Üdülö, eine Feriensiedlung am Fluss, wird alljährlich zum Zufluchtsort vor der unerträglichen Hitze. Es ist der Ort der Sehnsucht, der Linderung verspricht und Träume von Liebe und Freiheit weckt. Für jeden hat Üdülö eine andere Bedeutung; als jedoch eine Frau aus der Fremde sich dort ein neues Leben aufbauen will, kommt Verwirrung in den Wellenschlag des Ewiggleichen. Denn das Fremde hat im ewig gleichen Rhythmus der Jahreszeiten keine Chance, es wird von der nächsten jahreszeitlichen Flut hinweggeschwemmt.
In ihrem virtuosen ersten Roman Sommerfrische nimmt Esther Kinsky den Leser mit auf eine Reise, die ihn verändert zurücklässt. Ihre zarte und reiche Sprache wird zum Auge und zur Haut des Lesers, der die drückende Hitze, die Trägheit des Dorfs zu sehen und zu fühlen glaubt.
In ihrem virtuosen ersten Roman Sommerfrische nimmt Esther Kinsky den Leser mit auf eine Reise, die ihn verändert zurücklässt. Ihre zarte und reiche Sprache wird zum Auge und zur Haut des Lesers, der die drückende Hitze, die Trägheit des Dorfs zu sehen und zu fühlen glaubt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2009Kein Urlaubsgefühl in der Ferienkolonie
Am Ende der Welt trägt man Minirock und Glitzerschlappen. Dort ist es heiß, sonnig und desolat: Esther Kinskys bestechender Debütroman "Sommerfrische".
Von Judith Leister
Mit einer Sommerfrische verbindet man selige Vorkriegszeiten, Thomas Mann und Kurt Tucholsky, offene Limousinen und Picknickkörbe auf der grünen Wiese, Neckereien und Nacktbaden an der Nordsee. Doch "Sommerfrische", der erste Roman der Übersetzerin Esther Kinsky, Jahrgang 1956, erzählt nicht von den großen Ferien großer Bürger, sondern von einer abgelegenen postkommunistischen Ferienkolonie, deren Bewohnern und Gästen alle Unbeschwertheit längst abhandengekommen ist. Dort in Südostungarn, direkt an der rumänischen Grenze, werden Menschen und Schicksale angeschwemmt wie das Treibgut, das der wilde Fluss jedes Frühjahr an den Ufern zurücklässt. Im Jahr der Erzählung glüht der Sommer. Das Leben stockt in der flirrenden Hitze. Auf der Straße verwesen überfahrene Hunde, am Fluss vermehren sich die Ratten.
Der Roman handelt von dem, was man im Westen gern eine "Gesellschaft im Übergang" nennt - auch wenn das Ende des tiefgreifenden Wandels und ein Beginn des Wohlstands, wie hier, nicht in Sicht sind. Die Verhältnisse sind prekär, die Menschen auf das Elementare geworfen. Die in der "Großen Spielzeugzeit" noch prosperierende Zuckerfabrik wird bis zum Abriss von einem einsamen Sicherheitsmann bewacht. Für die "Agrocompany" arbeiten die Menschen nun zum Hungerlohn auf dem Stück Land, das sie früher selbst besaßen. Die Hoffnungen hängen an halbseidenen Fäden: dem Kneipenjob, dem Ausweiden von Unfallautos, dem Fernfahrer-Strich und zur Not auch der Vermietung des Kinderzimmers an Durchreisende. Der Kleinkapitalist unter den Siedlern ist der Kneipier und Schrotthändler Lacibácsi. Mit einem dicken Geldbündel in der Hinterntasche wartet er ungeduldig auf die Lieferung seines "Swimmingpull", in dem sich dann seine Frau räkeln und den Lastwagen auf der Autobahnbrücke zuwinken wird. Zu den vielen Gestrandeten gehört Antal, ein Gelegenheitsarbeiter, der für die "Neue Frau" - eine aus dem Nichts aufgetauchte Ausländerin - sein Heim samt Ehefrau, halbwüchsigem Sohn und vier Pfauen im Stich lässt.
Gerade hat die Saison begonnen, und die altbekannten Feriengäste bringen etwas Bewegung in die namenlose Feriensiedlung am Fluss. Auf die Vorhut der flirtfreudigen "Kozakjungs" folgen wie immer ihre "weichen, breiten, weißen Frauen" namens "Zsusza oder Marika" in Miniröcken und Glitzerschlappen. Man versammelt sich zum Ritual am Ufer. "Familien kamen, bildeten einen geschlossenen Ring um ihre Kühlkoffer und Kleingrills, Rauch brenzelte, Woistdasfleisch, hieristdasfleisch hieß es allenthalben, gibdasfleisch, lassdasfleischnoch, Kinder weinten, lachten, balgten sich . . ." Auch Lacibácsi ist mitunter dabei und beobachtet just an dem Tag, als eine Frau am Hitzschlag stirbt, eine Gruppe sorglos herumtollender Jugendlicher, die ihm merkwürdig unzeitgemäß vorkommen. "Sie benahmen sich, wie man sich vielleicht vor dreißig Jahren hier benommen hätte, und gingen, lachten, rauchten und ruderten, wie man es vor dreißig Jahren tat, sie waren eine dreißigjahrealte Unschuldsblase." Selbst das Urlaubsgefühl ist nicht mehr das, was es war.
Lakonisch schildert Esther Kinsky das Anti-Idyll am Ende der Welt, die Brüche in den Lebensläufen, ohne Vor-Wende-Zeiten zu idealisieren und Nach-Wende-Zeiten zu verteufeln. Doch auch die Anläufe zum kleinen Glück scheitern. Antal wird mit seiner "Neuen Frau" nur eine weitere Tragödie erleben. Ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht ist, verschwindet die seltsam eigenschaftslose Person. Der wilde Fluss, der in diesem Ausnahmejahr einmal keine Leichen oder Leichenteile angeschwemmt hat, scheint doch noch ein Menschenopfer zu fordern - und das ewige Gleichmaß der Natur ist wiederhergestellt. Übermächtiger Verfall, Verwesung und Untergang sind bei Esther Kinsky aufgehoben in wunderbaren Wortschöpfungen und Naturschilderungen. In ihrem schönen, schmalen Roman verleiht die Autorin den Dingen und Worten eine Aura, die man eher in Gedichten vermutet. Wie sonst könnten ein paar heruntergekommene Pfauen zum Symbol für die unstillbare Sehnsucht nach Glück und Schönheit werden?
Esther Kinsky: "Sommerfrische". Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 128 S., geb., 16,80 [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Ende der Welt trägt man Minirock und Glitzerschlappen. Dort ist es heiß, sonnig und desolat: Esther Kinskys bestechender Debütroman "Sommerfrische".
Von Judith Leister
Mit einer Sommerfrische verbindet man selige Vorkriegszeiten, Thomas Mann und Kurt Tucholsky, offene Limousinen und Picknickkörbe auf der grünen Wiese, Neckereien und Nacktbaden an der Nordsee. Doch "Sommerfrische", der erste Roman der Übersetzerin Esther Kinsky, Jahrgang 1956, erzählt nicht von den großen Ferien großer Bürger, sondern von einer abgelegenen postkommunistischen Ferienkolonie, deren Bewohnern und Gästen alle Unbeschwertheit längst abhandengekommen ist. Dort in Südostungarn, direkt an der rumänischen Grenze, werden Menschen und Schicksale angeschwemmt wie das Treibgut, das der wilde Fluss jedes Frühjahr an den Ufern zurücklässt. Im Jahr der Erzählung glüht der Sommer. Das Leben stockt in der flirrenden Hitze. Auf der Straße verwesen überfahrene Hunde, am Fluss vermehren sich die Ratten.
Der Roman handelt von dem, was man im Westen gern eine "Gesellschaft im Übergang" nennt - auch wenn das Ende des tiefgreifenden Wandels und ein Beginn des Wohlstands, wie hier, nicht in Sicht sind. Die Verhältnisse sind prekär, die Menschen auf das Elementare geworfen. Die in der "Großen Spielzeugzeit" noch prosperierende Zuckerfabrik wird bis zum Abriss von einem einsamen Sicherheitsmann bewacht. Für die "Agrocompany" arbeiten die Menschen nun zum Hungerlohn auf dem Stück Land, das sie früher selbst besaßen. Die Hoffnungen hängen an halbseidenen Fäden: dem Kneipenjob, dem Ausweiden von Unfallautos, dem Fernfahrer-Strich und zur Not auch der Vermietung des Kinderzimmers an Durchreisende. Der Kleinkapitalist unter den Siedlern ist der Kneipier und Schrotthändler Lacibácsi. Mit einem dicken Geldbündel in der Hinterntasche wartet er ungeduldig auf die Lieferung seines "Swimmingpull", in dem sich dann seine Frau räkeln und den Lastwagen auf der Autobahnbrücke zuwinken wird. Zu den vielen Gestrandeten gehört Antal, ein Gelegenheitsarbeiter, der für die "Neue Frau" - eine aus dem Nichts aufgetauchte Ausländerin - sein Heim samt Ehefrau, halbwüchsigem Sohn und vier Pfauen im Stich lässt.
Gerade hat die Saison begonnen, und die altbekannten Feriengäste bringen etwas Bewegung in die namenlose Feriensiedlung am Fluss. Auf die Vorhut der flirtfreudigen "Kozakjungs" folgen wie immer ihre "weichen, breiten, weißen Frauen" namens "Zsusza oder Marika" in Miniröcken und Glitzerschlappen. Man versammelt sich zum Ritual am Ufer. "Familien kamen, bildeten einen geschlossenen Ring um ihre Kühlkoffer und Kleingrills, Rauch brenzelte, Woistdasfleisch, hieristdasfleisch hieß es allenthalben, gibdasfleisch, lassdasfleischnoch, Kinder weinten, lachten, balgten sich . . ." Auch Lacibácsi ist mitunter dabei und beobachtet just an dem Tag, als eine Frau am Hitzschlag stirbt, eine Gruppe sorglos herumtollender Jugendlicher, die ihm merkwürdig unzeitgemäß vorkommen. "Sie benahmen sich, wie man sich vielleicht vor dreißig Jahren hier benommen hätte, und gingen, lachten, rauchten und ruderten, wie man es vor dreißig Jahren tat, sie waren eine dreißigjahrealte Unschuldsblase." Selbst das Urlaubsgefühl ist nicht mehr das, was es war.
Lakonisch schildert Esther Kinsky das Anti-Idyll am Ende der Welt, die Brüche in den Lebensläufen, ohne Vor-Wende-Zeiten zu idealisieren und Nach-Wende-Zeiten zu verteufeln. Doch auch die Anläufe zum kleinen Glück scheitern. Antal wird mit seiner "Neuen Frau" nur eine weitere Tragödie erleben. Ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht ist, verschwindet die seltsam eigenschaftslose Person. Der wilde Fluss, der in diesem Ausnahmejahr einmal keine Leichen oder Leichenteile angeschwemmt hat, scheint doch noch ein Menschenopfer zu fordern - und das ewige Gleichmaß der Natur ist wiederhergestellt. Übermächtiger Verfall, Verwesung und Untergang sind bei Esther Kinsky aufgehoben in wunderbaren Wortschöpfungen und Naturschilderungen. In ihrem schönen, schmalen Roman verleiht die Autorin den Dingen und Worten eine Aura, die man eher in Gedichten vermutet. Wie sonst könnten ein paar heruntergekommene Pfauen zum Symbol für die unstillbare Sehnsucht nach Glück und Schönheit werden?
Esther Kinsky: "Sommerfrische". Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009. 128 S., geb., 16,80 [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wem es wie Esther Kinsky gelingt, die durch Weite, Trockenheit und Gleichförmigkeit geprägte südostungarische Tiefebene derart brillant in Prosa zu fassen, dessen literarische Zukunft ist gesichert, davon ist Jörg Plath überzeugt. In ihrem mit dem täuschend idyllischen Titel "Sommerfrische" versehenen Roman passiert außer der stetigen Zunahme der Temperaturen nicht viel, und wenn doch etwas passiert, dann wird es in "gemächlicher" Sprache bar jeder Larmoyanz und ohne zu werten dargeboten, stellt der Rezensent fest. Erzählt wird von der Feriensiedlung Üdülö und einer namenlosen Vorstadt, es geht um Gauner, Einfeiermädchen und um Ehemänner, die Frau und Kinder wegen einer Fremden verlassenen. Aber all das wird gleichmütig dargeboten und kaum je tritt ein Protagonist mal als Subjekt mit eigener Stimme in Erscheinung, lässt Plath wissen. Das nährt in ihm zwar den Verdacht, dass Kinsky vielleicht kein Händchen für klar konturierte Figuren und Dialoge hat. Doch findet er dafür die Bildhaftigkeit und dichte Atmosphäre ihrer Landschaftsbeschreibung derart brillant, dass sie für diese Schwäche vollkommen entschädigen, wie er meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wer die Bücher von Esther Kinsky liest, erfährt von dem Glück, sich ins Unsichere zu begeben und sich von ihrer Sprache, in einem leichten Wogen, halten zu lassen.« - Wiebke Poromkba, Chamisso Magazin, März 2016 Wiebke Poromkba Chamisso Magazin 20160301