Zwei Frauen, die auf einer Insel ein Spiel spielen, das "sich so ein Leben vorstellen" heißt. Ein Premierenfest, das ein unerwartetes, frühmorgendliches Ende in der Wohnung des Regisseurs findet. Ein Mann, der in seinem Sommerhaus an der Oder Besuch erhält und an eine Vergangenheit erinnert wird, die er nicht mehr kennen will. Judith Hermanns Figuren inszenieren sich ihr Leben, Sie lassen sich nur passiv oder als Zuschauer, nur spielerisch in "Lebensläufe" ziehen. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um dieselben Themen: um Liebe und Vergänglichkeit und die Angst vor dem Ungelebten, dem verhinderten Leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.1998Die Traumwandlerin
Judith Hermanns erster Erzählungsband · Von Florian Illies
"Der Tag, an dem dann doch noch einmal etwas geschieht, ist der Freitag vor Ostern." Schon nach diesen wenigen Worten betritt der Leser die Erzählwelt Judith Hermanns, eine Welt, in der alles bereits geschehen und jedes Leben schon einmal gelebt ist. Selbst das Neue weckt nur noch Erinnerungen: "Manchmal erinnert mich der Winter an etwas", so beginnt eine andere Erzählung aus Judith Hermanns Debütband "Sommerhaus, später".
Alle neun Erzählungen dieses Bandes sind Geschichten über das Leben nach dem Ende der Geschichte. Bei den jugendlichen Helden Judith Hermanns ist die Gnade der späten Geburt längst in Ungnade gefallen. Sie leben im Hier und Jetzt, meist in Berlin, sie lassen sich treiben und haben vor allem gelernt, beredt zu schweigen. Diese Geschichten beschreiben die Unmöglichkeit von Kommunikation: zwischen Mann und Frau, das vor allem, aber auch zwischen Enkel und Großmutter, zwischen Achtundsechzigern und ihren Kindern. Hier denkt jeder, kein anderer könne ihn je verstehen. Deshalb wird so viel gemeinsam geschwiegen, so viel gemeinsam geraucht. Man wartet auf das Später, ohne zu wissen, ob sich das überhaupt lohnt.
Es gibt nur einen einzigen unter all den vagen Helden dieses Buches, der voller Überzeugung von sich sagen kann: "Im Grunde interessiere ich mich nicht für mich selbst." Deswegen muß er auch regelmäßig zum Therapeuten. Einmal ist die Rede vom "seltsamen Zustand der Emotionslosigkeit". Dieser Zustand beherrscht den gesamten Band. Denn auch die Autorin nähert sich ihren Figuren auf diese Weise. Judith Hermann beschreibt sie nicht. Auch braucht sie keine aktuellen Popmusiktitel oder falsch herum aufgesetzten Baseballmützen, um sie zu Zeitgenossen zu machen. Der Leser erfährt kaum einmal die Haarfarbe, Berufe gibt es nicht, auch keine Familie, Freunde sind hängengebliebene Zufälle. Und doch stehen alle plastisch vor uns, allein durch ihr Handeln und Zaudern, ihr Sagen und Verstummen, das Hermann so beiläufig und doch insistierend beschreibt.
Kann man sagen, um was es geht in ihren Erzählungen? Es geht um die russische Vergangenheit der Urgroßmutter der Ich-Erzählerin, es geht um eine Premierenfeier in Berlin, um Hängematten-Gespräche auf einer Insel in der Südsee, um die Beziehung zwischen einem kleinen Videokünstler und seiner großen Verehrerin, um Fahrten zu einem verfallenen Herrenhaus vor den Toren Berlins. Es geht also um nichts in diesen Erzählungen beziehungsweise: um alles.
Zwischen diesen beiden Extremen balancieren alle Erzählungen auf einem dünnen Seil. Es gehört zur Formsicherheit der 1970 geborenen, im Westen aufgewachsenen, nun im Osten Berlins lebenden Autorin, daß man die Netze nicht sieht, über denen sie ihre waghalsigen Manöver ausführt. Man sieht nur, wie sie immer wieder, traumwandlerisch sicher, am Ende des Seils ankommt.
Obwohl sie so viele Regeln der Sprachpfleger verletzt, obwohl sie ihre Figuren immer nur etwas "sagen" läßt, als gäbe es kein anderes Verbum des Sprechens, obwohl sie zwischen den Zeiten springt wie im Fiebertraum. Obwohl - oder vielleicht doch eher: weil sie all dies tut, entfaltet ihre klare Sprache einen tiefen Sog. Vor allem auch dank ihrer lapidaren Dialoge, die oft über lange Strecken die Handlung sanft vorantreiben. Es gibt in diesen Erzählungen, in denen es so sehr um die Sehnsucht nach Liebe und Emotionen geht, im Grunde keine echte Liebesszene, kaum einmal einen Kuß - die Wörter selbst haben in Judith Hermanns Prosa alle Sinnlichkeit auf sich gezogen.
"Sie ließ das Zimmer zurücktauchen ins Dämmerlicht und legte sich müde auf eines der Sofas, sie sagte ,Blomesche Wildnis, Blomesche Wildnis', es klang wie ein Kinderlied, es klang wie ein Schlaflied, es klang schön." So heißt es in dem Stück "Rote Korallen". Alle Figuren in den Erzählungen verbindet solch eine seltsame, erschöpfte Traurigkeit, die allen immerfort auf ihren Lidern zu lasten scheint, so daß die Geschehnisse allesamt wirken wie geträumt, wie hingeblinzelt.
Es ist, als sei eine ewige "blaue Stunde" aufgebrochen, von der die alte Großmutter in "Ende von Etwas" raunt, wenn der Fernseher läuft und die Straßenzüge draußen vorm Fenster ganz langsam ihre Konturen verlieren. Es ist meist dämmrig in diesen Geschichten, hier herrscht ein Licht wie tief unter Wasser, so daß kaum etwas zu erkennen ist, aber hören kann man immer etwas, und zwar Satzmelodien, die herübersummen wie aus längst versunkenen Tagen.
"Rote Korallen" ist (neben "Hurrikan" und "Sommerhaus, später") die stärkste Erzählung des Bandes. Es ist fast schon irritierend, wie souverän Judith Hermann hier die hundert Jahre zurückliegenden Erlebnisse der Urgroßmutter in Rußland mit der eigenen Liebesgeschichte mit dem Urenkel des Dieners der Urgroßmutter auf fünfzehn Seiten kurzschließt. Von der Urgroßmutter stammt auch das rote Korallenarmband, das die Erzählerin schließlich zerreißt - und damit auch das Band zu ihrem Geliebten. Nun endlich, so heißt es dann, könne sie alles vergessen, die Urgroßmutter in Rußland, die Korallen, den Geliebten. Der Leser jedoch vergißt dies alles nicht mehr.
Zwei Erzählungen fallen etwas aus dem Rahmen. "Sonja" - leider haben alle Texte solch kantige Titel, die eher wie Arbeitstitel wirken - handelt von einem sonderbaren, somnambulen Mädchen, das sich in das Leben anderer einschleicht und sich dann wie eine streunende Katze entzieht, die gestreichelt werden soll. Judith Hermann versucht diese Geschichte aus einer männlichen Ich-Perspektive zu erzählen, doch dieses Überraschungmoment wirkt allzu inszeniert.
Auch in "Hunter-Tompson-Musik" sieht man stellenweise das Netz durchscheinen, das die Erzählerin der Geschichte unterlegt hat. Es ist in diesem Fall ein soziales Netz, allerdings keine Hängematte, sondern ein lähmendes Gefängnis: Der alte, zu Tode erschöpfte Mann in einer New Yorker Absteige, der unfähig ist, seine Sympathie für die hübsche, junge Nachbarin auszudrücken, wird ein klein bißchen zuviel vom Odium des Sozialkritischen umweht: "Er ist Begegnungen, Gespräche nicht mehr gewohnt; er sagt ,Entschuldigung', kaum daß er angesprochen wird."
Vielleicht sollte diese Erzählung auch einfach zu sehr etwas Bestimmtes sein: Eine Geschichte über jenen 1937 geborenen amerikanischen Reporter Hunter S. Tompson, der bei manchen seiner Kollegen auch hierzulande und noch immer wie ein Halbgott verehrt wird. So darf man diese Erzählung auch als Abschiedsgruß der ehemaligen Journalistin Judith Hermann an ihre frühere Branche lesen. Und die Kommunikationsunfähigkeit des "Hunter Tompson" als Analyse der Sprachlosigkeit eines permanent sprechenden Genres. Mit "Sommerhaus, später" hat Hermann nun die Seiten gewechselt. Als Erzählerin hat sie auf Anhieb eine eigene ungehörte Sprache gefunden, die gelassen ist und kühn zugleich.
Judith Hermann: "Sommerhaus, später". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 188 S., br., 20,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Judith Hermanns erster Erzählungsband · Von Florian Illies
"Der Tag, an dem dann doch noch einmal etwas geschieht, ist der Freitag vor Ostern." Schon nach diesen wenigen Worten betritt der Leser die Erzählwelt Judith Hermanns, eine Welt, in der alles bereits geschehen und jedes Leben schon einmal gelebt ist. Selbst das Neue weckt nur noch Erinnerungen: "Manchmal erinnert mich der Winter an etwas", so beginnt eine andere Erzählung aus Judith Hermanns Debütband "Sommerhaus, später".
Alle neun Erzählungen dieses Bandes sind Geschichten über das Leben nach dem Ende der Geschichte. Bei den jugendlichen Helden Judith Hermanns ist die Gnade der späten Geburt längst in Ungnade gefallen. Sie leben im Hier und Jetzt, meist in Berlin, sie lassen sich treiben und haben vor allem gelernt, beredt zu schweigen. Diese Geschichten beschreiben die Unmöglichkeit von Kommunikation: zwischen Mann und Frau, das vor allem, aber auch zwischen Enkel und Großmutter, zwischen Achtundsechzigern und ihren Kindern. Hier denkt jeder, kein anderer könne ihn je verstehen. Deshalb wird so viel gemeinsam geschwiegen, so viel gemeinsam geraucht. Man wartet auf das Später, ohne zu wissen, ob sich das überhaupt lohnt.
Es gibt nur einen einzigen unter all den vagen Helden dieses Buches, der voller Überzeugung von sich sagen kann: "Im Grunde interessiere ich mich nicht für mich selbst." Deswegen muß er auch regelmäßig zum Therapeuten. Einmal ist die Rede vom "seltsamen Zustand der Emotionslosigkeit". Dieser Zustand beherrscht den gesamten Band. Denn auch die Autorin nähert sich ihren Figuren auf diese Weise. Judith Hermann beschreibt sie nicht. Auch braucht sie keine aktuellen Popmusiktitel oder falsch herum aufgesetzten Baseballmützen, um sie zu Zeitgenossen zu machen. Der Leser erfährt kaum einmal die Haarfarbe, Berufe gibt es nicht, auch keine Familie, Freunde sind hängengebliebene Zufälle. Und doch stehen alle plastisch vor uns, allein durch ihr Handeln und Zaudern, ihr Sagen und Verstummen, das Hermann so beiläufig und doch insistierend beschreibt.
Kann man sagen, um was es geht in ihren Erzählungen? Es geht um die russische Vergangenheit der Urgroßmutter der Ich-Erzählerin, es geht um eine Premierenfeier in Berlin, um Hängematten-Gespräche auf einer Insel in der Südsee, um die Beziehung zwischen einem kleinen Videokünstler und seiner großen Verehrerin, um Fahrten zu einem verfallenen Herrenhaus vor den Toren Berlins. Es geht also um nichts in diesen Erzählungen beziehungsweise: um alles.
Zwischen diesen beiden Extremen balancieren alle Erzählungen auf einem dünnen Seil. Es gehört zur Formsicherheit der 1970 geborenen, im Westen aufgewachsenen, nun im Osten Berlins lebenden Autorin, daß man die Netze nicht sieht, über denen sie ihre waghalsigen Manöver ausführt. Man sieht nur, wie sie immer wieder, traumwandlerisch sicher, am Ende des Seils ankommt.
Obwohl sie so viele Regeln der Sprachpfleger verletzt, obwohl sie ihre Figuren immer nur etwas "sagen" läßt, als gäbe es kein anderes Verbum des Sprechens, obwohl sie zwischen den Zeiten springt wie im Fiebertraum. Obwohl - oder vielleicht doch eher: weil sie all dies tut, entfaltet ihre klare Sprache einen tiefen Sog. Vor allem auch dank ihrer lapidaren Dialoge, die oft über lange Strecken die Handlung sanft vorantreiben. Es gibt in diesen Erzählungen, in denen es so sehr um die Sehnsucht nach Liebe und Emotionen geht, im Grunde keine echte Liebesszene, kaum einmal einen Kuß - die Wörter selbst haben in Judith Hermanns Prosa alle Sinnlichkeit auf sich gezogen.
"Sie ließ das Zimmer zurücktauchen ins Dämmerlicht und legte sich müde auf eines der Sofas, sie sagte ,Blomesche Wildnis, Blomesche Wildnis', es klang wie ein Kinderlied, es klang wie ein Schlaflied, es klang schön." So heißt es in dem Stück "Rote Korallen". Alle Figuren in den Erzählungen verbindet solch eine seltsame, erschöpfte Traurigkeit, die allen immerfort auf ihren Lidern zu lasten scheint, so daß die Geschehnisse allesamt wirken wie geträumt, wie hingeblinzelt.
Es ist, als sei eine ewige "blaue Stunde" aufgebrochen, von der die alte Großmutter in "Ende von Etwas" raunt, wenn der Fernseher läuft und die Straßenzüge draußen vorm Fenster ganz langsam ihre Konturen verlieren. Es ist meist dämmrig in diesen Geschichten, hier herrscht ein Licht wie tief unter Wasser, so daß kaum etwas zu erkennen ist, aber hören kann man immer etwas, und zwar Satzmelodien, die herübersummen wie aus längst versunkenen Tagen.
"Rote Korallen" ist (neben "Hurrikan" und "Sommerhaus, später") die stärkste Erzählung des Bandes. Es ist fast schon irritierend, wie souverän Judith Hermann hier die hundert Jahre zurückliegenden Erlebnisse der Urgroßmutter in Rußland mit der eigenen Liebesgeschichte mit dem Urenkel des Dieners der Urgroßmutter auf fünfzehn Seiten kurzschließt. Von der Urgroßmutter stammt auch das rote Korallenarmband, das die Erzählerin schließlich zerreißt - und damit auch das Band zu ihrem Geliebten. Nun endlich, so heißt es dann, könne sie alles vergessen, die Urgroßmutter in Rußland, die Korallen, den Geliebten. Der Leser jedoch vergißt dies alles nicht mehr.
Zwei Erzählungen fallen etwas aus dem Rahmen. "Sonja" - leider haben alle Texte solch kantige Titel, die eher wie Arbeitstitel wirken - handelt von einem sonderbaren, somnambulen Mädchen, das sich in das Leben anderer einschleicht und sich dann wie eine streunende Katze entzieht, die gestreichelt werden soll. Judith Hermann versucht diese Geschichte aus einer männlichen Ich-Perspektive zu erzählen, doch dieses Überraschungmoment wirkt allzu inszeniert.
Auch in "Hunter-Tompson-Musik" sieht man stellenweise das Netz durchscheinen, das die Erzählerin der Geschichte unterlegt hat. Es ist in diesem Fall ein soziales Netz, allerdings keine Hängematte, sondern ein lähmendes Gefängnis: Der alte, zu Tode erschöpfte Mann in einer New Yorker Absteige, der unfähig ist, seine Sympathie für die hübsche, junge Nachbarin auszudrücken, wird ein klein bißchen zuviel vom Odium des Sozialkritischen umweht: "Er ist Begegnungen, Gespräche nicht mehr gewohnt; er sagt ,Entschuldigung', kaum daß er angesprochen wird."
Vielleicht sollte diese Erzählung auch einfach zu sehr etwas Bestimmtes sein: Eine Geschichte über jenen 1937 geborenen amerikanischen Reporter Hunter S. Tompson, der bei manchen seiner Kollegen auch hierzulande und noch immer wie ein Halbgott verehrt wird. So darf man diese Erzählung auch als Abschiedsgruß der ehemaligen Journalistin Judith Hermann an ihre frühere Branche lesen. Und die Kommunikationsunfähigkeit des "Hunter Tompson" als Analyse der Sprachlosigkeit eines permanent sprechenden Genres. Mit "Sommerhaus, später" hat Hermann nun die Seiten gewechselt. Als Erzählerin hat sie auf Anhieb eine eigene ungehörte Sprache gefunden, die gelassen ist und kühn zugleich.
Judith Hermann: "Sommerhaus, später". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 188 S., br., 20,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Kein Wort zuviel, keins am falschen Platz" NZZ