aus Kafkas Tagebüchern emotionales Leitmotiv des Ich-Erzählers, das Ideal, das er als Schriftsteller immer vor Augen gehabt hätte, wenn nicht seine erste Talentprobe, eine epische Gedichtrezitation im Oktober 1977 vor einem privaten Literaturkreis, ein Debakel gewesen wäre, worauf der harsch abgeurteilte Dichter lieber in den Schuldienst ging. Die Lebenslinie des Erzählers (Geburtsjahr, Herkunft, Berufsweg) deckt sich weitgehend mit der des Autors Cartarescu, nur dass dieser Erfolg mit seinen frühen Gedichten hatte. Man darf sich wohl den echten Cartarescu als den erfolgreichen Schriftsteller in einem Paralleluniversum vorstellen, den der Ich-Erzähler immer wieder heraufbeschwört.
Er tut das ohne Sehnsucht, denn noch schreibt er selbst auch weiter, allerdings ohne jede literarische Wirkungsabsicht: ein ausuferndes Tagebuch, in das auch Kindheitsreminiszenzen oder alte Traumnotate eingehen und als das man den Roman ansehen muss, den man gerade liest. Damit bedient Cartarescu eine romantische Erzähltradition, und "Solenoid" ist denn auch ein Nachtstück geworden, noch dunkler als seine 2007 im rumänischen Original abgeschlossene "Orbitor"-Romantrilogie, die ihren Autor international berühmt und zum Daueranwärter auf den Literaturnobelpreis gemacht hat. Tonfall und Genremischungen indes sind dieselben geblieben, was alte Cartarescu-Leser begeistern, ihm aber wohl keine neuen zutreiben wird.
Cartarescu selbst bezeichnet "Solenoid" und "Orbitor" als die entscheidenden Werke für sein ganzes Schreiben. Auf die Trilogie liefen seine ersten dreißig Jahre als Schriftsteller hinaus; nach deren Abschluss konnte er dann vier Jahre lang nichts Neues mehr zu Papier bringen - "als hätte ich keine Worte mehr", sagte er letztes Jahr bei einem Gespräch in Bukarest. Dann aber kam ein vierjähriger Schreibfluss, und am Ende stand mit "Solenoid" einer der erfolgreichsten rumänischen Romane der letzten Jahre mit zwanzigtausend verkauften Exemplaren und Übersetzungen in bislang zehn Sprachen.
Obwohl die deutsche Übersetzung von Ernest Wichner ihrerseits vier Jahre brauchte, darf man das angesichts des Formen- und Farbenreichtums dieser Prosa schnell nennen, denn in "Solenoid" hat Cartarescu noch viel mehr hineingepackt als in die Vorgängerbücher, und nur selten gibt es einen Erholungspunkt wie die zwölfseitige permanente Wiederholung des Wortes "ajutor!" (Hilfe!) - ein Notschrei, den ein vielstimmiger Chor in einer der Phantasmagorien anstimmt. Erholung indes nur für den Übersetzer, nicht für den Leser, den dieses "Lied unserer verängstigten Agonie" in denselben Zustand versetzt wie den Ich-Erzähler, dem dieser Ausbruch der Mühseligen und Beladenen Schauer durch den Körper jagt. In der deutschen Literatur gibt es dazu seit letztem Jahr eine Schwester: "Schattenfroh" von Michael Lentz. In Absicht und Mitteln ähnlichere Bücher bei gleichzeitig höchster Exzentrik sind kaum denkbar.
Grausamkeiten stehen hier neben größter Zartheit
"Solenoid" ist ein geradezu grausam körperliches Buch in der wiederholten Beschwörung von Gänsehaut und Haarsträuben, aber auch von Sexszenen, in denen sich eine eher altmännerhafte Erotik zeigt, der das weibliche Fleisch gar nicht genug prangen und klaffen kann. Dann aber wieder kommen Sequenzen größter Zartheit in einer Beschreibungsgenauigkeit, die das Bukarest der jungen Jahre von Cartarescu wie unter dem Brennglas zeigen. Und doch auch die Gegenwart porträtieren: "Sehen Sie sich nur diesen Boulevard an!", rief der Autor im Gespräch aus. "Hier ist kaum etwas renoviert. Wo gibt es das sonst noch in Europa?" Aber darin sieht er keinen Nachteil. Federleicht ist deshalb auch sein Stadtporträt, obwohl die Zeit des Sozialismus bleischwer auf den Menschen im Buch lastet, aber im Privaten findet sich Erlösung von diesem Gewicht. Und am Schluss sind es die so tief im Untergrund versenkten Solenoide, die als magisch-technische Hilfsmittel den Blick nach oben richten lassen. Nicht nur das Ewigweibliche (aber das ganz besonders) zieht hier hinan. Das Fliegen - ein vertrautes Traummotiv - ist von Beginn ebenso präsentes Handlungselement wie die Schmerzen ärztlicher Behandlungen, die dem Erzähler durch eine Vielzahl an Zahnarztstühlen immer wieder in Erinnerung gerufen werden.
Cartarescu hat wie Lovecraft ein fixes verbales Repertoire für Grenzerfahrungen, aber umso mehr Worte für die Heraufbeschwörung seiner Heimatstadt und der Liebe. Der Roman geht bis zum Jahr 1984, natürlich kein Zufall: einmal das literarisch-mythische Orwell-Jahr, aber dann auch noch ein Zeitpunkt vor dem Zusammenbruch der Ceausescu-Herrschaft über Rumänien. Es ist trotzdem kein primär politisches Buch; die Securitate spielt mit, aber nur eine Nebenrolle, die große Politik gar keine, während in vielen kleinen Szenen der Wahnsinn des damaligen Gesellschaftssystems porträtiert wird, am schönsten in einer kleinen Binnenerzählung über die Wertstoffsammelpflichten rumänischer Schüler, die zu einem grotesken gegenseitigen Diebstahl von Recyclingmaterial unter deren Schulen führt. Gemeinsam mit einer gleichsam wie ein poliertes Juwel in die Riesenfassung dieses Romans eingelassenen Vignette über einen Konflikt im Lehrerzimmer an der Schule des Ich-Erzählers sind das literarische Preziosen, die Cartarescu als einen der virtuosesten Erzähler unserer Zeit ausweisen.
Und doch gibt es Passagen - und die können bisweilen sehr lang ausfallen -, in denen "Solenoid" Mühe macht, und zwar nicht die süße der literarischen Herausforderung des Lesers, sondern die ermüdende angesichts einer Überambition des Verfassers. Cartarescu selbst fasst den Unterschied zu "Orbiter" so: "Die Trilogie war ästhetisch motiviert, ,Solenoid' ist ethisch grundiert."
Behandelt werde die Entscheidung zwischen Einsamkeit und Solidarität, natürlich ein beherrschendes gesellschaftliches Thema im nachrevolutionär notorisch unruhigen Rumänien, das just zur Zeit der Niederschrift des Romans vehemente innenpolitische Auseinandersetzungen erlebte, in denen sich Cartarescu auf die Seite der demokratischen Opposition schlug. Sein Alter Ego, der anfangs so misanthropisch wirkende Erzähler, erblüht im Verlauf der stets wachsenden Verzauberung des technisch-futurologisch unterwanderten Bukarests selbst zum Liebenden, der in der Geburt seiner Tochter ein Hoffnungsprinzip für die ganze Welt verkörpert sieht.
"Das Schöne wird die Welt retten", hat Cartarescu Dostojewski zitiert, und genau das geschieht in "Solenoid", was den Leser weniger überrascht sein lässt, als es der Romanautor letztes Jahr in Bukarest selbst vorgab zu sein. Aber ein Hohelied auf die Liebe und das Leben ist "Solenoid" doch geworden.
ANDREAS PLATTHAUS
Mircea Cartarescu: "Solenoid". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 905 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein zwölfseitiger Hilfeschrei als Ausdruck der menschlichen Agonie? Mircea Cartarescu kann sich das leisten, denn in seinem überbordenden Roman "Solenoid" hat er den Raum dazu. Und die außerdem nötige Poesie.
Zur Begriffsklärung des Titels vorweg dies: Ein Solenoid bezeichnet eine zylinderförmig möglichst eng gewickelte Drahtspule, mit der ein Magnetfeld erzeugt werden kann. So weit die technische Praxis. In der literarischen Fiktion von Mircea Cartarescus neuem Roman "Solenoid" sind sechs solcher Spulen ins Riesenhafte vergrößert unter dem Stadtkern von Bukarest angebracht: eine in der Mitte und fünf schwächere, aber immer noch sehr wirkungsmächtige kreisförmig darum herum, eine davon unter dem Haus des namenlosen Ich-Erzählers.
Wenn er sich über architektonisch verschachtelte Wege abwärts bewegt, klingt das wechselweise wie Lovecraft in der Beschwörung namenlosen Grauens und wie Borges in der dann wieder akribisch-präzisen Kälte einer Prosa wie dieser hier: "Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, war die Welt verschwunden. Nicht nur konnte ich nichts mehr sehen, das Sehen selbst war verschwunden. Ich erinnerte mich nicht mehr, was es hieß, sehen zu können. Ich schloss und öffnete die Augen, ohne eine Änderung zu spüren. Auch die anderen Sinne mit den dazugehörigen Lichtern waren verschwunden, bis auf den Druck meiner Sohlen auf dem Gitter. Äußerst verschreckt versuchte ich, die Tür wieder zu öffnen. Aber es gab keine Tür mehr. Es gab auch die Wände um mich herum nicht mehr. Meine Hände ragten ins Leere, ins Nichts, und meine Fingerspitzen wollten sich wie Insektenfühler an die Wirklichkeit klammern. Oder wie ganz geringfügige elektrische Entladungen die Wirklichkeit generieren. Aber sie kehrten reglos und ohne eine Nachricht aus Tod und Ödnis zurück. Ich war allein, hing wie eine Statue auf meinem Gitterabsatz in der Unendlichkeit der Nacht."
Ohne Einfluss des Phantastischen geht es bei Cartarescu nicht
Dieses lange Zitat ist nur ein winziger Ausschnitt aus einer mehrere Seiten umfassenden Beschreibung des Wegs hinab zum Solenoid. Cartarescu nimmt sich generell viel Zeit, schafft opulente Bilder und Visionen. Sein Roman bietet dafür neunhundert Seiten Raum, und wer mit Phantastik nichts anfangen kann, der spare sich die Lektüre. Aber er verpasst dann auch ein Bravourstück zeitgenössischer Literatur, die ihre Wurzeln in der Tradition hat. Nicht umsonst ist eine Passage aus Kafkas Tagebüchern emotionales Leitmotiv des Ich-Erzählers, das Ideal, das er als Schriftsteller immer vor Augen gehabt hätte, wenn nicht seine erste Talentprobe, eine epische Gedichtrezitation im Oktober 1977 vor einem privaten Literaturkreis, ein Debakel gewesen wäre, worauf der harsch abgeurteilte Dichter lieber in den Schuldienst ging. Die Lebenslinie des Erzählers (Geburtsjahr, Herkunft, Berufsweg) deckt sich weitgehend mit der des Autors Cartarescu, nur dass dieser Erfolg mit seinen frühen Gedichten hatte. Man darf sich wohl den echten Cartarescu als den erfolgreichen Schriftsteller in einem Paralleluniversum vorstellen, den der Ich-Erzähler immer wieder heraufbeschwört.
Er tut das ohne Sehnsucht, denn noch schreibt er selbst auch weiter, allerdings ohne jede literarische Wirkungsabsicht: ein ausuferndes Tagebuch, in das auch Kindheitsreminiszenzen oder alte Traumnotate eingehen und als das man den Roman ansehen muss, den man gerade liest. Damit bedient Cartarescu eine romantische Erzähltradition, und "Solenoid" ist denn auch ein Nachtstück geworden, noch dunkler als seine 2007 im rumänischen Original abgeschlossene "Orbitor"-Romantrilogie, die ihren Autor international berühmt und zum Daueranwärter auf den Literaturnobelpreis gemacht hat. Tonfall und Genremischungen indes sind dieselben geblieben, was alte Cartarescu-Leser begeistern, ihm aber wohl keine neuen zutreiben wird.
Cartarescu selbst bezeichnet "Solenoid" und "Orbitor" als die entscheidenden Werke für sein ganzes Schreiben. Auf die Trilogie liefen seine ersten dreißig Jahre als Schriftsteller hinaus; nach deren Abschluss konnte er dann vier Jahre lang nichts Neues mehr zu Papier bringen - "als hätte ich keine Worte mehr", sagte er letztes Jahr bei einem Gespräch in Bukarest. Dann aber kam ein vierjähriger Schreibfluss, und am Ende stand mit "Solenoid" einer der erfolgreichsten rumänischen Romane der letzten Jahre mit zwanzigtausend verkauften Exemplaren und Übersetzungen in bislang zehn Sprachen.
Obwohl die deutsche Übersetzung von Ernest Wichner ihrerseits vier Jahre brauchte, darf man das angesichts des Formen- und Farbenreichtums dieser Prosa schnell nennen, denn in "Solenoid" hat Cartarescu noch viel mehr hineingepackt als in die Vorgängerbücher, und nur selten gibt es einen Erholungspunkt wie die zwölfseitige permanente Wiederholung des Wortes "ajutor!" (Hilfe!) - ein Notschrei, den ein vielstimmiger Chor in einer der Phantasmagorien anstimmt. Erholung indes nur für den Übersetzer, nicht für den Leser, den dieses "Lied unserer verängstigten Agonie" in denselben Zustand versetzt wie den Ich-Erzähler, dem dieser Ausbruch der Mühseligen und Beladenen Schauer durch den Körper jagt. In der deutschen Literatur gibt es dazu seit letztem Jahr eine Schwester: "Schattenfroh" von Michael Lentz. In Absicht und Mitteln ähnlichere Bücher bei gleichzeitig höchster Exzentrik sind kaum denkbar.
Grausamkeiten stehen hier neben größter Zartheit
"Solenoid" ist ein geradezu grausam körperliches Buch in der wiederholten Beschwörung von Gänsehaut und Haarsträuben, aber auch von Sexszenen, in denen sich eine eher altmännerhafte Erotik zeigt, der das weibliche Fleisch gar nicht genug prangen und klaffen kann. Dann aber wieder kommen Sequenzen größter Zartheit in einer Beschreibungsgenauigkeit, die das Bukarest der jungen Jahre von Cartarescu wie unter dem Brennglas zeigen. Und doch auch die Gegenwart porträtieren: "Sehen Sie sich nur diesen Boulevard an!", rief der Autor im Gespräch aus. "Hier ist kaum etwas renoviert. Wo gibt es das sonst noch in Europa?" Aber darin sieht er keinen Nachteil. Federleicht ist deshalb auch sein Stadtporträt, obwohl die Zeit des Sozialismus bleischwer auf den Menschen im Buch lastet, aber im Privaten findet sich Erlösung von diesem Gewicht. Und am Schluss sind es die so tief im Untergrund versenkten Solenoide, die als magisch-technische Hilfsmittel den Blick nach oben richten lassen. Nicht nur das Ewigweibliche (aber das ganz besonders) zieht hier hinan. Das Fliegen - ein vertrautes Traummotiv - ist von Beginn ebenso präsentes Handlungselement wie die Schmerzen ärztlicher Behandlungen, die dem Erzähler durch eine Vielzahl an Zahnarztstühlen immer wieder in Erinnerung gerufen werden.
Cartarescu hat wie Lovecraft ein fixes verbales Repertoire für Grenzerfahrungen, aber umso mehr Worte für die Heraufbeschwörung seiner Heimatstadt und der Liebe. Der Roman geht bis zum Jahr 1984, natürlich kein Zufall: einmal das literarisch-mythische Orwell-Jahr, aber dann auch noch ein Zeitpunkt vor dem Zusammenbruch der Ceausescu-Herrschaft über Rumänien. Es ist trotzdem kein primär politisches Buch; die Securitate spielt mit, aber nur eine Nebenrolle, die große Politik gar keine, während in vielen kleinen Szenen der Wahnsinn des damaligen Gesellschaftssystems porträtiert wird, am schönsten in einer kleinen Binnenerzählung über die Wertstoffsammelpflichten rumänischer Schüler, die zu einem grotesken gegenseitigen Diebstahl von Recyclingmaterial unter deren Schulen führt. Gemeinsam mit einer gleichsam wie ein poliertes Juwel in die Riesenfassung dieses Romans eingelassenen Vignette über einen Konflikt im Lehrerzimmer an der Schule des Ich-Erzählers sind das literarische Preziosen, die Cartarescu als einen der virtuosesten Erzähler unserer Zeit ausweisen.
Und doch gibt es Passagen - und die können bisweilen sehr lang ausfallen -, in denen "Solenoid" Mühe macht, und zwar nicht die süße der literarischen Herausforderung des Lesers, sondern die ermüdende angesichts einer Überambition des Verfassers. Cartarescu selbst fasst den Unterschied zu "Orbiter" so: "Die Trilogie war ästhetisch motiviert, ,Solenoid' ist ethisch grundiert."
Behandelt werde die Entscheidung zwischen Einsamkeit und Solidarität, natürlich ein beherrschendes gesellschaftliches Thema im nachrevolutionär notorisch unruhigen Rumänien, das just zur Zeit der Niederschrift des Romans vehemente innenpolitische Auseinandersetzungen erlebte, in denen sich Cartarescu auf die Seite der demokratischen Opposition schlug. Sein Alter Ego, der anfangs so misanthropisch wirkende Erzähler, erblüht im Verlauf der stets wachsenden Verzauberung des technisch-futurologisch unterwanderten Bukarests selbst zum Liebenden, der in der Geburt seiner Tochter ein Hoffnungsprinzip für die ganze Welt verkörpert sieht.
"Das Schöne wird die Welt retten", hat Cartarescu Dostojewski zitiert, und genau das geschieht in "Solenoid", was den Leser weniger überrascht sein lässt, als es der Romanautor letztes Jahr in Bukarest selbst vorgab zu sein. Aber ein Hohelied auf die Liebe und das Leben ist "Solenoid" doch geworden.
ANDREAS PLATTHAUS
Mircea Cartarescu: "Solenoid". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 905 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2019Stechfliege
und Magnet
Wenn die Sprachmagie Ungeheuer gebiert:
Mircea Cărtărescus Roman „Solenoid“
VON LOTHAR MÜLLER
Es braucht nicht viel, um aus der Welt herauszufallen. Eine kleine Verrückung im Alltag reicht aus, um Schrecksekunden, Momente des Selbstverlustes, ein plötzliches Irrewerden an der gewohnten Welt hervorzubringen. Harmlos sieht das Kaninchenloch aus, durch das Alice ins Wunderland stürzt. Ein Déjà-vu mag nur kurz aufleuchten, und schon geht das Leben weiter, aber was, wenn der Spalt sich nicht mehr schließt? Die moderne Literatur lässt diese Frage nicht los, sie hat, weil man halt unter irgendeiner Flagge fahren muss, die Fahne des „Fantastischen“ gehisst und immer neue Expeditionen in die Regionen unternommen, die der Titel von Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ bezeichnet.
Irgendein Schrank ist auf der Rückseite offen, und schon kann die Reise los gehen. Die Literatur besitzt ein ganzes Set von Schlüsseln, mit denen sich die „doors of perception“ aufschließen lassen, seit sie im 19. Jahrhundert die Opiumesser in ihre Reihen aufnahm, rivalisiert sie mit den Drogenhändlern. Der bedeutendste Repräsentant des Erzählens von der „anderen Seite“ ist in der europäischen Gegenwartsliteratur der rumänische Autor Mircea Cărtărescu. Er ist 1956 in Bukarest geboren und hierzulande vor allem durch seine große „Orbitor“-Trilogie bekannt geworden, die im Original 2007 beendet war.
Es ist entscheidend für jede Literatur, die auszieht, die „andere Seite“ zu erkunden, wie viel von der Welt sie mitnimmt, die sie hinter sich lässt. Cărtărescu, der seine Kindheit im realen rumänischen Sozialismus der frühen Sechzigerjahre verbracht hat, zeitweilig als Lehrer gearbeitet hat und die Herrschaft Nicolae Ceaușescus als Heranwachsender und junger Mann durchlebt hat, nimmt bei seinen Expeditionen manchen biografischen Stoff mit an Bord und das unverkennbare Aroma des alltäglichen Lebens, seine Gerüche, die Rituale, den Geschmack der Kantinenkost und der Süßigkeiten, das Gellen der Straßenbahnen in maroden Gleisen.
In der „Orbitor“-Trilogie war Bukarest, eine der Hauptfiguren. Cărtărescu musste die Stadt nicht neu erfinden, um sie auf die andere Seite gelangen zu lassen. Er konnte ihren Verfall und ihre dämonische Neuerfindung aus der Realgeschichte heraus entwickeln, in Epitaphen auf die zerstörten Altstadtviertel, in fiebrigen Porträts der monumental-monströsen Palastarchitektur, die zu Ehren der sozialistischen Herrschaft an ihre Stelle trat. Bukarest war aus der Welt gefallen und in der Prosa Cărtărescus wiederauferstanden.
Jetzt ist, nach einem Erzählungsband, ein neues Riesenwerk auf Deutsch erschienen, der Roman „Solenoid“. Niemand, der ihn liest, wird den Ich-Erzähler, der hier zwischen den Bukarester Peripherie und der „anderen Seite“ seiner Existenz pendelt, je wieder vergessen. Er ist 1956 geboren wie sein Autor und arbeitet als Rumänischlehrer in der Schule Nr. 86., in den Achtzigerjahren, als das Ende der Herrschaft Ceaușescus noch nicht zu ahnen ist, aber näher rückt. Der Ort, an dem sich die Türen zur anderen Welt öffnen, ist das Manuskript, an dem er schreibt, um seine eigenen „Anomalien“ festzuhalten und zu erforschen, die Dämonen und Obsessionen seiner Innenwelt, die den gesamten Alltag, in dem er lebt, erfasst und verwandelt.
Dieses Manuskript ist eine Polemik gegen alle Romane, zu aller Literatur, es ist seine Rache an der Literatur. Als junger Mann hat der Lehrer im Oktober 1977 – ein Epochendatum seiner Biografie – beim Mond-Literaturkreis mit seinem Gedicht „Der Niedergang“ Hohn und Spott geerntet und daraufhin aller Autorschaft entsagt. Das Manuskript, in das er Auszüge aus älteren Passagen seines Tagebuches einmontiert, soll nie Eingang in den Literaturbetrieb finden, es ist dazu bestimmt, Asche zu werden. Es ist das Dokument eines Ich, das in der Zeit voranschreitet, aber keinem Plot verpflichtet ist, sondern allein der Berichterstattung über die Abgründe, die sich in seinem Alltag öffnen.
„Kein Buch hat irgendeinen Sinn, wenn es kein Evangelium ist.“ Dieses Evangelium handelt von den Höllenfahrten des nach außen unscheinbaren Lehrers an Schule Nr. 86. In seinem Gehirn haben sich die „Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont eingenistet, wie die Surrealisten ist er mit der magischen Seite der Dinge im Bunde, in einer Tic-Tac-Schachtel bewahrt er alle seine Milchzähne auf und die Zöpfe, die ihm die Mutter flocht, als sie den Dreijährigen wie ein Mädchen erzog.
Eine seiner Kindheitserinnerungen ist die an das Spielen mit kleinen Magneten: „Das Wunder, ja sogar so etwas wie eine kleine Panik begann in dem Moment, da ich die Magneten umdrehte und sie in eine andere Stellung brachte, plötzlich tauchte zwischen ihnen ein kleines, unsichtbares elastisches Kissen auf, und so sehr man auch versucht hätte, sie einander anzunähern, sie glitten bestenfalls aneinander vorbei, als wäre dieses Kissen ein durchscheinender, im Schmelzen begriffener Eisblock gewesen.“
Von hier führt ein Strang zum Titel. Ein „Solenoid“ ist eine unterirdische metallene Spule, die in der Lage ist, je nach Stromzuführung schwächere oder stärkere Magnetfelder zu erzeugen. Insgesamt sechs solcher Solenoide sind über Bukarest verstreut, einer befindet sich unter dem Haus des Lehrers, ein anderer unter der Schule Nr. 86, in der er unterrichtet. In den Solenoiden steckt, wie sich beim ekstatischen Sex zeigt, den der Lehrer mit seiner Kollegin Irina erfährt, die Kräfte der Levitation, aber auch, wie sich zeigen wird, die Energien der Zerstörung.
Die Botschaft der Magneten aus der Kindheit ist, dass die unsichtbaren Energien nicht „jenseits“ des Alltäglichen angesiedelt sind, sondern in diesem selbst. Diese Einsicht teilt die Literatur der „anderen Seite“ mit der modernen Wissenschaft. Sie spielt denn auch eine Schlüsselrolle in diesem Roman, wird hineingezogen in den Prozess der sprachmagischen Verwandlung der Alltagswelt eines Lehrer im sozialistischen Rumänien in eine Höllenfahrt der Schrecken und des Schmerzes.
Zu den prägenden Lektüren des Lehrers an Schule Nr. 86 gehört neben den Tagebüchern von Kafka, den Schriften von Borges und Rilkes „Malte Laurids Brigge“ein Traktat zur Parasitologie. Parasiten nisten sich in organische Existenzen ein, und so macht es auch die Prosa Cărtărescus. Sie ist ganz dem Organischen verpflichtet, die gesamte Dingwelt überzieht sie mit den Zeichen des Schimmels, auch Häuser können in ihr verfaulen. Der Lehrer scheut die fernen Sterne und ihre Gesetze, er ist den Insekten nahe, den alten Bundesgenossen der Literatur beim Erzeugen des Unheimlichen, und in einem in der Bibliothek ausgeheckten bizarren Experiment wird er am Ende selbst zu einer Milbe werden.
Es sind Kippbilder, die Cărtărescu in der großen sprachmagischen Bewegung dieses Romans erzeugt. Es gab die historischen Grenzgänger der Wissenschaft, deren Porträts er in das Manuskript des Lehrers einzeichnet, Mina Minovici, den Begründer der Rechtsmedizin in Rumänien und Pionier der „Thanatologie“ und des Studiums der Leichenfäulnis, es gab seinen Bruder, Nicolae Minovici, der in riskanten Experimenten am eigenen Körper erforschte, was beim Erhängen geschieht, und es gab in Paris um 1900 den rumänischen Traumforscher Nicolae Vaschide.
Aber sie führen hier eine zweite Existenz kraft des Erzählers, der sich in ihr Leben und ihre Experimente eingenistet hat. Nicht anders ergeht es den Institutionen. Das Leichenschauhaus, das den Namen von Mina Minovici trägt, ist zugleich die Morgue Baudelaires. Die Schule Nr.86 hat ihre Securitate-Spitzel, von denen jeder weiß, dass sie es sind, das Kollegium und sein Fächerkanon atmen den Geist der sozialistischen Disziplin, es wird der Atheismus gepredigt und haltlos gezüchtigt. Und sie ist das Kaninchenloch, in dem das ganze Kollegium auf Höllenfahrt geht.
Die Grundbewegung im Manuskript des Lehrers ist, wie in Albträumen, die Fluchtbewegung. Er verkörpert eine radikale negative Welterfahrung, seine Existenz erscheint ihm als Gefängnis. Eine der Quellen dieser Weltsicht erkundet der Roman wie eine antediluvianische Höhle: eine Präventionsklinik mitten im Wald, in die der Lehrer in seiner Kindheit als potenzielles Tuberkulose-Opfer verbracht wurde. An allem, was körpernah und körperinwendig ist, von Impfnadeln und Injektionen über Körperstrafen bis zu Zahnarztstühlen, blüht die Sprachkunst Cărtărescus auf.
Der Roman „Die Stechfliege“ von Ethel Lilian Voynich ist die Madeleine des Lehrers, auf diese erste Lektüre, bei der er Tränen vergoss, kommt die Erinnerung immer wieder zurück. Wie sie den Lehrer infiziert und in die Welt des rätselhaften Voynich-Manuskripts hineinzieht, soll hier nicht verraten werden. Unbedingt aber muss festgehalten werden, dass das Deutsch des Autors und Übersetzers Ernest Wichner, in dem wir diesen großen, aus der Weltverneinung geborenen Roman nun lesen können, in sich selbst ein literarisches Ereignis ist. Es übersetzt, wo es nottut, die an Piranesi inspirierten Gefängniswelten Cărtărescus in Satzperioden, zu denen es nur beim deutschen Proust eine Entsprechung gibt.
Mircea Cărtărescu: Solenoid. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 906 Seiten, 36 Euro.
Die Grundbewegung in
diesem Roman ist, wie so
oft in Albträumen, die Flucht
Mircea Cărtărescu
Foto: imago/Agencia EFE
Zur „Die Hölle“ von Hieronymus Bosch (hier ein Detail) fügt Cărtărescus Erzähler die Laus hinzu.
Foto: mauritius images
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und Magnet
Wenn die Sprachmagie Ungeheuer gebiert:
Mircea Cărtărescus Roman „Solenoid“
VON LOTHAR MÜLLER
Es braucht nicht viel, um aus der Welt herauszufallen. Eine kleine Verrückung im Alltag reicht aus, um Schrecksekunden, Momente des Selbstverlustes, ein plötzliches Irrewerden an der gewohnten Welt hervorzubringen. Harmlos sieht das Kaninchenloch aus, durch das Alice ins Wunderland stürzt. Ein Déjà-vu mag nur kurz aufleuchten, und schon geht das Leben weiter, aber was, wenn der Spalt sich nicht mehr schließt? Die moderne Literatur lässt diese Frage nicht los, sie hat, weil man halt unter irgendeiner Flagge fahren muss, die Fahne des „Fantastischen“ gehisst und immer neue Expeditionen in die Regionen unternommen, die der Titel von Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ bezeichnet.
Irgendein Schrank ist auf der Rückseite offen, und schon kann die Reise los gehen. Die Literatur besitzt ein ganzes Set von Schlüsseln, mit denen sich die „doors of perception“ aufschließen lassen, seit sie im 19. Jahrhundert die Opiumesser in ihre Reihen aufnahm, rivalisiert sie mit den Drogenhändlern. Der bedeutendste Repräsentant des Erzählens von der „anderen Seite“ ist in der europäischen Gegenwartsliteratur der rumänische Autor Mircea Cărtărescu. Er ist 1956 in Bukarest geboren und hierzulande vor allem durch seine große „Orbitor“-Trilogie bekannt geworden, die im Original 2007 beendet war.
Es ist entscheidend für jede Literatur, die auszieht, die „andere Seite“ zu erkunden, wie viel von der Welt sie mitnimmt, die sie hinter sich lässt. Cărtărescu, der seine Kindheit im realen rumänischen Sozialismus der frühen Sechzigerjahre verbracht hat, zeitweilig als Lehrer gearbeitet hat und die Herrschaft Nicolae Ceaușescus als Heranwachsender und junger Mann durchlebt hat, nimmt bei seinen Expeditionen manchen biografischen Stoff mit an Bord und das unverkennbare Aroma des alltäglichen Lebens, seine Gerüche, die Rituale, den Geschmack der Kantinenkost und der Süßigkeiten, das Gellen der Straßenbahnen in maroden Gleisen.
In der „Orbitor“-Trilogie war Bukarest, eine der Hauptfiguren. Cărtărescu musste die Stadt nicht neu erfinden, um sie auf die andere Seite gelangen zu lassen. Er konnte ihren Verfall und ihre dämonische Neuerfindung aus der Realgeschichte heraus entwickeln, in Epitaphen auf die zerstörten Altstadtviertel, in fiebrigen Porträts der monumental-monströsen Palastarchitektur, die zu Ehren der sozialistischen Herrschaft an ihre Stelle trat. Bukarest war aus der Welt gefallen und in der Prosa Cărtărescus wiederauferstanden.
Jetzt ist, nach einem Erzählungsband, ein neues Riesenwerk auf Deutsch erschienen, der Roman „Solenoid“. Niemand, der ihn liest, wird den Ich-Erzähler, der hier zwischen den Bukarester Peripherie und der „anderen Seite“ seiner Existenz pendelt, je wieder vergessen. Er ist 1956 geboren wie sein Autor und arbeitet als Rumänischlehrer in der Schule Nr. 86., in den Achtzigerjahren, als das Ende der Herrschaft Ceaușescus noch nicht zu ahnen ist, aber näher rückt. Der Ort, an dem sich die Türen zur anderen Welt öffnen, ist das Manuskript, an dem er schreibt, um seine eigenen „Anomalien“ festzuhalten und zu erforschen, die Dämonen und Obsessionen seiner Innenwelt, die den gesamten Alltag, in dem er lebt, erfasst und verwandelt.
Dieses Manuskript ist eine Polemik gegen alle Romane, zu aller Literatur, es ist seine Rache an der Literatur. Als junger Mann hat der Lehrer im Oktober 1977 – ein Epochendatum seiner Biografie – beim Mond-Literaturkreis mit seinem Gedicht „Der Niedergang“ Hohn und Spott geerntet und daraufhin aller Autorschaft entsagt. Das Manuskript, in das er Auszüge aus älteren Passagen seines Tagebuches einmontiert, soll nie Eingang in den Literaturbetrieb finden, es ist dazu bestimmt, Asche zu werden. Es ist das Dokument eines Ich, das in der Zeit voranschreitet, aber keinem Plot verpflichtet ist, sondern allein der Berichterstattung über die Abgründe, die sich in seinem Alltag öffnen.
„Kein Buch hat irgendeinen Sinn, wenn es kein Evangelium ist.“ Dieses Evangelium handelt von den Höllenfahrten des nach außen unscheinbaren Lehrers an Schule Nr. 86. In seinem Gehirn haben sich die „Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont eingenistet, wie die Surrealisten ist er mit der magischen Seite der Dinge im Bunde, in einer Tic-Tac-Schachtel bewahrt er alle seine Milchzähne auf und die Zöpfe, die ihm die Mutter flocht, als sie den Dreijährigen wie ein Mädchen erzog.
Eine seiner Kindheitserinnerungen ist die an das Spielen mit kleinen Magneten: „Das Wunder, ja sogar so etwas wie eine kleine Panik begann in dem Moment, da ich die Magneten umdrehte und sie in eine andere Stellung brachte, plötzlich tauchte zwischen ihnen ein kleines, unsichtbares elastisches Kissen auf, und so sehr man auch versucht hätte, sie einander anzunähern, sie glitten bestenfalls aneinander vorbei, als wäre dieses Kissen ein durchscheinender, im Schmelzen begriffener Eisblock gewesen.“
Von hier führt ein Strang zum Titel. Ein „Solenoid“ ist eine unterirdische metallene Spule, die in der Lage ist, je nach Stromzuführung schwächere oder stärkere Magnetfelder zu erzeugen. Insgesamt sechs solcher Solenoide sind über Bukarest verstreut, einer befindet sich unter dem Haus des Lehrers, ein anderer unter der Schule Nr. 86, in der er unterrichtet. In den Solenoiden steckt, wie sich beim ekstatischen Sex zeigt, den der Lehrer mit seiner Kollegin Irina erfährt, die Kräfte der Levitation, aber auch, wie sich zeigen wird, die Energien der Zerstörung.
Die Botschaft der Magneten aus der Kindheit ist, dass die unsichtbaren Energien nicht „jenseits“ des Alltäglichen angesiedelt sind, sondern in diesem selbst. Diese Einsicht teilt die Literatur der „anderen Seite“ mit der modernen Wissenschaft. Sie spielt denn auch eine Schlüsselrolle in diesem Roman, wird hineingezogen in den Prozess der sprachmagischen Verwandlung der Alltagswelt eines Lehrer im sozialistischen Rumänien in eine Höllenfahrt der Schrecken und des Schmerzes.
Zu den prägenden Lektüren des Lehrers an Schule Nr. 86 gehört neben den Tagebüchern von Kafka, den Schriften von Borges und Rilkes „Malte Laurids Brigge“ein Traktat zur Parasitologie. Parasiten nisten sich in organische Existenzen ein, und so macht es auch die Prosa Cărtărescus. Sie ist ganz dem Organischen verpflichtet, die gesamte Dingwelt überzieht sie mit den Zeichen des Schimmels, auch Häuser können in ihr verfaulen. Der Lehrer scheut die fernen Sterne und ihre Gesetze, er ist den Insekten nahe, den alten Bundesgenossen der Literatur beim Erzeugen des Unheimlichen, und in einem in der Bibliothek ausgeheckten bizarren Experiment wird er am Ende selbst zu einer Milbe werden.
Es sind Kippbilder, die Cărtărescu in der großen sprachmagischen Bewegung dieses Romans erzeugt. Es gab die historischen Grenzgänger der Wissenschaft, deren Porträts er in das Manuskript des Lehrers einzeichnet, Mina Minovici, den Begründer der Rechtsmedizin in Rumänien und Pionier der „Thanatologie“ und des Studiums der Leichenfäulnis, es gab seinen Bruder, Nicolae Minovici, der in riskanten Experimenten am eigenen Körper erforschte, was beim Erhängen geschieht, und es gab in Paris um 1900 den rumänischen Traumforscher Nicolae Vaschide.
Aber sie führen hier eine zweite Existenz kraft des Erzählers, der sich in ihr Leben und ihre Experimente eingenistet hat. Nicht anders ergeht es den Institutionen. Das Leichenschauhaus, das den Namen von Mina Minovici trägt, ist zugleich die Morgue Baudelaires. Die Schule Nr.86 hat ihre Securitate-Spitzel, von denen jeder weiß, dass sie es sind, das Kollegium und sein Fächerkanon atmen den Geist der sozialistischen Disziplin, es wird der Atheismus gepredigt und haltlos gezüchtigt. Und sie ist das Kaninchenloch, in dem das ganze Kollegium auf Höllenfahrt geht.
Die Grundbewegung im Manuskript des Lehrers ist, wie in Albträumen, die Fluchtbewegung. Er verkörpert eine radikale negative Welterfahrung, seine Existenz erscheint ihm als Gefängnis. Eine der Quellen dieser Weltsicht erkundet der Roman wie eine antediluvianische Höhle: eine Präventionsklinik mitten im Wald, in die der Lehrer in seiner Kindheit als potenzielles Tuberkulose-Opfer verbracht wurde. An allem, was körpernah und körperinwendig ist, von Impfnadeln und Injektionen über Körperstrafen bis zu Zahnarztstühlen, blüht die Sprachkunst Cărtărescus auf.
Der Roman „Die Stechfliege“ von Ethel Lilian Voynich ist die Madeleine des Lehrers, auf diese erste Lektüre, bei der er Tränen vergoss, kommt die Erinnerung immer wieder zurück. Wie sie den Lehrer infiziert und in die Welt des rätselhaften Voynich-Manuskripts hineinzieht, soll hier nicht verraten werden. Unbedingt aber muss festgehalten werden, dass das Deutsch des Autors und Übersetzers Ernest Wichner, in dem wir diesen großen, aus der Weltverneinung geborenen Roman nun lesen können, in sich selbst ein literarisches Ereignis ist. Es übersetzt, wo es nottut, die an Piranesi inspirierten Gefängniswelten Cărtărescus in Satzperioden, zu denen es nur beim deutschen Proust eine Entsprechung gibt.
Mircea Cărtărescu: Solenoid. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 906 Seiten, 36 Euro.
Die Grundbewegung in
diesem Roman ist, wie so
oft in Albträumen, die Flucht
Mircea Cărtărescu
Foto: imago/Agencia EFE
Zur „Die Hölle“ von Hieronymus Bosch (hier ein Detail) fügt Cărtărescus Erzähler die Laus hinzu.
Foto: mauritius images
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"Hier geht einer aufs Ganze." Burkhard Müller, Die Zeit, 18.12.19
"Eine riesige Wundertüte des Erzählens, in der sich skurriler Lehreralltag, Kindheitsängste, Geheimwissenschaft und Apokalypse auf phantastische Weise mischen." Wolfgang Schneider, SWR2 lesenswert, 08.12.19
"Unbedingt aber muss festgehalten werden, dass das Deutsch des Autors und Übersetzers Ernest Wichner, in dem wir diesen großen, aus der Weltverneinung geborenen Roman nun lesen können, in sich selbst ein literarisches Ereignis ist. Es übersetzt, wo es nottut, die an Piranesi inspirierten Gefängniswelten Cartarescus in Satzperioden, zu denen es nur beim deutschen Proust eine Entsprechung gibt." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 07.12.19
"'Solenoid' ist der Hyperroman dieses Bücherherbsts." Ronald Pohl, Der Standard, 16.11.19
"Mircea Cartarescu erschafft mit 'Solenoid' einen kybernetischen Sehnsuchtsroman, der sich im Verlauf von 51 Kapiteln zum Horror-Roman wandelt. Dabei blitzt immer wieder die für ihn typische, farbenprächtige und plastische Komik auf - ein Triumph der Phantasie." Katrin Hillgruber, Deutschlandfunk, 27.10.19
"Ein Wunderwerk der Erzählkunst, ein metaphysisches Weltgebäude, errichtet in der schäbigen Peripherie von Bukarest, gezimmert aus Albträumen, Phantasie und Philosophie, aber auch aus dem realen Grau und dem Grauen des dort praktizierten Kommunismus." Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 21.10.2019
"Wieder legt Mircea Cartarescu ein überwältigendes Zeugnis seiner schöpferischen Phantasie ab." Katrin Hillgruber, Frankfurter Rundschau, 12.10.19
"Cartarescu hat sich selbst übertroffen. Davon kann sich die deutschsprachige Leserschaft dank der kolossalen Übersetzerleistung Ernest Wichners überzeugen. Zwar sind es diesmal "nur" 900 Seiten, diese dafür aber umso dichter, schwindelerregender, anspruchsvoller in Sprachkraft und verschlungener Motivik - ein gewaltiger Brocken Literatur." Thomas Leitner, Falter, 11.10.19
"'Solenoid' ist ein erstaunlich leicht lesbares Prosagewebe, dessen einzelne Kapitel nirgends nach dem Rotstift schreien. ... Die bizarre Bedrückungsarchitektur von 'Solenoid' beruht auf der Fähigkeit, das Geringste sprachlich virtuos ins Monströse wachsen zu lassen." Gregor Dotzauer, Tagesspiegel, 06.10.19
"Ein Roman wie in Trance, autobiografisch grundiert, zwischen Gewalt und Traum, Ekel und Poesie, Wahrnehmung und Illusion." Cornelia Zetzsche, NDR Kultur, 07.10.19
"Cartarescu hat einen Roman geschrieben, der selbst zum Solenoid wird, zu einer riesigen Phantasiemaschine von solcher Gravitationskraft, dass einem schwindlig werden kann." Mirko Schwanitz, BR Diwan, 06.10.19
"'Solenoid' - das sind mehr als 900 sprachmächtige Seiten überhitzter und manierierter Prosa voll exaltierter Metaphern, bizarrer Allegorien und apokalyptischer Bilder. Es entsteht ein flirrendes und glitzerndes Kaleidoskop von Bewusstseinssplittern, Phantasieblitzen, Kindheitserinnerungen,Halluzinationen, Träumen und Visionen, entsprungen im Kopf des Erzählers, seinem 'Einverleibungsapparat'." Sigrid Löffler, MDR Kultur, 24.09.19
"Auf verschiedenen Ebenen und in immer neuen Anläufen geht es in Solenoid um die Überwindung der Grenzen menschlicher Existenz, um die Erweiterung des Bewusstseins, um die Wahrnehmung einer höheren Dimension." Richard Kämmerlings, Die Welt, 21.09.19
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