Die Rede ist von einer bäuerlichen Kultur, die es nicht mehr gibt. Sie hatte ihre Rolle verloren. Diese Kultur ging in Österreich zu Ende, als Anfang der 1960er Jahre die Bergbauern aufhörten Getreide anzubauen.
Roland Girtler kennt die bäuerliche Kultur aus eigenem Erleben. Er wuchs als Kind eines Landarztehepaares in den oberösterreichischen Bergen auf. In den Berichten der Bäuerinnen und Bauern, der ehemaligen Sennerinnen und Mägde, der alten Briefträger, Gendarmen, Wegmacher und dem Kerkermeister des Bezirksgerichts zeigt sich noch einmal die Dorfkultur an ihrem Ende, so wie sie vom Leben rund um die bäuerliche Landwirtschaft geprägt war. Alte Techniken, die beispielsweise bei der Heuernte, beim Dreschen, beim Umgang mit Pferden zum Einsatz kamen, hier werden sie wieder lebendig.
Roland Girtler kennt die bäuerliche Kultur aus eigenem Erleben. Er wuchs als Kind eines Landarztehepaares in den oberösterreichischen Bergen auf. In den Berichten der Bäuerinnen und Bauern, der ehemaligen Sennerinnen und Mägde, der alten Briefträger, Gendarmen, Wegmacher und dem Kerkermeister des Bezirksgerichts zeigt sich noch einmal die Dorfkultur an ihrem Ende, so wie sie vom Leben rund um die bäuerliche Landwirtschaft geprägt war. Alte Techniken, die beispielsweise bei der Heuernte, beim Dreschen, beim Umgang mit Pferden zum Einsatz kamen, hier werden sie wieder lebendig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1996Auf der Alm, da gibt's kein Rind
Die bäuerliche Kultur ist auch nicht mehr, was sie einmal sein sollte, aber Nostalgie und Phantasie machen ihr Beine
Wo Landwirte für das Stillegen von Anbauflächen bezahlt werden und Kühe nur mehr auf die Alm gefahren werden, damit Tagestouristen das Event eines "traditionellen" Almabtriebs genießen können, wird man sich der Einsicht kaum verschließen können, daß das traditionelle Bauernleben der Vergangenheit angehört. Wer auch nur oberflächlich die Winkelzüge um Rinder- und sonstigen Wahnsinn in der europäischen Agrarpolitik mitverfolgt, mit denen Politiker ihre Kompetenz immer wieder aufs neue unter Beweis stellen, wird in der Regel wenig Lust verspüren, sich tiefer mit diesem Lebensbereich auseinanderzusetzen. Dem Thema bäuerliche Kultur gebricht es in der akademischen Welt gewissermaßen an Charme, wie die Karriere der mit ihm verbundenen Assoziationen vom Ort des Aberglaubens und der Rückständigkeit über die atavistische Mystik von Blut und Boden bis zur bürokratischen Banalität der Quotenregelung nahelegt.
Nicht nur als Steuerzahler Betroffene werden dies mit Sicherheit anders sehen, und dazu rechnet sich auch Roland Girtler, der als Sproß eines Landarztehepaares eine glückliche Jugend im niederösterreichischen Gebirgsdorf Spital am Phyrn verbracht hat. Das Enfant terrible der Wiener Soziologie, bekannt durch Feldstudien in anderen randständigen Milieus der modernen Gesellschaft, unternimmt in seinem neuesten Werk über den "Untergang der bäuerlichen Kultur" gewissermaßen eine Reise in seine eigene Kindheit. Girtler pflegt die gewohnte Attitüde der Provokation, indem er sich quasi als lustigen Tirolerbub stilisiert, der ohne formalisierte Fragebögen, dafür aber ausgerüstet mit Dackel und dem festen Vorsatz, durch exzessiven Alkoholkonsum den Gesprächen im Wirtshaus Tiefe zu verleihen, seine Studie beginnt. Das Verfahren ist allerdings nicht unbekannt und wird in der Ethnologie als teilnehmende Beobachtung bezeichnet.
Freilich vermögen die Ergebnisse der Untersuchung nicht ganz zu überzeugen. Zwar gelingt Girtler durch die Zusammenstellung zahlreicher persönlicher Zeugnisse ein facettenreiches Gemälde des Unterganges der bäuerlichen Kultur in seinem Untersuchungsgebiet, doch stehen die subjektiven Erfahrungsfragmente in geradezu groteskem Mißverhältnis zu dem Anspruch des Autors, den "weltgeschichtlich höchst bedeutsamen" Untergang einer Kultur zu beschreiben, die "seit der Jungsteinzeit" in Mitteleuropa das gesellschaftliche Leben bestimmt habe. So mögen im betreffenden Dorf zurückgelassene Militärfahrzeuge bei der Motorisierung tatsächlich eine ebenso wichtige Rolle gespielt haben wie Kriegsflüchtlinge bei der Auflockerung des traditionellen Milieus, doch handelt es sich dabei doch nur um lokale Sonderfälle eines sehr viel umfassenderen Vorgangs, der am Ende über dem Schwelgen in Kindheitserinnerungen aus dem Blickfeld geraten ist. Das Bild eines "früher stolzen, fast autarken Bauern", der jetzt in Abhängigkeit von Verbänden, Banken und Politikern geraten sei, abstrahiert so stark von Abhängigkeiten in der alteuropäischen Gesellschaft, daß man diesen Abgesang auf eine Kultur der Armut, der Arbeit und des einfachen Lebens tatsächlich als Provokation empfinden könnte.
Während Girtler in seiner naiven Diktion "das alte Dorf" gekennzeichnet sieht durch "Handwerker, brave Bauern, eifrig plaudernde Geschäftsleute und anderes Volk", sprengen die Kasseler Sozialhistorikerinnen Heide Wunder und Christina Vanja diese ländliche Idylle auf, als Sprengstoff dient die von der feministischen Geschichtsschreibung bevorzugte Kategorie "Geschlecht". Die zwölf Aufsätze ihres Sammelbandes, die den Bereichen Arbeit, Öffentlichkeit und Fremdheit auf dem Land zugeordnet werden, zeigen Möglichkeiten und Grenzen dieser Perspektive. Sie trägt zur Erkundung einiger ländlicher Lebensbereiche bei, insbesondere der Stellung von Amtsfrauen (Christina Vanja), Landhebammen (Ulrike Gleixner) oder Vagantinnen (Helfried Valentinitsch), während man sich die Probleme radikaler Pietistinnen (Barbara Hoffmann) oder Gouvernanten (Irene Hardach-Pinke) schon eher vorstellen konnte, das gesunde Selbstbewußtsein von Arbeiterinnen in der ländlichen Textilindustrie (Arno Fitz) aus der Protoindustrialisierungsforschung bekannt war.
Die These, daß Geschlechterrollen soziale Konstrukte seien und immer wieder neu eingeübt werden müßten, wird an einigen Beispielen exemplifiziert, etwa anhand des "Weibergerichts" zu Breitenbach, bei dem einige Frauen gegen den Willen der Obrigkeit in Eigenregie ein Rügegericht zur Wiederherstellung der traditionellen Geschlechterrollen veranstalteten. Angesichts der biologischen Tatsache der Schwangerschaft, die auch in der Frühen Neuzeit eine biographische Zäsur darstellte und voreheliche Sexualität erst sanktionierbar machte, räumen freilich noch so viele Einzelbeispiele Zweifel nicht aus.
Liselott Enders führt in ihrem umfassenden Beitrag über das "Selbstverständnis frühneuzeitlicher Frauen in der Mark Brandenburg" aus, wie Frauen aus ihrer Position in der bäuerlichen Arbeitsteilung ihre Würde bezogen. Weniger zu einem Kampf der Geschlechter als zu deren Zusammenarbeit passen auch die Befunde, daß Protestaktionen von Frauen gegen die Obrigkeit mit ihren Ehegatten abgestimmt waren (Werner Troßbach) und Ehefrauen im Zweifelsfall aus gutem Grund eher zu ihren Männern als zu ihren "Schwestern" hielten (Rainer Walz).
Die Motive für eine Beschäftigung mit dem Leben auf dem Lande können sehr unterschiedlich sein. Die Geschichtswissenschaft hat dem Umstand Rechnung zu tragen, daß auch die europäische Gesellschaft über weite Strecken ländlich geprägt war. Die Resistenz bäuerlicher Gesellschaften in der Dritten Welt gegen euroamerikanische Entwicklungsmodelle hat den Blick für die Eigengesetzlichkeiten solcher Gesellschaften geschärft. Methodisch korrespondiert damit ein Perspektivenwechsel, der neben der Politik der Regierungen und anderer Herrschaftsträger die Handlungen und Motive der verschiedenen Schichten der ländlichen Gesellschaft in den Blick nimmt, wie dies bereits bei der Erforschung bäuerlicher Protestbewegungen und der historischen Kriminalitätsforschung getan worden ist und im vorliegenden Band zum Beispiel von Silke Göttsch anhand eines volkskundlichen Beitrages über Heiratsbräuche vorgeführt wird.
Möglicherweise wird es mit einer solch differenzierten Fragestellung zu einer generellen Neubewertung des ländlichen Bereichs kommen. Dazu mögen Phantasien über Klassen- und Geschlechterkämpfe ebenso beitragen wie Sehnsüchte nach einer glücklichen Kindheit auf dem Bauernhof. WOLFGANG BEHRINGER
Roland Girtler: "Sommergetreide". Vom Untergang der bäuerlichen Kultur. Böhlau Verlag, Wien 1996. 385 S., Abb., br., 39,80 DM.
Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.): "Weiber, Menscher, Frauenzimmer". Frauen in der ländlichen Gesellschaft, 1500-1800. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996. 297 S., br., 39,- DM.
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Die bäuerliche Kultur ist auch nicht mehr, was sie einmal sein sollte, aber Nostalgie und Phantasie machen ihr Beine
Wo Landwirte für das Stillegen von Anbauflächen bezahlt werden und Kühe nur mehr auf die Alm gefahren werden, damit Tagestouristen das Event eines "traditionellen" Almabtriebs genießen können, wird man sich der Einsicht kaum verschließen können, daß das traditionelle Bauernleben der Vergangenheit angehört. Wer auch nur oberflächlich die Winkelzüge um Rinder- und sonstigen Wahnsinn in der europäischen Agrarpolitik mitverfolgt, mit denen Politiker ihre Kompetenz immer wieder aufs neue unter Beweis stellen, wird in der Regel wenig Lust verspüren, sich tiefer mit diesem Lebensbereich auseinanderzusetzen. Dem Thema bäuerliche Kultur gebricht es in der akademischen Welt gewissermaßen an Charme, wie die Karriere der mit ihm verbundenen Assoziationen vom Ort des Aberglaubens und der Rückständigkeit über die atavistische Mystik von Blut und Boden bis zur bürokratischen Banalität der Quotenregelung nahelegt.
Nicht nur als Steuerzahler Betroffene werden dies mit Sicherheit anders sehen, und dazu rechnet sich auch Roland Girtler, der als Sproß eines Landarztehepaares eine glückliche Jugend im niederösterreichischen Gebirgsdorf Spital am Phyrn verbracht hat. Das Enfant terrible der Wiener Soziologie, bekannt durch Feldstudien in anderen randständigen Milieus der modernen Gesellschaft, unternimmt in seinem neuesten Werk über den "Untergang der bäuerlichen Kultur" gewissermaßen eine Reise in seine eigene Kindheit. Girtler pflegt die gewohnte Attitüde der Provokation, indem er sich quasi als lustigen Tirolerbub stilisiert, der ohne formalisierte Fragebögen, dafür aber ausgerüstet mit Dackel und dem festen Vorsatz, durch exzessiven Alkoholkonsum den Gesprächen im Wirtshaus Tiefe zu verleihen, seine Studie beginnt. Das Verfahren ist allerdings nicht unbekannt und wird in der Ethnologie als teilnehmende Beobachtung bezeichnet.
Freilich vermögen die Ergebnisse der Untersuchung nicht ganz zu überzeugen. Zwar gelingt Girtler durch die Zusammenstellung zahlreicher persönlicher Zeugnisse ein facettenreiches Gemälde des Unterganges der bäuerlichen Kultur in seinem Untersuchungsgebiet, doch stehen die subjektiven Erfahrungsfragmente in geradezu groteskem Mißverhältnis zu dem Anspruch des Autors, den "weltgeschichtlich höchst bedeutsamen" Untergang einer Kultur zu beschreiben, die "seit der Jungsteinzeit" in Mitteleuropa das gesellschaftliche Leben bestimmt habe. So mögen im betreffenden Dorf zurückgelassene Militärfahrzeuge bei der Motorisierung tatsächlich eine ebenso wichtige Rolle gespielt haben wie Kriegsflüchtlinge bei der Auflockerung des traditionellen Milieus, doch handelt es sich dabei doch nur um lokale Sonderfälle eines sehr viel umfassenderen Vorgangs, der am Ende über dem Schwelgen in Kindheitserinnerungen aus dem Blickfeld geraten ist. Das Bild eines "früher stolzen, fast autarken Bauern", der jetzt in Abhängigkeit von Verbänden, Banken und Politikern geraten sei, abstrahiert so stark von Abhängigkeiten in der alteuropäischen Gesellschaft, daß man diesen Abgesang auf eine Kultur der Armut, der Arbeit und des einfachen Lebens tatsächlich als Provokation empfinden könnte.
Während Girtler in seiner naiven Diktion "das alte Dorf" gekennzeichnet sieht durch "Handwerker, brave Bauern, eifrig plaudernde Geschäftsleute und anderes Volk", sprengen die Kasseler Sozialhistorikerinnen Heide Wunder und Christina Vanja diese ländliche Idylle auf, als Sprengstoff dient die von der feministischen Geschichtsschreibung bevorzugte Kategorie "Geschlecht". Die zwölf Aufsätze ihres Sammelbandes, die den Bereichen Arbeit, Öffentlichkeit und Fremdheit auf dem Land zugeordnet werden, zeigen Möglichkeiten und Grenzen dieser Perspektive. Sie trägt zur Erkundung einiger ländlicher Lebensbereiche bei, insbesondere der Stellung von Amtsfrauen (Christina Vanja), Landhebammen (Ulrike Gleixner) oder Vagantinnen (Helfried Valentinitsch), während man sich die Probleme radikaler Pietistinnen (Barbara Hoffmann) oder Gouvernanten (Irene Hardach-Pinke) schon eher vorstellen konnte, das gesunde Selbstbewußtsein von Arbeiterinnen in der ländlichen Textilindustrie (Arno Fitz) aus der Protoindustrialisierungsforschung bekannt war.
Die These, daß Geschlechterrollen soziale Konstrukte seien und immer wieder neu eingeübt werden müßten, wird an einigen Beispielen exemplifiziert, etwa anhand des "Weibergerichts" zu Breitenbach, bei dem einige Frauen gegen den Willen der Obrigkeit in Eigenregie ein Rügegericht zur Wiederherstellung der traditionellen Geschlechterrollen veranstalteten. Angesichts der biologischen Tatsache der Schwangerschaft, die auch in der Frühen Neuzeit eine biographische Zäsur darstellte und voreheliche Sexualität erst sanktionierbar machte, räumen freilich noch so viele Einzelbeispiele Zweifel nicht aus.
Liselott Enders führt in ihrem umfassenden Beitrag über das "Selbstverständnis frühneuzeitlicher Frauen in der Mark Brandenburg" aus, wie Frauen aus ihrer Position in der bäuerlichen Arbeitsteilung ihre Würde bezogen. Weniger zu einem Kampf der Geschlechter als zu deren Zusammenarbeit passen auch die Befunde, daß Protestaktionen von Frauen gegen die Obrigkeit mit ihren Ehegatten abgestimmt waren (Werner Troßbach) und Ehefrauen im Zweifelsfall aus gutem Grund eher zu ihren Männern als zu ihren "Schwestern" hielten (Rainer Walz).
Die Motive für eine Beschäftigung mit dem Leben auf dem Lande können sehr unterschiedlich sein. Die Geschichtswissenschaft hat dem Umstand Rechnung zu tragen, daß auch die europäische Gesellschaft über weite Strecken ländlich geprägt war. Die Resistenz bäuerlicher Gesellschaften in der Dritten Welt gegen euroamerikanische Entwicklungsmodelle hat den Blick für die Eigengesetzlichkeiten solcher Gesellschaften geschärft. Methodisch korrespondiert damit ein Perspektivenwechsel, der neben der Politik der Regierungen und anderer Herrschaftsträger die Handlungen und Motive der verschiedenen Schichten der ländlichen Gesellschaft in den Blick nimmt, wie dies bereits bei der Erforschung bäuerlicher Protestbewegungen und der historischen Kriminalitätsforschung getan worden ist und im vorliegenden Band zum Beispiel von Silke Göttsch anhand eines volkskundlichen Beitrages über Heiratsbräuche vorgeführt wird.
Möglicherweise wird es mit einer solch differenzierten Fragestellung zu einer generellen Neubewertung des ländlichen Bereichs kommen. Dazu mögen Phantasien über Klassen- und Geschlechterkämpfe ebenso beitragen wie Sehnsüchte nach einer glücklichen Kindheit auf dem Bauernhof. WOLFGANG BEHRINGER
Roland Girtler: "Sommergetreide". Vom Untergang der bäuerlichen Kultur. Böhlau Verlag, Wien 1996. 385 S., Abb., br., 39,80 DM.
Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.): "Weiber, Menscher, Frauenzimmer". Frauen in der ländlichen Gesellschaft, 1500-1800. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996. 297 S., br., 39,- DM.
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