Sommer auf dem Eis ist eine Geschichte voller Spuren und Muster. In kunstvollen und mutwilligen Schlingen und Bögen spürt sie den unerschöpflichen Figuren nach, die das Leben bildet. Und denen, die spitzfindig und tapfer an ihnen arbeiten: dem Liebespaar auf der Decke, der Kesselwärterin in Bitterfeld, dem Pionier der kommunistischen Partei Italiens, den Passagieren des großen weißen Schiffes, das urplötzlich durch das Ufergestrüpp des Schlammteiches 4 bricht. Bilder staffeln sich in die Tiefe, formieren sich zu fantastischem Geschehen, zu Träumen und Alpträumen, in denen Biographien zusammenlaufen, Lebenszeitstücke. Angela Krauß führt uns die Perspektive auf die Welt und deren schräge Lage als Gleichgewichtsübung vor, als Spiegelung des Schwebens und Tanzens. Virtuos, sehr komplex. Und mit sehr viel Humor. Die ganze Balance hat das Leichtgewicht der Komik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Augenblick nach Käferart
Angela Krauß erzählt von einem Sommer auf dem Eis / Von Heinrich Detering
Das Leben", sagt der Volksmund, "ist Ansichtssache." Zu Beginn und kurz vor dem Ende der neuen Erzählung von Angela Krauß, in der diese Weisheit zitiert wird, laufen kleine Käfer einen Grashalm entlang und blicken, nach Käferart, mit ihren Facettenaugen in entgegengesetzte Richtungen. Überscharf und ungerührt sehen sie so unterschiedliche Bilder zur gleichen Zeit, in diesem Fall auf der einen Seite und in einiger Entfernung die Industrieanlagen von Bitterfeld, auf der anderen und in größter Nähe zwei Körper, ausgestreckt auf einer Decke auf der Spätsommerwiese. Der eine Körper gehört einem schlafenden Mann, der andere der Erzählerin, die einsam wach und übrigens arbeitslos ist, nun ihrerseits den Käfern zusieht und dabei ihren Gedanken nachhängt. Detailrealistisch gemalt wie die Insekten in altmeisterlichen Stilleben, sind die Kerbtiere eine Allegorie dieser Erzählung, die selbst zugleich die kleinste und die ganz große Welt wahrnimmt, simultan aus unterschiedlichen Perspektiven blickt und aus winzigen Facetten, aus Beobachtungen und Erinnerungen ein Panorama zusammensetzt, das horizontweit ist, verblüffend tiefenscharf und scheinbar ohne jede Bedeutung.
Was sich diesem Blick zeigt, sind zunächst Fragmente einer Kindheit und Jugend im sozialistischen Staat, Ansichten aus der Wende und aus der Arbeitslosigkeit, ein Bilderbuch aus Bitterfeld. Zu sehen sind beispielsweise, in unterschiedlichster Größenordnung und immer gleicher Bildschärfe, Episoden der pubertär-romantischen Liebe zu einem jungen Pionier der Kommunistischen Partei Italiens und die unvergeßliche "Wäscheschleuder, Baujahr 78 VEB Haushaltsgeräte", die Pestizidfässer auf der "Deponie Hertha", ein Geisterschiff im Schlammteich, die Warteschlange im Arbeitsamt und die mit einem zart glitzernden Schweißfilm überzogenen Knöchel des sonnenbadenden Geliebten. Demselben Blick, der in die Ferne der Landschaften und Erinnerungen schweift, präsentieren sich "davor seine zehn Zehen und meine zehn Zehen. Wie ein sehr kleiner Zaun."
Wie man sieht, passiert hier fast gar nichts. Trotzdem ist am Ende eine Menge geschehen, und dann liest sich selbst die Ereignislosigkeit wie eine unerhörte Begebenheit. "In der Zeit der Beschäftigung rang ich mit dem Alltag", lautet eine Randbemerkung, "jetzt ringe ich mit dem Leben, das liegt einige Gewichtsklassen höher." Das Erzählen ist dieses Ringen. Mehr noch als um die Bilder selbst geht es dabei um deren artistische Verknüpfung; und nichts Geringeres soll hier bewiesen werden als die Freiheit der Kunst gegenüber dem Leben. So abstrakt das aussieht, so leibhaftig hat die Erzählerin es erfahren. Als Heranwachsende hat sie hingebungsvoll den Eislauf betrieben, er ist ihr der Inbegriff von Leichtigkeit und Schönheit geblieben; und jede Reflexion über seine Bewegungsgesetze, über Schwerpunktverlagerung, Spiel- und Schwungfuß redet zugleich von der Kunst des Erzählens, die hier geübt wird. Deren Grundregel ist die Vermeidung jeder geraden Linie, ihre Grundfigur der Bogen, wie denn ja bekanntlich auch der Eisläufer "Goethe mit Vorliebe Bogen fuhr". Erinnerung und Artistik vereinen sich in dieser Choreographie zu einem "inneren Monolog als Tanz auf dem Eis", einer Virtuosenübung, in der es schließlich keine überflüssige Bewegung und kein leeres Motiv mehr gibt und die völlig zweckfrei erscheint.
Es ist ein manchmal schwindliges Vergnügen, diesen genau kalkulierten Sprüngen zu folgen, dem Hin- und Herübergleiten zwischen Erinnerung und Phantasie. Das Risiko, mit soviel Artistik ins Manieristische auszurutschen, ist erheblich; daß der Tanz dennoch nicht den Bodenkontakt verliert, verdankt sich einer technischen Präzision, die so kühl ist wie das Eis in der Sommerhitze. Die letzte Kunstanstrengung und zugleich die Pointe des Kunststücks besteht darin, daß die kompliziertesten Bewegungen auf engstem Raum ausgeführt wurden. Die Zeit, in der das Erzählen sich abspulte, umfaßte am Ende nur wenige Sekunden. Erst in diesem letzten Augenblick geben die Bögen und Pirouetten zu erkennen, worauf sie hinauswollen; auf den Wunschtraum, das Vergehen der Zeit anzuhalten. Auch das wird anschaubar in einem realistischen Bitterfelder Bild.
Die Zeit, in der die Erzählerin ihre Gedankenspiele spielt, ist vom ersten Kapitel an auch "die Stunde der Kesselwärterin", die an den Industrieanlagen am Rand der Sommerwiese hantiert und nicht weiß, daß sie von den Käfern und der Erzählerin beobachtet wird. Die Erzählung setzt ein, als die Kesselwärterin bei ihrem Routinerundgang auf der Gitterbrücke zwischen den Kesseln begreift, daß eine Detonation bevorsteht. Am Ende dieses ersten Kapitels hat sie, wie die auf einmal allwissende Erzählerin notiert, "noch drei Sekunden" zu leben. Am Ende des letzten Kapitels ist es "noch eine" - und dabei bleibt es; in diesem Augenblick ist die Geschichte zu Ende, der Film angehalten, der Blick arretiert. Solange die Erzählung dauert, findet die Katastrophe nicht statt. Das Leben ist Ansichtssache, der Tod nicht.
Im vollendeten Eislauf, hat die Erzählerin kurz vorher notiert, "dehnte sich die Zeit in dem Maß, das sie selbst bestimmte", warum also nicht auch in der Erzählung? Deshalb kondensiert sie im kürzesten Moment eine Lebens- und Epochengeschichte, deshalb läßt sie die Kesselwärterin in Ewigkeit auf den finalen Knall warten, und deshalb gilt der letzte Augenblick wieder dem buchstäblich Nächstliegenden; und das sind, wie man sich erinnern wird, "die Füße meines Liebsten". Das war's, mehr geschieht nicht; und es ist eine unerhörte Begebenheit.
Angela Krauß: "Sommer auf dem Eis". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 104 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angela Krauß erzählt von einem Sommer auf dem Eis / Von Heinrich Detering
Das Leben", sagt der Volksmund, "ist Ansichtssache." Zu Beginn und kurz vor dem Ende der neuen Erzählung von Angela Krauß, in der diese Weisheit zitiert wird, laufen kleine Käfer einen Grashalm entlang und blicken, nach Käferart, mit ihren Facettenaugen in entgegengesetzte Richtungen. Überscharf und ungerührt sehen sie so unterschiedliche Bilder zur gleichen Zeit, in diesem Fall auf der einen Seite und in einiger Entfernung die Industrieanlagen von Bitterfeld, auf der anderen und in größter Nähe zwei Körper, ausgestreckt auf einer Decke auf der Spätsommerwiese. Der eine Körper gehört einem schlafenden Mann, der andere der Erzählerin, die einsam wach und übrigens arbeitslos ist, nun ihrerseits den Käfern zusieht und dabei ihren Gedanken nachhängt. Detailrealistisch gemalt wie die Insekten in altmeisterlichen Stilleben, sind die Kerbtiere eine Allegorie dieser Erzählung, die selbst zugleich die kleinste und die ganz große Welt wahrnimmt, simultan aus unterschiedlichen Perspektiven blickt und aus winzigen Facetten, aus Beobachtungen und Erinnerungen ein Panorama zusammensetzt, das horizontweit ist, verblüffend tiefenscharf und scheinbar ohne jede Bedeutung.
Was sich diesem Blick zeigt, sind zunächst Fragmente einer Kindheit und Jugend im sozialistischen Staat, Ansichten aus der Wende und aus der Arbeitslosigkeit, ein Bilderbuch aus Bitterfeld. Zu sehen sind beispielsweise, in unterschiedlichster Größenordnung und immer gleicher Bildschärfe, Episoden der pubertär-romantischen Liebe zu einem jungen Pionier der Kommunistischen Partei Italiens und die unvergeßliche "Wäscheschleuder, Baujahr 78 VEB Haushaltsgeräte", die Pestizidfässer auf der "Deponie Hertha", ein Geisterschiff im Schlammteich, die Warteschlange im Arbeitsamt und die mit einem zart glitzernden Schweißfilm überzogenen Knöchel des sonnenbadenden Geliebten. Demselben Blick, der in die Ferne der Landschaften und Erinnerungen schweift, präsentieren sich "davor seine zehn Zehen und meine zehn Zehen. Wie ein sehr kleiner Zaun."
Wie man sieht, passiert hier fast gar nichts. Trotzdem ist am Ende eine Menge geschehen, und dann liest sich selbst die Ereignislosigkeit wie eine unerhörte Begebenheit. "In der Zeit der Beschäftigung rang ich mit dem Alltag", lautet eine Randbemerkung, "jetzt ringe ich mit dem Leben, das liegt einige Gewichtsklassen höher." Das Erzählen ist dieses Ringen. Mehr noch als um die Bilder selbst geht es dabei um deren artistische Verknüpfung; und nichts Geringeres soll hier bewiesen werden als die Freiheit der Kunst gegenüber dem Leben. So abstrakt das aussieht, so leibhaftig hat die Erzählerin es erfahren. Als Heranwachsende hat sie hingebungsvoll den Eislauf betrieben, er ist ihr der Inbegriff von Leichtigkeit und Schönheit geblieben; und jede Reflexion über seine Bewegungsgesetze, über Schwerpunktverlagerung, Spiel- und Schwungfuß redet zugleich von der Kunst des Erzählens, die hier geübt wird. Deren Grundregel ist die Vermeidung jeder geraden Linie, ihre Grundfigur der Bogen, wie denn ja bekanntlich auch der Eisläufer "Goethe mit Vorliebe Bogen fuhr". Erinnerung und Artistik vereinen sich in dieser Choreographie zu einem "inneren Monolog als Tanz auf dem Eis", einer Virtuosenübung, in der es schließlich keine überflüssige Bewegung und kein leeres Motiv mehr gibt und die völlig zweckfrei erscheint.
Es ist ein manchmal schwindliges Vergnügen, diesen genau kalkulierten Sprüngen zu folgen, dem Hin- und Herübergleiten zwischen Erinnerung und Phantasie. Das Risiko, mit soviel Artistik ins Manieristische auszurutschen, ist erheblich; daß der Tanz dennoch nicht den Bodenkontakt verliert, verdankt sich einer technischen Präzision, die so kühl ist wie das Eis in der Sommerhitze. Die letzte Kunstanstrengung und zugleich die Pointe des Kunststücks besteht darin, daß die kompliziertesten Bewegungen auf engstem Raum ausgeführt wurden. Die Zeit, in der das Erzählen sich abspulte, umfaßte am Ende nur wenige Sekunden. Erst in diesem letzten Augenblick geben die Bögen und Pirouetten zu erkennen, worauf sie hinauswollen; auf den Wunschtraum, das Vergehen der Zeit anzuhalten. Auch das wird anschaubar in einem realistischen Bitterfelder Bild.
Die Zeit, in der die Erzählerin ihre Gedankenspiele spielt, ist vom ersten Kapitel an auch "die Stunde der Kesselwärterin", die an den Industrieanlagen am Rand der Sommerwiese hantiert und nicht weiß, daß sie von den Käfern und der Erzählerin beobachtet wird. Die Erzählung setzt ein, als die Kesselwärterin bei ihrem Routinerundgang auf der Gitterbrücke zwischen den Kesseln begreift, daß eine Detonation bevorsteht. Am Ende dieses ersten Kapitels hat sie, wie die auf einmal allwissende Erzählerin notiert, "noch drei Sekunden" zu leben. Am Ende des letzten Kapitels ist es "noch eine" - und dabei bleibt es; in diesem Augenblick ist die Geschichte zu Ende, der Film angehalten, der Blick arretiert. Solange die Erzählung dauert, findet die Katastrophe nicht statt. Das Leben ist Ansichtssache, der Tod nicht.
Im vollendeten Eislauf, hat die Erzählerin kurz vorher notiert, "dehnte sich die Zeit in dem Maß, das sie selbst bestimmte", warum also nicht auch in der Erzählung? Deshalb kondensiert sie im kürzesten Moment eine Lebens- und Epochengeschichte, deshalb läßt sie die Kesselwärterin in Ewigkeit auf den finalen Knall warten, und deshalb gilt der letzte Augenblick wieder dem buchstäblich Nächstliegenden; und das sind, wie man sich erinnern wird, "die Füße meines Liebsten". Das war's, mehr geschieht nicht; und es ist eine unerhörte Begebenheit.
Angela Krauß: "Sommer auf dem Eis". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 104 S., geb., 28,- DM.
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