Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • ISBN-13: 9783549056110
  • Artikelnr.: 24760389
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.1998

Sphinx und Fantasy
Stoff verschenkt: Donald M. Thomas' Solschenizyn-Biographie

Es hätte ein wichtiges und aufregendes Buch werden können. Leben und Werk des russischen Literatur-Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn wären es wert, noch einmal neu beschrieben und gedeutet zu werden. Die Welt hat sich gedreht, die Sowjetunion hat sich aufgelöst, und der in die Heimat zurückgekehrte Autor des "Archipel GULag" ist bereits zu Lebzeiten in die Epoche eingegangen, zu deren Ende er wie wenige andere beigetragen hat.

Wie die Schichten eines mehrfach übermalten Bildes wären Person, Werk und Geschichte behutsam wieder voneinander zu lösen - nicht um den Zusammenhang zu zerreißen, der wirklich beispiellos eng war, sondern um ihn schärfer zu fassen. Donald M. Thomas, Autor des Psychobestsellers "Das weiße Hotel", macht genau das Gegenteil. Mit seiner Lebensdarstellung, die auf deutsch unter dem anmaßenden Titel "Solschenizyn - Die Biographie" erschienen ist, legt er noch eine weitere, dicke Farbschicht auf.

In gut slawophiler Manier erscheint die Geschichte Rußlands als eine einzige, tragische Epopöe, geschrieben mit dem Lebensblut seines großen Dichters und Dulders, und zugleich als eine ewige Wiederholung. Die Nebel wabern, und die Seelen wandern. Da ist die Revolution 1917 der "Augenblick, in dem die Dämonen siegten", wie Dostojewski es vorausgesehen hatte. Und hatte nicht Puschkin in seinen "Versen einer schlaflosen Nacht" schon von den nächtlichen Verhaftungen der Tscheka prophetisch geträumt? Daß mitten im Feuer des Bürgerkriegs "Sanja" geboren wird, Sohn des Isaaki und der Taisja, war demnach "ein Zeichen der Gnade". Der Taufname Alexander deutete "auf militärischen Ruhm und Dichtkunst" hin. Als Sanja im Sommer 1939 als jugendlicher Kommunist die Wolga abwärts fuhr, erkannte er voller Schmerz: "Das war nicht mehr das Rußland von Tschechow oder Turgenjew!" Und als er im Frühjahr 1945 wegen Kritik an Stalin verhaftet wurde, folgte er natürlich den Spuren Dostojewskis in die Verbannung - und verwirklichte zugleich den Traum Tolstois, der um seiner Reifung willen das Gefängnis ersehnt hatte.

Thomas steht mit seinem "Sanja" wie mit allen übrigen Heldinnen und Helden seines Familienromanes auf du und du. Er ruft sie mit ihren Kosenamen, denkt ihre Gedanken, spricht durch ihren Mund. Und er meint, ein klares Gespür dafür zu haben, was die künstlerische Hauptschwäche seines Protagonisten ist: nämlich "die Unfähigkeit, die Tiefe seines Unbewußten auszuloten". Dabei wäre er ihm gerne behilflich gewesen. Aber der reale Solschenizyn weigerte sich, dem ungebetenen Porträtisten Modell zu sitzen: "Biographien zu Lebzeiten eines Autors" erachtet er "als unmanierlich und unmoralisch", und Recherchen im Unterholz seiner persönlichen Beziehungen und lebensgeschichtlichen Brüche pflegt er stets in die Nähe polizeilicher Bespitzelungen zu rücken. So blieben Thomas nur Gespräche mit der ersten Frau des Dichters, Natascha Reschetowskaja, die - wie er schließlich herausfindet - den KGB-Offizier insgeheim geheiratet hat, der sie bei ihrer von den sowjetischen Behörden instrumentierten Rachekampagne gegen den ausgebürgerten Nobelpreisträger "angeleitet" hatte. Mit dieser traurigen Enthüllung endet das Buch, gefolgt von den Sätzen: "Also war sie - nicht Sanja - die Sphinx. Sie - und die Geschichte."

In solches Geraune löst sich auf, was der englische Originaltitel verheißt: "A Century in his Life" - Das Jahrhundert, im Leben des Alexander Solschenizyn gespiegelt. Das sowjetische Rußland, das Thomas als Kulisse der "geistigen Wanderschaft" seines Helden entwirft, gleicht eher einer Hölle im Fantasy-Stil. Da sitzt Lenin, verführt von dem "unrussischen" Gedanken, "daß jedes moralische Gesetz im Interesse einer einzigen Klasse gebrochen werden dürfe", an seinem Schreibtisch und befiehlt: "Tötet die Kulaken bis auf den letzten Mann!" Der von ihm entfesselte "Krieg des Staates gegen das Volk" soll gleich "einem Fünftel der Gesamtbevölkerung", mindestens sechzig Millionen Menschen, das Leben gekostet haben.

Dann hätte es der Hitlerschen Wehrmacht kaum bedurft, deren Ziel es war, "die gesamte männliche Bevölkerung über 15 zu töten und dann die ,SS-Zuchthengste' ins Land zu schicken", natürlich nicht, ohne zuvor "das besondere physische Vergnügen zu genießen, das so viele Deutsche aus dem Zufügen von Schmerz beziehen". Nur stießen die Angreifer diesmal "nicht auf den verweichlichten Defaitismus, dem sie bei vielen Franzosen begegnet waren", sondern auf Russen von Schrot und Korn, die "wie Löwen" kämpften, nachdem Stalin "schlau" an sie appelliert hatte, das heilige Rußland zu retten . . .

Gewiß, Thomas kann sich bei seinen freihändigen Schätzungen und Behauptungen teilweise auf Solschenizyn oder auf andere Zeitungen berufen. Nur macht es wohl einen Unterschied ums Ganze, ob die Überlebenden des Großen Terrors sich notgedrungen mythische Vorstellungen über ein Geschehen machten, das jeden Begriff und jedes menschliche Maß überstieg - oder ob ein heutiger Bestsellerautor noch draufsattelt, damit die Wirkung stimmt. Das kommt auf eine Geschichtsvernichtung hinaus, wie man sie aus der permanenten medialen Reinszenierung des Nationalsozialismus nur zu gut kennt.

Natürlich enthält eine Biographie von mehr als 650 Seiten, die aus dem gewaltigen literarischen Werk Solschenizyns mit seinen durchgängigen, meist offen zutage liegenden autobiographischen Bezügen sowie aus einer reichhaltigen Memoiren- und Sekundärliteratur schöpfen kann, auch vieles Interessante und manches Neue. Gegenüber der älteren, präzisen Biographie Michael Scammels von 1984 war immerhin ein ganzer Lebensabschnitt Solschenizyns nachzutragen - der Abschluß des monumentalen Romanzyklus "Das rote Rad", die Rückkehr nach Rußland als epische Annäherung über die Transsibirische Eisenbahn; die Versuche des Schriftstellers, zum Präzeptor des neuen Rußland zu werden, das sich jedoch um ihn kaum noch kümmert; und schließlich sein Rückzug in ein verbittertes Schweigen und verbissenes Schaffen, das bis ins heutige hohe Alter andauert.

Was für ein Stoff da verschenkt worden ist, läßt sich stellenweise zumindest ahnen. Wie Solschenizyn, gestützt auf die Erzählungen, Aufzeichnungen und Briefe von 227 anderen Ex-Häftlingen, mit Hilfe eines ganzen Netzwerkes von Helfern über Jahre hinweg unter den Augen des KGB den "Archipel GULag" verfaßt hat, so daß dieser noch 1972 kein Exemplar besaß, während das Politbüro sich schon mit der Verhaftung und Verschickung des Nobelpreisträgers befaßte, in dem die Führer der KPdSU den informellen Gegenführer einer das ganze Land umspannenden, konspirativen Organisation von Ex-Häftlingen und Dissidenten sahen - das alles gibt erst einen Begriff davon, wie tiefgreifend das Gefüge der sowjetischen Macht bereits untergraben war, während sie noch als die zweite Supermacht firmierte.

Aber das, was eine Sphäre der Unberührbarkeit um Solschenizyn schuf, war seine Aura eines großen Dichters, der er wunderbarer Weise auch dort blieb, wo er sich ganz der Aufgabe unterzog, "der Realität zu dienen", um die Geschichte Rußlands in literarisch verdichteter Form, als ein polyphones Konzert von Stimmen und Figuren, wiederherzustellen. Die Erfahrung etwa, die er seinen "Lenin in Zürich" machen läßt, wird zur Metapher des historischen Prozesses im Ganzen: "So wie das dunkle Wasser aus der Tiefe des Sees ungehindert, ungetrübt durch das Netz des Fischers fließt, so konnten Inessas vage Ansichten über die freie Liebe nicht durch seine Klassenanalyse erschüttert werden." GERD KOENEN

Donald M. Thomas: "Solschenizyn". Die Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Heddy Pross-Weerth. Propyläen-Verlag, Berlin 1998. 672 S., geb., 68,- DM.

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