Die Erzählung »Sommer am See« erschien 1958, sie spielt in den 1930er Jahren im Kreis des Mailänder Bürgertums. Ihr Held ist der 14-jährige Giacomo, er verbringt einen schwebenden Sommer an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Die unbestimmte Melancholie des Heranwachsenden, seine Abkehr vom Vater und die ersten Lieben beschreibt Alberto Vigevani (1918-1999) einfühlsam und mit zauberhafter Leichtigkeit. Es entsteht das zarte Bild eines bedeutsamen Sommer, in dessen Mitte der Lago di Como verheißungsvoll flimmert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2008Dampf im Dunkeln
Eine andere Nachkriegsliteratur: In Alberto Vigevanis elegischer Erzählung aus den fünfziger Jahren wird die Unruhe der Pubertät zum Vorzeichen kommender Stürme.
Von Winfried Wehle
1956, mitten im literarischen Wiederaufbau der Nachkriegszeit, erschien in Italien eine provozierend unzeitgemäße Erzählung. Es war, als wollte sie sich gegen alle Trümmerliteratur, Existentialismen, das Absurde Theater, den Nouveau Roman oder den Neorealismus verwehren. Einen "Sommer am See" beschwört ihr Titel, als ob nichts gewesen wäre. Und der Autor, Alberto Vigevani (1918 bis 1999), dem Bücher die Welt bedeuteten, setzt mit den ersten Worten nach: "Giacomo schien es, als hätte . . ." Unmittelbar, übergangslos dunkelt ein Irrealis alles Reale, Gegenwärtige ab. In Stufen der Nostalgie geht es dann hinab, einmal dorthin, wo sich die "Lichtfenster" der Erinnerung öffnen. Abgewiesen werden zunächst die Traumata der fünfziger Jahre. Sie machen der Vorkriegszeit der Dreißiger Platz. Doch auch nur, um ihre Vergangenheitswelt abermals zurückzunehmen auf das intime Format einer Adoleszenzgeschichte, ja nicht einmal das: auf wenige, ereignisarme Wochen eines Sommers am Comer See.
Dieser Zauber einer vergilbten Miniatur sollte alle Schatten vertreiben, die über der Gegenwart des Autors lagen? Die Geschichte wird eher noch fragwürdiger, dass er Giacomo, den Halbwüchsigen, das Glück schöner Gefühle suchen lässt. Doch was in sentimentalem Kitsch enden könnte, nimmt eine gegenteilige Wendung: Bewegender als alle Bedürfnisse nach Einssein (mit sich und anderen), Harmonie und Innigkeit ist, dass selbst ihre flüchtigen Momente nur pathogen zu haben sind. Die Ferienerfahrungen eines Pubertierenden umkreisen die unausgesprochene Frage, was die Erinnerung an den schwankenden, widersprüchlichen, zerbrechlichen Empfindungen wirklich memorabel findet. Vordergründig: Im sensiblen, mehr für die Phantasie als die Realität begabten Jungen setzen die Lehrjahre der Männlichkeit ein. Wie japanische Papierblumen im Wasser aufgehen, so erblüht das wenige, das nach außen hin vorfällt, in den Bebilderungen seines Innenlebens.
Immerhin, nicht unerwartet für adoleszente Biographien, sind es zwei Frauen, die die Ferien der Kindheit beenden. An den Brüsten des Hausmädchens Emilia erwacht seine Sexualität. Die Mutter seines kindlichen Freundes ist die schöne, große Frau. Um ihre Anerkennung als Mann buhlt er, indem er sich ihr als väterlicher Beschützer ihres Sohnes empfiehlt. Beide Male schmerzlich unerfüllte Anfänge, quittiert mit einem "Gefühl der Ohnmacht" (wie sie auch aus dem Namen des Autors spricht), Endzeitstimmung einer Jugend, die wie der leuchtende, phosphoreszierende Dampfer am Ende ins Dunkle abdreht.
Spätestens dann beginnt die Geschichte hintergründig zu changieren. Der Autor musste in der Zeit, in der sie spielt, vor den Rassengesetzen Mussolinis ins Exil fliehen; schloss sich der Partisanenbewegung an; seine Buchhandlung in Mailand wurde zu einem antifaschistischen Treffpunkt. Nichts davon hier. Oder doch? Ist es nur perspektivisch im Blick des Jungen verschlüsselt? Das große Schiff, das am Ende - der dreißiger Jahre - in der Nacht verschwindet? Das gestürzte Pferd, auf der ersten Seite, dem der Fuhrmann seine Peitsche in die Seite stößt und ihm nur die Wahl zwischen Gehorsam und Schlachthaus lässt? Es ist, als wollte die Erzählung einen doppelten Boden öffnen. Die Huldigung an die sommerlich schimmernde Wasseroberfläche des Sees: sie wirkt wie die heimliche Abwehr eines Sogs in die Tiefe, dem Musils Zögling Törleß erlag. Und der Blues, den ein leichter Wind übers Wasser trägt und das Spielzeugsegelboot des Jungen bewegt: Es ist, als ob die Zeit den Atem anhielte vor dem großen Sturm.
Im Nachwissen von 1958 verkehren sich also Bilder von einst. Ihre Pastellfarben sind Erinnerung, ihre Unruhe aber - damals - unentfaltete Vorzeichen. Sagen wir so: Der fragile Charme dieser Geschichte ist deshalb nicht unbedingt etwas für Kraftmenschen.
- Alberto Vigevani: "Sommer am See". Eine Erzählung. Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2007. 152 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine andere Nachkriegsliteratur: In Alberto Vigevanis elegischer Erzählung aus den fünfziger Jahren wird die Unruhe der Pubertät zum Vorzeichen kommender Stürme.
Von Winfried Wehle
1956, mitten im literarischen Wiederaufbau der Nachkriegszeit, erschien in Italien eine provozierend unzeitgemäße Erzählung. Es war, als wollte sie sich gegen alle Trümmerliteratur, Existentialismen, das Absurde Theater, den Nouveau Roman oder den Neorealismus verwehren. Einen "Sommer am See" beschwört ihr Titel, als ob nichts gewesen wäre. Und der Autor, Alberto Vigevani (1918 bis 1999), dem Bücher die Welt bedeuteten, setzt mit den ersten Worten nach: "Giacomo schien es, als hätte . . ." Unmittelbar, übergangslos dunkelt ein Irrealis alles Reale, Gegenwärtige ab. In Stufen der Nostalgie geht es dann hinab, einmal dorthin, wo sich die "Lichtfenster" der Erinnerung öffnen. Abgewiesen werden zunächst die Traumata der fünfziger Jahre. Sie machen der Vorkriegszeit der Dreißiger Platz. Doch auch nur, um ihre Vergangenheitswelt abermals zurückzunehmen auf das intime Format einer Adoleszenzgeschichte, ja nicht einmal das: auf wenige, ereignisarme Wochen eines Sommers am Comer See.
Dieser Zauber einer vergilbten Miniatur sollte alle Schatten vertreiben, die über der Gegenwart des Autors lagen? Die Geschichte wird eher noch fragwürdiger, dass er Giacomo, den Halbwüchsigen, das Glück schöner Gefühle suchen lässt. Doch was in sentimentalem Kitsch enden könnte, nimmt eine gegenteilige Wendung: Bewegender als alle Bedürfnisse nach Einssein (mit sich und anderen), Harmonie und Innigkeit ist, dass selbst ihre flüchtigen Momente nur pathogen zu haben sind. Die Ferienerfahrungen eines Pubertierenden umkreisen die unausgesprochene Frage, was die Erinnerung an den schwankenden, widersprüchlichen, zerbrechlichen Empfindungen wirklich memorabel findet. Vordergründig: Im sensiblen, mehr für die Phantasie als die Realität begabten Jungen setzen die Lehrjahre der Männlichkeit ein. Wie japanische Papierblumen im Wasser aufgehen, so erblüht das wenige, das nach außen hin vorfällt, in den Bebilderungen seines Innenlebens.
Immerhin, nicht unerwartet für adoleszente Biographien, sind es zwei Frauen, die die Ferien der Kindheit beenden. An den Brüsten des Hausmädchens Emilia erwacht seine Sexualität. Die Mutter seines kindlichen Freundes ist die schöne, große Frau. Um ihre Anerkennung als Mann buhlt er, indem er sich ihr als väterlicher Beschützer ihres Sohnes empfiehlt. Beide Male schmerzlich unerfüllte Anfänge, quittiert mit einem "Gefühl der Ohnmacht" (wie sie auch aus dem Namen des Autors spricht), Endzeitstimmung einer Jugend, die wie der leuchtende, phosphoreszierende Dampfer am Ende ins Dunkle abdreht.
Spätestens dann beginnt die Geschichte hintergründig zu changieren. Der Autor musste in der Zeit, in der sie spielt, vor den Rassengesetzen Mussolinis ins Exil fliehen; schloss sich der Partisanenbewegung an; seine Buchhandlung in Mailand wurde zu einem antifaschistischen Treffpunkt. Nichts davon hier. Oder doch? Ist es nur perspektivisch im Blick des Jungen verschlüsselt? Das große Schiff, das am Ende - der dreißiger Jahre - in der Nacht verschwindet? Das gestürzte Pferd, auf der ersten Seite, dem der Fuhrmann seine Peitsche in die Seite stößt und ihm nur die Wahl zwischen Gehorsam und Schlachthaus lässt? Es ist, als wollte die Erzählung einen doppelten Boden öffnen. Die Huldigung an die sommerlich schimmernde Wasseroberfläche des Sees: sie wirkt wie die heimliche Abwehr eines Sogs in die Tiefe, dem Musils Zögling Törleß erlag. Und der Blues, den ein leichter Wind übers Wasser trägt und das Spielzeugsegelboot des Jungen bewegt: Es ist, als ob die Zeit den Atem anhielte vor dem großen Sturm.
Im Nachwissen von 1958 verkehren sich also Bilder von einst. Ihre Pastellfarben sind Erinnerung, ihre Unruhe aber - damals - unentfaltete Vorzeichen. Sagen wir so: Der fragile Charme dieser Geschichte ist deshalb nicht unbedingt etwas für Kraftmenschen.
- Alberto Vigevani: "Sommer am See". Eine Erzählung. Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2007. 152 S., br., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Sichtlich angetan zeigt sich Maike Albath von der "schwebend-elegischen Geschichte" Alberto Vigevanis "Sommer am See", in der sich das Leben des jungen Protagonisten Giacomo während eines Sommers am Comersee grundlegend verändern soll. "Wie absichtslos hingehaucht" wirke diese Erzählung, bei der sich die Gemütsschwankungen des pubertierenden Jungen atmosphärisch in den Launen der verschiedenen Sommermonate widerspiegeln. Auch die anderen Figuren, wie zum Beispiel die Bedienstete Elvira, in die sich Giacomo verliebt und die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, habe der Autor mit "gelungener Plastizität" gezeichnet. "Eine Pubertätsgeschichte, trunken wie ein großer Sommer", freut sich die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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