In der New Yorker Carnegie Hall wird ein Violinkonzert aufgeführt, da kommt es zu einem Eklat. Der Geigenvirtuose Laster soll ein Solo improvisieren, doch stattdessen legt er sein Instrument nieder und hebt an zu einer Hommage an Schneidermann, den Komponisten des Stücks. Schneidermann ist nach dem letzten gemeinsamen Kinobesuch verschwunden. Vor der versammelten New Yorker High Society - darunter seine Exfrauen und deren Anwälte - erinnert Laster sich an all das, was die beiden durchlebt haben: Holocaust, Krieg und das Exil in Amerika. Mit seinem Loblied auf die Freundschaft fesselt er sein Publikum bis in die frühen Morgenstunden.In seinem Debütroman entwirft Joshua Cohen, einer der originellsten Autoren der jungen Generation und Absolvent der Manhattan School of Music, ein ungewöhnliches Künstlerporträt. Zugleich gibt SOLO FÜR SCHNEIDERMANN die Bühne frei für eine wilde Suada voller komischer Momente.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016Bis zum übernächsten Morgenrot
Joshua Cohen lässt einen Stargeiger über Judentum, Musik, die alte und die neue Welt monologisieren. Sein überbordender Roman
„Solo für Schneidermann“ ist eine witzige, ja aberwitzige Literatur-Überforderung – selbst für aufmerksame Leser
VON BURKHARD MÜLLER
Der berühmteste Geigenvirtuose der Welt soll in der New Yorker Carnegie Hall vor den gespannten Ohren eines auserwählten Publikums, zu dem auch seine sämtliche Weggefährten gehören, von seinen fünf oder sechs Ex-Frauen über den banausischen Mäzen Rothstein bis hin zu seiner Proktologin, eine Kadenz zum Besten geben, eine besonders schwierige Art von improvisiertem Solo. „˜ Musik ˜“, so beginnt der Roman, um fortzufahren: „Guten Abend, meine Damen und Herren!“, in der Notierunsgsweise einer Partitur, mit der Angabe „Sehr trotzig“, einem langen Legato-Bogen und dem Hinweis „p < f“, was bedeutet, dass die Lautstärke anschwillt.
Es erwartet den Leser, so viel steht nach diesem Anfang fest, ein musikalisches Erlebnis, mag es auch zur Gänze in Literatur aufgelöst sein. Statt zu spielen, erklärt Laster, wolle er lieber eine Ansprache halten, eine Rede über seinen kürzlich verschollenen Freund Schneidermann, den unfassbar genialen Komponisten. Gegen das Ende zu gibt es zarte Hinweise aufs einsetzende Morgenrot, aber bei 500 Seiten Text, die Seite zu rund drei Minuten gerechnet, muss es sich wohl um das Morgenrot schon des übernächsten Tages handeln. Laster verlangt einiges von seinem Publikum, und Joshua Cohen, Verfasser von
„Solo für Schneidermann“, nicht weniger von seinen Lesern.
Es geht um Judentum, Geigenspiel und um Schönheit und Graus des alten Europa. Ihm sind sie beide entronnen, der etwa 80-jährige Laster glimpflich und noch als Kind, der hoch in den Neunzigern stehende Schneidermann als Überlebender der Vernichtungslager. Davon haben sich tiefe Spuren in Schneidermanns Habitus eingegraben. Anfangs besitzen sie ihren Reiz als Spleen, dann beginnen sie durch ihre Insistenz zu nerven, um sich erst sehr allmählich als Zeichen einer tragischen Zerrüttung zu erkennen zu geben. Schneidermann, der so kahl ist, dass man nicht weiß, wo die Glatze aufhört und der Himmel anfängt, trägt eine aus dem Müll gezogene Beethoven-Perücke, die er mit einem komplizierten Seilzugmechanismus an seinem Kinn befestigt.
Schneidermann wäscht sich nie, er ist krankhaft geizig, seine Schuhe, immer viel zu groß, bezieht er von der Heilsarmee, und wenn er sie unterwegs verliert, was er ständig tut, muss Laster sie suchen gehen. Herzstück der Freundschaft beider bildet der gemeinsame Besuch von Kino-Matineen. Alles, buchstäblich alles, was in Amerika seit 1950 auf die Leinwand kam, haben sie gemeinsam gesehen.
Es ist viel mehr als bloß eine Freundschaft, was sie verbindet. Schneidermann hatte im Budapest des Zweiten Weltkriegs Laster vom Konservatorium weg als seinen Meisterschüler angenommen und wurde ihm zum geistigen, zum wahren Vater, eine Beziehung, die unverbrüchlicher und tiefer ist als alles, was dieser Egomane mit seinen geldgierigen Scheidungswitwen oder den so zahllosen wie undankbaren Kindern und Enkeln teilt. Dass diese unter allerlei skurrilen Verkleidungen beschwiegene Liebe sich als der Kern des Ganzen nur so langsam erschließt, darin besteht der verschämte Charme dieses Buchs, das sonst nach allen Seiten seine Stacheln ausfährt. Es kennt keinen Einhalt. Den Punkt, die Pause verwendet es fast überhaupt nicht.
Seite um Seite schwirren die Kommas wie Achtelnoten, selbst eine musikalische Gliederung in Sätze nach Tempo und Stimmung, die sich wohl angeboten hätte, verschmäht es und fegt prestissimo in einem fort dahin. Es hört sich so an: „sein (Schneidermanns) Libretto handelt von einem ausgeleierten, wenn nicht schon total abgedroschenen jüdischen Thema, wobei das natürlich alle Themen sind und absolut alles jüdisch ist, wenn man zu dem Typ Jude gehört, aber Sie werden verstehen, dass wir – wie Sie – auch damals, was zumindest den meisten von Ihnen hier wie eine Ewigkeit her vorkommen muss, von einem sinaihohen Gipfel der Weltkultur herab die gesamte Schtetl-Ästhetik ausschlachteten, genau wie der schmalzige Chagall und später der Nobel-Singer, um damit unser eigenes Süppchen zu kochen, unseren eigenen Aberglauben auf die Schippe zu nehmen, derweil wir die Gojim als Moderne überholten, ihren Nationalismus überholten oder zumindest verurteilten, während wir uns an unseren klammerten (. . .)“
Nur gewaltsam, wie wenn man versucht, bei Sturm eine Tür zuzudrücken, schaffte es der Rezensent, diese Passage zu zitierbarer Länge abzuschneiden. Wie viel steckt in diesem kurzen Fetzen! Zunächst ein bemerkenswerter Gedanke über das sich wandelnde kulturelle Verhältnis des Judentums zu seinen Gastvölkern, sodann ein verblüffend hartes Urteil über Chagall, schließlich streift der Schatten des Verdachts den allseits hochgeachteten Isaac Bashevis Singer. Das alles schießt vorüber im Eilzugtempo, so schnell, dass man mit dem Hinterherdenken gar nicht hinterher kommt.
Auch sonst braucht der Leser einiges, um mitzuhalten. Er sollte bewandert sein in der Lyrik von Rilke und Celan, das stellt eine Art Minimum für den 1980 geborenen, kulturell ambitionierten New Yorker Joshua Cohen dar. Ferner sollte er eine Mitzwa sicher von einer Mikwe unterscheiden können und den Strymon vom Styx. Dass ein Foyer aus prokonnesischem Cipollinomarmor besteht, darf ihn nicht beirren. Er muss Geduld haben für musikalische Spezialdiskurse, „vergessen Sie Tartini, vergessen Sie Paganini!“, problematisch ist die Quadrupelfuge, Skepsis angebracht gegen Heifetz’ „eingedostes Konzerngeträller“, wobei man sich fragt, ob der Konzern hier vielleicht ein Druckfehler für Konzert ist oder Laster, der alte Lästerer, wirklich dermaßen zynisch drauf. Der Zynismus bildet die Klippe des Buchs, an der es ziemlich knapp vorbeisteuert.
Das jüdische Privileg, Judenwitze zu machen, ist hier erweitert zum Universal-Ressentiment. „Dinge, derentwegen er (Schneidermann) sich den Klavierdeckel auf die Kehle knallte: Asiaten, Asiaten, angsterfüllte Homosexuelle, Gewichte hebende Asiaten, alleinstehende alte Frauen, die mehr als eine und manchmal, je nachdem, nur eine Katze hatten, Juden, Juden, Juden, Frauen, die die amerikanische Sprache sprachen, Frauen, die Deodorants benutzten, Frauen, Philosophiestudenten, sexuell erfüllte Querschnittsgelähmte“, und so schnell kommt das an kein Ende. Aber am meisten geht es doch gegen Asiaten, jene Rasse, die die europäische Musik-Tradition durch seelenlose Routine an sich reiße – ob Hiroshima wirklich ein Fehler gewesen sei? Wer das für inakzeptabel ansieht, dem tritt andernorts in Nebensätzen (dieses Buch besteht ausschließlich aus Nebensätzen) ein Schneidermann entgegen, der mitansehen muss, wie die Nazis seine Frau erschlagen (seine „damalige Frau“, wie der seriell monogame Erzähler erläutert), und teils vorher, teils nachher alle seine Angehörigen.
Auch er selbst fällt schließlich doch noch den Nazis zum Opfer, indirekt und mit einer Verzögerung von siebzig Jahren. Die letzte Matinee, die sich Laster und Schneidermann ansehen, ist „Schindlers Liste“. Schneidermann steht mittendrin auf, empört sich, während die anderen Besucher ihn niederzischen: „Die Farbe fehlt! Der ist schwarzweiß! Diebe!“ und verlangt sein Geld zurück. Dann steht er auf und ward nicht mehr gesehen, ein „Luftmensch“, dem es an jeder Lebensgrundlage fehlt, vielleicht aber auch der Messias.
Es ist ein witziges, ein aberwitziges, ein emotional sehr starkes Buch. Ein Buch jedoch, das die Bereitschaft zu einer ununterbrochen hochintensiven Lektüre voraussetzt, wie sie wohl nur die Wenigsten aufbringen. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man es als ein Werk für Übersetzer bezeichnet, die immer die geduldigsten und aufmerksamsten Leser bleiben werden.
Ulrich Blumenbach hat es geschafft, den angespannten Rhythmus dieses Buchs auf bewundernswerte Weise nachzubilden – und darüber hinaus für diesen Kosmos aus Anspielungen, Bezügen und Kalauern Dinge vollbracht, die man eigentlich für unmöglich hält. Nur ein paar Beispiele: „Frau Nr. sechs ist ein Sopran. Und jeder Tenor ist Bass erstaunt, dass sie nie Alt wird.“ Wie das wohl im Original ging? „(. . .) selbst die Harfenistin, die ich liebe, von der ich träume, die ich aber noch nicht gepflückt habe, sie ist von hinnen und heimgewelkt“ – da wird einem diese ambulante Blume aufs Plastischste vor Augen gerückt. „(. . .) ich bin Schneidermanns zurückgebliebenes, masturbierendes Erfüllungsäffchen (. . .)“ Das „Erfüllungsäffchen“ nutzt Möglichkeiten der Verkleinerung und der Zusammensetzung von Substantiven, die es so im Englischen jedenfalls nicht gibt. Kurzum, dieses Buch über zwei alte Europäer, die den Klauen der Deutschen mit knapper Not entgangen sind, kehrt in ein Deutsch ein, dass es eine ebenso zweideutige wie helle Freude ist.
Joshua Cohen: Solo für Schneidermann. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2016, 536 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die deutsche Übersetzung
verleiht den Protagonisten Macht
über die Sprache ihrer Peiniger
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Joshua Cohen lässt einen Stargeiger über Judentum, Musik, die alte und die neue Welt monologisieren. Sein überbordender Roman
„Solo für Schneidermann“ ist eine witzige, ja aberwitzige Literatur-Überforderung – selbst für aufmerksame Leser
VON BURKHARD MÜLLER
Der berühmteste Geigenvirtuose der Welt soll in der New Yorker Carnegie Hall vor den gespannten Ohren eines auserwählten Publikums, zu dem auch seine sämtliche Weggefährten gehören, von seinen fünf oder sechs Ex-Frauen über den banausischen Mäzen Rothstein bis hin zu seiner Proktologin, eine Kadenz zum Besten geben, eine besonders schwierige Art von improvisiertem Solo. „˜ Musik ˜“, so beginnt der Roman, um fortzufahren: „Guten Abend, meine Damen und Herren!“, in der Notierunsgsweise einer Partitur, mit der Angabe „Sehr trotzig“, einem langen Legato-Bogen und dem Hinweis „p < f“, was bedeutet, dass die Lautstärke anschwillt.
Es erwartet den Leser, so viel steht nach diesem Anfang fest, ein musikalisches Erlebnis, mag es auch zur Gänze in Literatur aufgelöst sein. Statt zu spielen, erklärt Laster, wolle er lieber eine Ansprache halten, eine Rede über seinen kürzlich verschollenen Freund Schneidermann, den unfassbar genialen Komponisten. Gegen das Ende zu gibt es zarte Hinweise aufs einsetzende Morgenrot, aber bei 500 Seiten Text, die Seite zu rund drei Minuten gerechnet, muss es sich wohl um das Morgenrot schon des übernächsten Tages handeln. Laster verlangt einiges von seinem Publikum, und Joshua Cohen, Verfasser von
„Solo für Schneidermann“, nicht weniger von seinen Lesern.
Es geht um Judentum, Geigenspiel und um Schönheit und Graus des alten Europa. Ihm sind sie beide entronnen, der etwa 80-jährige Laster glimpflich und noch als Kind, der hoch in den Neunzigern stehende Schneidermann als Überlebender der Vernichtungslager. Davon haben sich tiefe Spuren in Schneidermanns Habitus eingegraben. Anfangs besitzen sie ihren Reiz als Spleen, dann beginnen sie durch ihre Insistenz zu nerven, um sich erst sehr allmählich als Zeichen einer tragischen Zerrüttung zu erkennen zu geben. Schneidermann, der so kahl ist, dass man nicht weiß, wo die Glatze aufhört und der Himmel anfängt, trägt eine aus dem Müll gezogene Beethoven-Perücke, die er mit einem komplizierten Seilzugmechanismus an seinem Kinn befestigt.
Schneidermann wäscht sich nie, er ist krankhaft geizig, seine Schuhe, immer viel zu groß, bezieht er von der Heilsarmee, und wenn er sie unterwegs verliert, was er ständig tut, muss Laster sie suchen gehen. Herzstück der Freundschaft beider bildet der gemeinsame Besuch von Kino-Matineen. Alles, buchstäblich alles, was in Amerika seit 1950 auf die Leinwand kam, haben sie gemeinsam gesehen.
Es ist viel mehr als bloß eine Freundschaft, was sie verbindet. Schneidermann hatte im Budapest des Zweiten Weltkriegs Laster vom Konservatorium weg als seinen Meisterschüler angenommen und wurde ihm zum geistigen, zum wahren Vater, eine Beziehung, die unverbrüchlicher und tiefer ist als alles, was dieser Egomane mit seinen geldgierigen Scheidungswitwen oder den so zahllosen wie undankbaren Kindern und Enkeln teilt. Dass diese unter allerlei skurrilen Verkleidungen beschwiegene Liebe sich als der Kern des Ganzen nur so langsam erschließt, darin besteht der verschämte Charme dieses Buchs, das sonst nach allen Seiten seine Stacheln ausfährt. Es kennt keinen Einhalt. Den Punkt, die Pause verwendet es fast überhaupt nicht.
Seite um Seite schwirren die Kommas wie Achtelnoten, selbst eine musikalische Gliederung in Sätze nach Tempo und Stimmung, die sich wohl angeboten hätte, verschmäht es und fegt prestissimo in einem fort dahin. Es hört sich so an: „sein (Schneidermanns) Libretto handelt von einem ausgeleierten, wenn nicht schon total abgedroschenen jüdischen Thema, wobei das natürlich alle Themen sind und absolut alles jüdisch ist, wenn man zu dem Typ Jude gehört, aber Sie werden verstehen, dass wir – wie Sie – auch damals, was zumindest den meisten von Ihnen hier wie eine Ewigkeit her vorkommen muss, von einem sinaihohen Gipfel der Weltkultur herab die gesamte Schtetl-Ästhetik ausschlachteten, genau wie der schmalzige Chagall und später der Nobel-Singer, um damit unser eigenes Süppchen zu kochen, unseren eigenen Aberglauben auf die Schippe zu nehmen, derweil wir die Gojim als Moderne überholten, ihren Nationalismus überholten oder zumindest verurteilten, während wir uns an unseren klammerten (. . .)“
Nur gewaltsam, wie wenn man versucht, bei Sturm eine Tür zuzudrücken, schaffte es der Rezensent, diese Passage zu zitierbarer Länge abzuschneiden. Wie viel steckt in diesem kurzen Fetzen! Zunächst ein bemerkenswerter Gedanke über das sich wandelnde kulturelle Verhältnis des Judentums zu seinen Gastvölkern, sodann ein verblüffend hartes Urteil über Chagall, schließlich streift der Schatten des Verdachts den allseits hochgeachteten Isaac Bashevis Singer. Das alles schießt vorüber im Eilzugtempo, so schnell, dass man mit dem Hinterherdenken gar nicht hinterher kommt.
Auch sonst braucht der Leser einiges, um mitzuhalten. Er sollte bewandert sein in der Lyrik von Rilke und Celan, das stellt eine Art Minimum für den 1980 geborenen, kulturell ambitionierten New Yorker Joshua Cohen dar. Ferner sollte er eine Mitzwa sicher von einer Mikwe unterscheiden können und den Strymon vom Styx. Dass ein Foyer aus prokonnesischem Cipollinomarmor besteht, darf ihn nicht beirren. Er muss Geduld haben für musikalische Spezialdiskurse, „vergessen Sie Tartini, vergessen Sie Paganini!“, problematisch ist die Quadrupelfuge, Skepsis angebracht gegen Heifetz’ „eingedostes Konzerngeträller“, wobei man sich fragt, ob der Konzern hier vielleicht ein Druckfehler für Konzert ist oder Laster, der alte Lästerer, wirklich dermaßen zynisch drauf. Der Zynismus bildet die Klippe des Buchs, an der es ziemlich knapp vorbeisteuert.
Das jüdische Privileg, Judenwitze zu machen, ist hier erweitert zum Universal-Ressentiment. „Dinge, derentwegen er (Schneidermann) sich den Klavierdeckel auf die Kehle knallte: Asiaten, Asiaten, angsterfüllte Homosexuelle, Gewichte hebende Asiaten, alleinstehende alte Frauen, die mehr als eine und manchmal, je nachdem, nur eine Katze hatten, Juden, Juden, Juden, Frauen, die die amerikanische Sprache sprachen, Frauen, die Deodorants benutzten, Frauen, Philosophiestudenten, sexuell erfüllte Querschnittsgelähmte“, und so schnell kommt das an kein Ende. Aber am meisten geht es doch gegen Asiaten, jene Rasse, die die europäische Musik-Tradition durch seelenlose Routine an sich reiße – ob Hiroshima wirklich ein Fehler gewesen sei? Wer das für inakzeptabel ansieht, dem tritt andernorts in Nebensätzen (dieses Buch besteht ausschließlich aus Nebensätzen) ein Schneidermann entgegen, der mitansehen muss, wie die Nazis seine Frau erschlagen (seine „damalige Frau“, wie der seriell monogame Erzähler erläutert), und teils vorher, teils nachher alle seine Angehörigen.
Auch er selbst fällt schließlich doch noch den Nazis zum Opfer, indirekt und mit einer Verzögerung von siebzig Jahren. Die letzte Matinee, die sich Laster und Schneidermann ansehen, ist „Schindlers Liste“. Schneidermann steht mittendrin auf, empört sich, während die anderen Besucher ihn niederzischen: „Die Farbe fehlt! Der ist schwarzweiß! Diebe!“ und verlangt sein Geld zurück. Dann steht er auf und ward nicht mehr gesehen, ein „Luftmensch“, dem es an jeder Lebensgrundlage fehlt, vielleicht aber auch der Messias.
Es ist ein witziges, ein aberwitziges, ein emotional sehr starkes Buch. Ein Buch jedoch, das die Bereitschaft zu einer ununterbrochen hochintensiven Lektüre voraussetzt, wie sie wohl nur die Wenigsten aufbringen. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man es als ein Werk für Übersetzer bezeichnet, die immer die geduldigsten und aufmerksamsten Leser bleiben werden.
Ulrich Blumenbach hat es geschafft, den angespannten Rhythmus dieses Buchs auf bewundernswerte Weise nachzubilden – und darüber hinaus für diesen Kosmos aus Anspielungen, Bezügen und Kalauern Dinge vollbracht, die man eigentlich für unmöglich hält. Nur ein paar Beispiele: „Frau Nr. sechs ist ein Sopran. Und jeder Tenor ist Bass erstaunt, dass sie nie Alt wird.“ Wie das wohl im Original ging? „(. . .) selbst die Harfenistin, die ich liebe, von der ich träume, die ich aber noch nicht gepflückt habe, sie ist von hinnen und heimgewelkt“ – da wird einem diese ambulante Blume aufs Plastischste vor Augen gerückt. „(. . .) ich bin Schneidermanns zurückgebliebenes, masturbierendes Erfüllungsäffchen (. . .)“ Das „Erfüllungsäffchen“ nutzt Möglichkeiten der Verkleinerung und der Zusammensetzung von Substantiven, die es so im Englischen jedenfalls nicht gibt. Kurzum, dieses Buch über zwei alte Europäer, die den Klauen der Deutschen mit knapper Not entgangen sind, kehrt in ein Deutsch ein, dass es eine ebenso zweideutige wie helle Freude ist.
Joshua Cohen: Solo für Schneidermann. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2016, 536 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die deutsche Übersetzung
verleiht den Protagonisten Macht
über die Sprache ihrer Peiniger
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Solo für Schneidermann" ist ein enorm forderndes Buch, stellt Rezensent Burkhard Müller klar: Wer nicht in Lyrik, Musikbetrieb, Mythologie und Literaturgeschichte bewandert ist, wird an diesem Buch wenig Freude haben. Joshua Cohen lässt darin den Geiger Laster statt eines Konzert eine Grabrede auf seinen verstorbenen Freund, den Holocaust-Überlebenden und Meisterkomponistin Schneidermann halten. Die Eloge gerät Laster zu einer Abrechnung mit der gesamten Welt, und trägt dabei, so Müller, durchaus Züge eines Universal-Ressentiments, das er fast für inakzetabel hält. Dennoch nennt Müller den Roman "witzig, aberwitzig, emotional sehr stark", bleibt aber bei aller intellektuellen Brillanz etwas reserviert. Vorbehaltlos imponiert ihm allerdings Ulrich Blumenbachs bewundernswert virtuose Übersetzerleistung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2017Partitur eines zynischen Lästermauls in New York
Da hilft auch keine Therapie mehr: Joshua Cohens "Solo für Schneidermann" ist ein Schwanengesang auf die Moderne
Hätte Thomas Bernhard jemals einen New-York-Roman geschrieben, so wäre seine Hauptfigur vielleicht ein Schneidermann gewesen: ein die Geschmacksgrenzen bewusst übertretender Kritiker der spätkapitalistischen Gegenwart, ein zynischer Beobachter all ihrer Belanglosigkeiten, ein hoffnungslos elitärer Verteidiger abendländischer Tiefe, im Denken wie in der Kunst. Es wäre eine böse und witzige Suada geworden, eine in die Weltmetropole versetzte "Auslöschung", vollzogen in einer einzigen, wegwischenden Sprachbewegung.
Der New-York-Roman, den Thomas Bernhard nie geschrieben hat -, er stammt von dem 1980 geborenen Schriftsteller Joshua Cohen, der momentan als einer der interessantesten, avanciertesten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur gehandelt wird. Erstveröffentlicht wurde das Debüt im Original vor bereits knapp zehn Jahren (seither sind fünf weitere Bücher erschienen), nun liegt die deutsche Übersetzung vor.
Schneidermann, sein Leben und seine Weltsicht, lernt der Leser auf vermitteltem Wege kennen. In Cohens Roman spricht nur einer, nämlich der berühmte Geigenvirtuose Laster, und das über mehr als 500 Seiten hinweg. Der Ort seiner Rede: die Bühne der Carnegie Hall, auf der er, anstatt eine erwartete Kadenz zu improvisieren, zu einem nicht enden wollenden, bis ins Morgengrauen andauernden Monolog ansetzt. Sein Publikum: die versammelte New Yorker High Society, darunter seine Exfrauen, Anwälte, seine Proktologin.
Auslöser für Lasters Monolog ist das plötzliche Verschwinden Schneidermanns, seines alten Freundes, Weggefährten und Lehrers, während eines gemeinsamen Kinobesuchs. Es handelt sich um eine Schlüsselszene des Romans: Wie Schneidermann, der große Komponist und Holocaust-Überlebende, in eine Matinee-Aufführung von "Schindlers Liste" gerät und wie er miterleben muss, dass darin Bachs "Englische Suite" als Hintergrundmusik für ein grauenhaftes Nazi-Massaker verwendet wird. Nicht so sehr aus der filmindustriellen Ausbeutung des Holocausts, sondern aus der damit verbundenen Beschmutzung der Hochkultur ergibt sich für Schneidermann hier die Beleidigung - und der Grund dafür, den Kinosaal augenblicklich zu verlassen. "Kam nie mehr zurück", berichtet Laster nüchtern, "verschwand spurlos, verdünnisierte sich einfach, und weg war er, puff!"
Betrachtet man Schneidermanns Leben, so ist diese Reaktion nur verständlich. Das Letzte, was ihm, dem ungarisch-deutschen Juden, das mörderische 20. Jahrhundert gelassen hat, was er mit sich ins amerikanische Exil hat retten können - das war die Musik. Folglich wird ihre Herabwürdigung zum Soundtrack für den kinematographisch inszenierten Judenmord als Erniedrigung auch der eigenen Identität empfunden. Die besitzergreifende Verbindung von Hochkultur, Holocaust, Hollywood - für Schneidermann ist das einfach zu viel.
Der entschiedene Selbstentzug des Komponisten ist - das entwirft Cohen auf ebenso berührende wie hintergründige Weise - die äußerste Zuspitzung seiner überspannten Gegenwartsverachtung: Es kracht in diesem Roman gewaltig, nämlich eine tiefempfundene, mit der eigenen Persönlichkeit unlösbar verknüpfte Auffassung von ernster Kunst auf die "Shit-Hits des Monats", auf die "popmusikalischen Idioten", die sich unwissend und unverschämt an "Brahms- und Schubert-Resten" vergehen, so Laster im polemischen Geiste seines Lehrers.
Hinter solchen Angriffen, die von der Kunst und der Kultur beständig auf andere Lebensbereiche überschlagen, verbirgt sich also Liebe, und das geht mitunter bis zur Unkenntlichkeit. Eben daraus ergibt sich auch ein Problem: All den selbstgefällig-eloquenten Tiraden Schneidermanns, zum Beispiel über Homosexuelle, fällt über Hunderte Seiten hinweg niemand ins Wort. Dasselbe gilt für den, der hier spricht: Lasters verabscheuende Kommentare über Asiatinnen am Musikkonservatorium, über ihre angelernte Musikalität, ihre Körper, ihr feindliches Konkurrenzverhalten bleiben gänzlich unwidersprochen. Auch darin ist Cohens Roman der Suada bei Thomas Bernhard vergleichbar: in seiner zunächst provozierenden, irgendwann aber ermüdenden Einstimmigkeit.
Der hohe formale Aufwand, den Cohen treibt, indem er seinen Text typographisch einer Partitur annähert (bereits Lasters "Guten Abend" soll legato, mit einem Crescendo und "sehr trotzig" vorgetragen werden), ja auch der schiere Umfang seines Romans wirft Fragen auf. Im Dienste einer vielschichtigen Figurenentwicklung, eines verwickelten Handlungsverlaufs steht Cohens Versuch, literarisch "die Moderne zu wetzen", wie es an einer Stelle selbstbezüglich heißt, doch eher nicht.
Was vielmehr naheliegt: Cohen nutzt Scheidermanns Wut und Verbitterung, um das literarische Archiv einer untergehenden Welt zu schreiben. Es ist die Welt der modernen, jüdischen, europäischen Hochkultur, die hier in die Form einer gänzlich unzeitgemäßen, experimentellen Prosa gegossen wurde. Ihr charakteristisches Merkmal ist eine stakkatohafte Verdichtung von Namen, Orten, Begriffen, die den Leser wohl bewusst an den Rand der Überforderung bringen soll - eindrücklich etwa in Lasters Anmerkungen zur Pianisten-Dynastie der Schneidermanns: "ja, ich unterstelle Inzest nicht von Krafft-Ebings idealisierter Art, sondern schmutzige, schmutzige, schmutzige Ursprünge dieses Mystagogen (eines seiner Lieblingswörter, Schneidermann, er brachte viel Zeit über dem M im Webster's zu: Matrizid, Millionär, Moderne), dieser kunstvolle Mann, dessen Kunst nie versiegte, dieser synoptische Mann und seine synoptische Kunstreligion: eine Art Gesamtkunstwerk des Lebens, mit großem deutschen L angesichts aller Widerstände, versuchtem Genozid, Armut, die ganze Heimatlos-Nummer - wie bist du heute Abend denn drauf, Fremdzüngiger?"
Ja, wie ist dieser Laster eigentlich drauf? Ausgehend von seiner ausfallenden Bemerkung zu Schneidermanns Familie und zur Inzest-Theorie des Sexualpsychiaters Richard von Krafft-Ebing, wendet er sich sprunghaft Schneidermanns deutscher Kunstreligion und Wagners Gesamtkunstwerk zu, von wo aus er rasch auf die Pervertierung all dessen, auf Holocaust, Hunger und Vertreibung, zu sprechen kommt. All diese Aspekte einer "totalen europäischen Bildung" müssen hier offenbar festgehalten werden - für längere Ausführungen bleibt da keine Zeit. In tausend Funken scheint die Welt von gestern in dieser ausufernden Sprachkadenz noch einmal auf, bevor sie am Ende endgültig verglüht - und Laster seine Zuhörer ins Morgenrot entlässt: "ja, bald . . . bald . . . bald . . . oh die leuchtende Luft".
Ulrich Blumenbachs meisterhafte Übersetzung dieses schwierigen Romans, für die er eng mit dem Autor zusammengearbeitet hat (F.A.Z. vom 30. Juli 2016), ist nicht zuletzt als transatlantisches Phänomen zu betrachten: Joshua Cohen, der mehrere Jahre in Deutschland gelebt hat (als Osteuropa-Korrespondent des "Jewish Daily Forward") und selbst Nachfahre ungarischer und deutscher Juden ist, hat uns den Schwanengesang der europäischen Moderne geschrieben.
KAI SINA.
Joshua Cohen: "Solo für Schneidermann". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 536 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da hilft auch keine Therapie mehr: Joshua Cohens "Solo für Schneidermann" ist ein Schwanengesang auf die Moderne
Hätte Thomas Bernhard jemals einen New-York-Roman geschrieben, so wäre seine Hauptfigur vielleicht ein Schneidermann gewesen: ein die Geschmacksgrenzen bewusst übertretender Kritiker der spätkapitalistischen Gegenwart, ein zynischer Beobachter all ihrer Belanglosigkeiten, ein hoffnungslos elitärer Verteidiger abendländischer Tiefe, im Denken wie in der Kunst. Es wäre eine böse und witzige Suada geworden, eine in die Weltmetropole versetzte "Auslöschung", vollzogen in einer einzigen, wegwischenden Sprachbewegung.
Der New-York-Roman, den Thomas Bernhard nie geschrieben hat -, er stammt von dem 1980 geborenen Schriftsteller Joshua Cohen, der momentan als einer der interessantesten, avanciertesten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur gehandelt wird. Erstveröffentlicht wurde das Debüt im Original vor bereits knapp zehn Jahren (seither sind fünf weitere Bücher erschienen), nun liegt die deutsche Übersetzung vor.
Schneidermann, sein Leben und seine Weltsicht, lernt der Leser auf vermitteltem Wege kennen. In Cohens Roman spricht nur einer, nämlich der berühmte Geigenvirtuose Laster, und das über mehr als 500 Seiten hinweg. Der Ort seiner Rede: die Bühne der Carnegie Hall, auf der er, anstatt eine erwartete Kadenz zu improvisieren, zu einem nicht enden wollenden, bis ins Morgengrauen andauernden Monolog ansetzt. Sein Publikum: die versammelte New Yorker High Society, darunter seine Exfrauen, Anwälte, seine Proktologin.
Auslöser für Lasters Monolog ist das plötzliche Verschwinden Schneidermanns, seines alten Freundes, Weggefährten und Lehrers, während eines gemeinsamen Kinobesuchs. Es handelt sich um eine Schlüsselszene des Romans: Wie Schneidermann, der große Komponist und Holocaust-Überlebende, in eine Matinee-Aufführung von "Schindlers Liste" gerät und wie er miterleben muss, dass darin Bachs "Englische Suite" als Hintergrundmusik für ein grauenhaftes Nazi-Massaker verwendet wird. Nicht so sehr aus der filmindustriellen Ausbeutung des Holocausts, sondern aus der damit verbundenen Beschmutzung der Hochkultur ergibt sich für Schneidermann hier die Beleidigung - und der Grund dafür, den Kinosaal augenblicklich zu verlassen. "Kam nie mehr zurück", berichtet Laster nüchtern, "verschwand spurlos, verdünnisierte sich einfach, und weg war er, puff!"
Betrachtet man Schneidermanns Leben, so ist diese Reaktion nur verständlich. Das Letzte, was ihm, dem ungarisch-deutschen Juden, das mörderische 20. Jahrhundert gelassen hat, was er mit sich ins amerikanische Exil hat retten können - das war die Musik. Folglich wird ihre Herabwürdigung zum Soundtrack für den kinematographisch inszenierten Judenmord als Erniedrigung auch der eigenen Identität empfunden. Die besitzergreifende Verbindung von Hochkultur, Holocaust, Hollywood - für Schneidermann ist das einfach zu viel.
Der entschiedene Selbstentzug des Komponisten ist - das entwirft Cohen auf ebenso berührende wie hintergründige Weise - die äußerste Zuspitzung seiner überspannten Gegenwartsverachtung: Es kracht in diesem Roman gewaltig, nämlich eine tiefempfundene, mit der eigenen Persönlichkeit unlösbar verknüpfte Auffassung von ernster Kunst auf die "Shit-Hits des Monats", auf die "popmusikalischen Idioten", die sich unwissend und unverschämt an "Brahms- und Schubert-Resten" vergehen, so Laster im polemischen Geiste seines Lehrers.
Hinter solchen Angriffen, die von der Kunst und der Kultur beständig auf andere Lebensbereiche überschlagen, verbirgt sich also Liebe, und das geht mitunter bis zur Unkenntlichkeit. Eben daraus ergibt sich auch ein Problem: All den selbstgefällig-eloquenten Tiraden Schneidermanns, zum Beispiel über Homosexuelle, fällt über Hunderte Seiten hinweg niemand ins Wort. Dasselbe gilt für den, der hier spricht: Lasters verabscheuende Kommentare über Asiatinnen am Musikkonservatorium, über ihre angelernte Musikalität, ihre Körper, ihr feindliches Konkurrenzverhalten bleiben gänzlich unwidersprochen. Auch darin ist Cohens Roman der Suada bei Thomas Bernhard vergleichbar: in seiner zunächst provozierenden, irgendwann aber ermüdenden Einstimmigkeit.
Der hohe formale Aufwand, den Cohen treibt, indem er seinen Text typographisch einer Partitur annähert (bereits Lasters "Guten Abend" soll legato, mit einem Crescendo und "sehr trotzig" vorgetragen werden), ja auch der schiere Umfang seines Romans wirft Fragen auf. Im Dienste einer vielschichtigen Figurenentwicklung, eines verwickelten Handlungsverlaufs steht Cohens Versuch, literarisch "die Moderne zu wetzen", wie es an einer Stelle selbstbezüglich heißt, doch eher nicht.
Was vielmehr naheliegt: Cohen nutzt Scheidermanns Wut und Verbitterung, um das literarische Archiv einer untergehenden Welt zu schreiben. Es ist die Welt der modernen, jüdischen, europäischen Hochkultur, die hier in die Form einer gänzlich unzeitgemäßen, experimentellen Prosa gegossen wurde. Ihr charakteristisches Merkmal ist eine stakkatohafte Verdichtung von Namen, Orten, Begriffen, die den Leser wohl bewusst an den Rand der Überforderung bringen soll - eindrücklich etwa in Lasters Anmerkungen zur Pianisten-Dynastie der Schneidermanns: "ja, ich unterstelle Inzest nicht von Krafft-Ebings idealisierter Art, sondern schmutzige, schmutzige, schmutzige Ursprünge dieses Mystagogen (eines seiner Lieblingswörter, Schneidermann, er brachte viel Zeit über dem M im Webster's zu: Matrizid, Millionär, Moderne), dieser kunstvolle Mann, dessen Kunst nie versiegte, dieser synoptische Mann und seine synoptische Kunstreligion: eine Art Gesamtkunstwerk des Lebens, mit großem deutschen L angesichts aller Widerstände, versuchtem Genozid, Armut, die ganze Heimatlos-Nummer - wie bist du heute Abend denn drauf, Fremdzüngiger?"
Ja, wie ist dieser Laster eigentlich drauf? Ausgehend von seiner ausfallenden Bemerkung zu Schneidermanns Familie und zur Inzest-Theorie des Sexualpsychiaters Richard von Krafft-Ebing, wendet er sich sprunghaft Schneidermanns deutscher Kunstreligion und Wagners Gesamtkunstwerk zu, von wo aus er rasch auf die Pervertierung all dessen, auf Holocaust, Hunger und Vertreibung, zu sprechen kommt. All diese Aspekte einer "totalen europäischen Bildung" müssen hier offenbar festgehalten werden - für längere Ausführungen bleibt da keine Zeit. In tausend Funken scheint die Welt von gestern in dieser ausufernden Sprachkadenz noch einmal auf, bevor sie am Ende endgültig verglüht - und Laster seine Zuhörer ins Morgenrot entlässt: "ja, bald . . . bald . . . bald . . . oh die leuchtende Luft".
Ulrich Blumenbachs meisterhafte Übersetzung dieses schwierigen Romans, für die er eng mit dem Autor zusammengearbeitet hat (F.A.Z. vom 30. Juli 2016), ist nicht zuletzt als transatlantisches Phänomen zu betrachten: Joshua Cohen, der mehrere Jahre in Deutschland gelebt hat (als Osteuropa-Korrespondent des "Jewish Daily Forward") und selbst Nachfahre ungarischer und deutscher Juden ist, hat uns den Schwanengesang der europäischen Moderne geschrieben.
KAI SINA.
Joshua Cohen: "Solo für Schneidermann". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 536 S., geb., 26,- [Euro].
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»Dieses mit Philosophie, Religion, Musik und Kunst, europäischer Geschichte und amerikanischem Lifestyle durchsetzte, gleichermaßen kraftvolle wie gelehrige Prosafeuerwerk sprengt jedes Sprachkorsett.«Rolling Stone»Mit sinfonischer Sprachbravour erzählt Joshua Cohen in seinem Roman von der Freundschaft zweier Männer und der vernichtenden Kraft der europäischen Weltkriege.«Der Tagesspiegel»In seinem Debütroman entwirft Joshua Cohen, der als einer der originellsten Autoren der jungen Generation gilt, eine wilde Suada voller komischer Momente.«Radio Transglobal»Joshua Cohen (...) hat uns den Schwanengesang der europäischen Moderne geschrieben.«Kai Sina»Ein witziges, ein aberwitziges, ein emotional sehr starkes Buch.«Süddeutsche Zeitung»'Solo für Schneidermann' erzählt vom kulturellen Umbruch unserer Zeit, von der schleichenden Erosion der Gesellschaft in einer technologisch zunehmend beschleunigten Gegenwart.«Bayern 2»Vielstimmig geschrieben, wie eine Partitur.«taz»Der Text ist selbst ganz und gar Partitur, voller Triller und Fiorituren, voller satter Akkorde und zarter Pianissimos.«lustauflesen.de»Der Roman (...) entwickelt seinen eigenen Sog aus Sprachrausch mit einem Repertoire von Kalauer bis zur Philosophie.«Münchner Feuilleton»Ein beeindruckendes, vielschichtiges, sprachlich herausforderndes Debüt.«Bayern 2»Ein grandios komponiertes und urkomisches Feuerwerk der Sprache.«lustauflesen.de»Fulminante Prosa (...). Ein Glück für den Leser!«Radio Bremen»Ein rasender Ritt durch die europäisch-amerikanisch-jüdische Geschichte (...) ein Sperrfeuer gegen das behagliche Bildungsbürgertum (...) ein komplexer Kontertanz von Musik, Leben und Tod«Neue Zürcher Zeitung