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Die moralischen Intuitionen, die unser Denken und Handeln leiten und die von der philosophischen Ethik expliziert werden, sind unter Bezug auf vormoderne Gesellschaften entstanden. Das moralische Sollen ist besonders seit I. Kant direkt und unmittelbar an jeden Einzelnen gerichtet: Er soll moralisch handeln, indem er seine egoistischen Neigungen überwindet.Heute leben wir allerdings in modernen Gesellschaften mit völlig anderen Strukturen. Vor allem die Marktwirtschaft mit den Systemimperativen Wettbewerb und Gewinnstreben sowie die zunehmende Bedeutung globaler Gemeinschaftsgüter setzen das…mehr

Produktbeschreibung
Die moralischen Intuitionen, die unser Denken und Handeln leiten und die von der philosophischen Ethik expliziert werden, sind unter Bezug auf vormoderne Gesellschaften entstanden. Das moralische Sollen ist besonders seit I. Kant direkt und unmittelbar an jeden Einzelnen gerichtet: Er soll moralisch handeln, indem er seine egoistischen Neigungen überwindet.Heute leben wir allerdings in modernen Gesellschaften mit völlig anderen Strukturen. Vor allem die Marktwirtschaft mit den Systemimperativen Wettbewerb und Gewinnstreben sowie die zunehmende Bedeutung globaler Gemeinschaftsgüter setzen das moralische Handeln des Einzelnen der Gefahr aus, von weniger moralischen Akteuren ausgenutzt zu werden. Das Sprichwort bringt es auf den Punkt: Der Ehrliche ist der Dumme. Unter diesen Bedingungen ist moralisches Handeln im Alltag nur dann dauerhaft möglich, wenn es durch eine sanktionsbewehrte soziale Ordnung vor solch systematischer Ausbeutung geschützt wird, denn es gilt: Sollen setzt Können voraus. In diesem Buch wird der Grundriss einer Ethik entwickelt, die diesen Bedingungen systematisch Rechnung trägt. Das führt keineswegs zu einer "Umwertung aller Werte". Vielmehr wird an den Prinzipien der abendländisch-christlichen Ethik, also an der Freiheit und Würde des Einzelnen und der Solidarität aller Menschen, programmatisch festgehalten; die erforderlichen Verhaltensänderungen sind allein den veränderten Bedingungen geschuldet. Nur eine solche Ethik vermag den Menschen in der modernen Welt normative Orientierung zu geben, weil sie die Einzelnen vor moralistischen Überforderungen und der daraus häufig folgenden Resignation bewahrt.
Autorenporträt
Karl Homann wurde 1943 in Everswinkel/Westfalen geboren. Er studierte Philosophie, Germanistik und Theologie sowie Volkswirtschaftslehre. Er wurde 1972 zum Dr. phil. und 1979 zum Dr. rer. pol. promoviert. Nach der Habilitation in Philosophie 1985 bekleidete er drei ordentliche Professuren: in Witten/Herdecke (1986-1990), in Eichstätt-Ingolstadt (1990-1999) und anschließend bis zur Pensionierung 2008 in München. Er war erster Lehrstuhlinhaber für das Fach Wirtschafts- und Unternehmensethik in Deutschland und beeinflusst mit seinen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen die Diskussion weit über die Fachgrenzen hinaus und bis in die Wirtschaft hinein. Er ist Spiritus Rector des 1998 gegründeten Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik und Vorsitzender von dessen Stiftungsrat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2015

Sollen und Können
Karl Homann begründet eine robuste Moral

"Empört Euch!", forderte der Diplomat Stéphane Hessel 2010 in einem Essay, der zur Grundlagenschrift der "Occupy"Bewegung wurde. Und die zumeist jungen Leute, die in New York, London, Frankfurt und anderen Städten öffentliche Plätze und Gärten belagerten, empörten sich - gegen eine unfaire Verteilung der Lasten der Finanzkrise, gegen den Einfluss des Geldes auf die Politik, gegen das Gewinnstreben der Unternehmen, gegen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Das gemeinsame Pflegen der Feindbilder Geld, Banken, Spekulanten und Kapitalismus verhalf den Protestlern zu einem wärmenden Gruppengefühl; inhaltlich eröffneten sie keine neuen Wege. Kein Wunder, würde der Münchner Philosoph und Ökonom Karl Homann dazu wohl sagen, denn eine solche Empörung bleibt im unfruchtbaren Moralisieren stecken.

Weder bringt es etwas, noch ist es der Problematik einer aus dem Lot geratenen Wirtschaftsordnung angemessen, die Bankiers der Pflichtvergessenheit und die Akteure an den Finanzmärkten der Gier zu zeihen. Nicht "moralische Aufrüstung des einzelnen" könne eine Lösung bringen, schreibt Homann in seinem lesenswerten Buch, sondern vor allem kompetente Arbeit an den Rahmenbedingungen. Diesen obliege es, dafür zu sorgen, dass Moral sich lohne. Denn lohnen müsse sie sich, um stabil zu sein. Homann stellt damit die berühmte These Wilhelm Röpkes auf den Kopf, dass der Markt von moralischen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann: Die Moral lebt vielmehr von wirtschaftlichen Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann.

Das unfruchtbare Moralisieren ist nach Homanns Diagnose nicht nur ein Problem undifferenziert polemisierender Demonstranten, sondern geht auf eine untaugliche autonome Theorieperspektive der Philosophie zurück. Es sei den Bedingungen einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr angemessen, allein den kategorischen Imperativ in der Tradition Kants gelten zu lassen, wonach sich das, was als richtig erkannt sei, unmittelbar in eine persönliche Pflicht übersetze. Vielmehr setze jedes Sollen ein Können voraus. Um das Können auszuloten, sei die ethische Perspektive um eine "naturalistische" Komponente zu erweitern, in die Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften, insbesondere aus der Ökonomik und der Spieltheorie, einfließen müssten.

Wenn beispielsweise die Solidarität unter allen Menschen als Wert allgemein anerkannt ist, ergibt sich nach Homann trotzdem keine absolute Pflicht für den Einzelnen, dem Nachbarn auch noch sein letztes Hemd zu überlassen. Eine solche Solidarität wäre systematisch ausbeutbar und bräche somit früher oder später zusammen, ganz wie im spieltheoretischen Modell des Gefangenendilemmas, wo sich alle Beteiligten aus Angst vor Ausbeutung durch die anderen unkooperativ verhalten, was schließlich für alle zu einem schlechten Ergebnis führt. In der modernen Welt lässt sich Solidarität anders viel effizienter organisieren: durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb.

Homann beschränkt sich nicht darauf, den Blick der Philosophen auf die Wirtschaft als verkürzt zu kritisieren. Angesichts seiner eigenen Doppelqualifikation liegt es nahe, dass er sich konstruktiv um eine Integration der beiden Disziplinen bemüht, die eigentlich derselben Wurzel entstammen. Trotz seiner Kritik an einer allzu puritanischen, der modernen Funktionslogik unangemessenen Ethik der Mäßigung und der Selbstaufopferung erkennt er der Pflichtenethik eine wichtige komplementäre Rolle in der sozialen Vermittlung und Verinnerlichung von Handlungsimperativen zu. Wenn der marktwirtschaftliche Wettbewerb als Mittel zur Ermöglichung von Solidarität als zweckmäßig erkannt sei, könne die Pflichtenethik immerhin die Aufgabe übernehmen, das Gebot wettbewerbsgerechten - und eben nicht kapitalismusfeindlichen - Verhaltens einzuüben. Eine Ethik, welche allein die Zweckmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens in den Vordergrund stelle, verletzte das moralische Selbstverständnis der Menschen eher, als dass sie Anhänger zu gewinnen vermöge.

Ohne die Nutzung des kategorischen Imperativs werde sich die Kultur der Marktwirtschaft kaum durchsetzen. Hand in Hand damit sei die Wissenschaft aufgefordert, die Öffentlichkeit in einfacher, verständlicher Sprache über wirtschaftliche Mechanismen, die oft den intuitiven Moralvorstellungen zuwiderliefen, immer wieder aufs Neue aufzuklären. "Solche Prozesse dauern lange, sind aber nicht hoffnungslos", schreibt der Autor: "Wie wir gelernt haben, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, so müssen und können wir auch lernen, dass Wettbewerb solidarischer ist als Teilen und Privateigentum solidarischer als Gemeineigentum."

Homann legt eine philosophisch wie ökonomisch penible Herleitung seiner Thesen dar, die nicht zuletzt zur Verständigung beitragen kann, weil er jeden logischen Schritt in seiner Bedeutung genau erläutert, ihn mit Beispielen illustriert und gegen Einwände absichert. Die Auseinandersetzung mit den Leitfiguren der wirtschaftsethischen Diskussion hat er der Lesefreundlichkeit zuliebe auf ein Minimum beschränkt oder sie in den Fußnotenapparat verschoben. Trotz dieser Beschränkung wird klar, an welchen Vorbildern er sich orientiert. In der Philosophie sind dies vor allem Thomas Hobbes, Friedrich Hegel, originell als ein früher Institutionenökonom ausgelegt, und John Rawls; in der Wirtschaftswissenschaft greift er auf die verfassungsökonomischen Ideen von James M. Buchanan und den Homo Oeconomicus in der mikroökonomischen Theorie von Gary Becker ebenso zurück wie auf die Spieltheorie. Ein wenig reiben mag man sich an der Einordnung von Adam Smith, des Gründervaters der modernen Ökonomik, dessen Leistung für die Überwindung gerade einer zu kurz greifenden Pflichtenethik zugunsten einer Fokussierung der institutionellen Rahmenbedingungen er nicht recht würdigt.

KAREN HORN

Karl Homann: Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral. Ibera/European University Press, Wien 2014, 287 Seiten

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