Einer der letzten großen Romane aus dem Alterswerk Aharon Appelfelds. Über eine Reise voller Schrecken und Abenteuer, über Freundschaft und Nähe und darüber, wie man allem Dunklen trotzt, so mitreißend wie eindringlich erzählt. Ein Junge, ein alter Mann - eine Lebensreise.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Kunst der symbolischen Sprache: Aharon Appelfelds später Roman "Sommernächte"
Die Blütezeit des Bildungsromans fällt mit den frühen Jahren des Bürgertums zusammen. Auf das Ende der feudalen Ordnung folgte die Industrialisierung Europas, und das akademisch gebildete Bürgertum war der neue Stand, der sie vorantrieb. Der Fortschrittsgedanke des neunzehnten Jahrhunderts schien die schönsten Früchte zu tragen, aber dann ist es anders gekommen, und in der Katastrophe zweier Weltkriege zerbrach Europas Optimismus.
Ihre dunkelste Stunde war die Schoa. Hitlers Schergen setzten den Wahnsinn einer mörderischen Ideologie in die Tat um, und es ist erstaunlich: Für einige Überlebende dieser Zeit - den Autor Elie Wiesel zum Beispiel oder den Psychiater Viktor Frankl - wurden ihre Erfahrungen in den Todeslagern zu einer Schule der Humanität, deren Lehre sie nach dem Krieg in viel beachteten Werken weitergaben.
Auch der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld (1932 bis 2018) war ein Überlebender der Schoa und gehört mit fast fünfzig Romanen darüber zu den großen Humanisten, denen die Jahre des Todes zu einer Lehrzeit des Lebens geworden sind. Bei ihm ist das fast wörtlich zu nehmen: Er war acht Jahre alt, als rumänische Antisemiten seine Mutter ermordeten. Mit seinem Vater kam er in ein Arbeitslager, dort wurden sie getrennt, und es gelang ihm zu fliehen. Er gab sich als ukrainischer Junge aus, arbeitete als Tagelöhner auf Bauernhöfen und lebte in den Wäldern, später schloss er sich der Roten Armee als Küchenjunge an.
In den Jahren, die andere Kinder als ihre Schulzeit erleben, lernte er, der Barbarei zu entkommen. Diese Erfahrung hat ihn in einem mehrfachen Sinne des Wortes "gebildet", das bezeugen viele seiner Romane. Dem Versuch der Barbaren, den Menschen ihre Menschlichkeit zu nehmen, setzt er in seinem Werk über diese Schreckenszeit einen Prozess der Menschwerdung entgegen.
Nach dem Krieg kam er nach Palästina und wurde bald darauf zum hebräischen Schriftsteller, aber der Umerziehung zum Israeli, die man hier für ihn bereithielt, verweigerte er sich. Der junge Staat war der Zukunft zugewandt und suchte die Wunden der Vergangenheit lange zu verdrängen, doch diesem Programm konnte Appelfeld sich nicht fügen. Die Erlebnisse seiner Kindheit waren die Quelle seiner Kreativität, und aus ihr schöpfte er unbeirrt von aller zionistischen Ideologie sechs Jahrzehnte lang ein ständig wachsendes Romanwerk.
Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Czernowitz, das damals zwar nicht mehr zu Österreich gehörte, aber immer noch eine Hochburg der deutschen Kultur war. In der Schule lernte Appelfeld Ukrainisch, mit den Großeltern sprach er jiddisch, zu Hause aber sprach man deutsch. Seine Eltern gehörten zur jüdischen Oberschicht der Stadt, die die Werte der Aufklärung verinnerlicht hatten, und in den Romanen, die er später geschrieben hat, ist dieses Erbe deutlich zu spüren.
Wo von der Barbarei erzählt wird, lässt sich das Gedankengut der Aufklärung freilich nicht mehr ungebrochen vermitteln. Deshalb hat Appelfeld eine besondere Sprache entwickelt, die sich wie seine persönliche Handschrift durch alle Romane zieht. Es ist eine untergegangene Welt, die er beschreibt, sie besteht nur noch in seiner von niemandem mehr zu bezeugenden Erinnerung und kann daher auch mit niemandem geteilt werden. Um sie zugänglich zu machen, verwandelt Appelfeld sie in Symbole, die der Leser wiedererkennen und in seine eigene Bildwelt übersetzen kann, weil sie wie alle Symbole der Aufklärung von universaler Bedeutung sind.
Ein Beispiel ist die Reise. Im späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde sie als sogenannte "Bildungsreise" zu einem festen Bestandteil bürgerlicher Erziehung. Auch bei Aharon Appelfeld gehen viele seiner Protagonisten auf eine "Reise", und auf den ersten Blick mag der Vergleich ironisch anmuten, aber in Appelfelds Poetik hat er seine tiefe Begründung.
"Sommernächte", einer seiner letzten Romane, erschien 2015 im hebräischen Original und kommt jetzt anlässlich seines neunzigsten Geburtstags in schöner Übersetzung von Gundula Schiffer auf Deutsch heraus. Michael, ein jüdischer Junge von elf Jahren, zieht mit Sergej, einem alten blinden Mann, durch die ukrainische Landschaft. Meist übernachten sie unter Bäumen oder in Ruinen, die ihnen bei stürmischem Wetter Schutz bieten.
Auf seiner Reise heißt der Junge nicht mehr Michael, sondern Janek. Der alte Sergej ist ein Christ, und Janek gibt sich als dessen Enkel aus, denn niemand soll wissen, dass er ein Jude ist. Bis zu seiner Erblindung hatte Sergej im Holzwarenlager von Michaels Vater gearbeitet, danach brach er zu seinen Wanderungen auf. Später ging das Holzwarenlager bankrott, und Michaels Vater verarmte. Der Krieg brach aus, die Eltern hatten Sergej immer geschätzt und baten ihn, den Jungen mit sich zu nehmen, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die den Juden jetzt drohten.
Ein jüdischer Junge gibt sich als ukrainisches Kind aus: Das autobiographische Element der Erzählung ist unverkennbar, zugleich aber auch die kunstvolle Weise, auf die die Motive des Schreckens mit einer anderen Botschaft enggeführt werden. Das Geschäft des Vaters sei "bankrott" gegangen, lesen wir, doch wie es dazu gekommen ist, erfahren wir nicht. Appelfeld verwendet eine Sprache der Andeutungen, die der Leser vervollständigen muss, und die mythologische Tiefe seiner Bilder weist über die dunkle Zeit hinaus, in der diese "Reise" stattfindet.
Das Kind und der Blinde ergänzen sich. "Janek erzählt Großvater, was seine Augen sehen", heißt es zunächst, aber es ist Sergej, der das Gesehene deutet. "Jeder Tag ist ein Wunder", sagt er zu dem Jungen, "jeder Tag zeigt uns neue Dinge. Bloß dass die Augen, von Unbedeutendem abgelenkt, es nicht sehen."
Sergej spricht von den Wundern des Lebens, denn er ist ein zutiefst gläubiger Christ. In jungen Jahren war er ein berühmter Kommandant in der Armee gewesen, und das jüdische Kollektivgedächtnis verknüpft ukrainische Kosaken mit den Pogromen. Aber Sergej ist kein Antisemit, im Gegenteil: Er ist ein Soldat in den Heerscharen Gottes, immer hält er Janek dazu an, sein Judentum nicht zu vergessen.
Es ist eine Bildungsreise der besonderen Art, von der wir hier lesen. Fragt man sie, wer sie seien, so bezeichnen sich die beiden als Landstreicher, und auch das ist eines der symbolischen Worte des Romans. Oft erweckt es den Argwohn der Dorfbewohner und eine Feindseligkeit, wie ihr der "wandernde Jude" schon seit Jahrtausenden ausgesetzt ist.
Doch der alte Kommandant steht dem Kind zur Seite. Janek erleichtert Sergej seine letzte Lebenszeit, und Sergej bereitet ihn auf die Zukunft vor. Er gibt ihm eine militärische Ausbildung, lehrt ihn, für die Schwachen einzutreten und für das Gute zu kämpfen.
In einem kurzen, ergreifenden Schlussbild verheimlicht Appelfeld uns nicht, wie schwer die Tage sind, die auf den Jungen noch zukommen werden. Aber als Janek, der nun wieder Michael heißen darf, am Ende des Krieges allein in sein Leben hinaustreten muss, ist er vorbereitet. JAKOB HESSING
Aharon Appelfeld: "Sommernächte". Roman.
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 224 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kunst der symbolischen Sprache: Aharon Appelfelds später Roman "Sommernächte"
Die Blütezeit des Bildungsromans fällt mit den frühen Jahren des Bürgertums zusammen. Auf das Ende der feudalen Ordnung folgte die Industrialisierung Europas, und das akademisch gebildete Bürgertum war der neue Stand, der sie vorantrieb. Der Fortschrittsgedanke des neunzehnten Jahrhunderts schien die schönsten Früchte zu tragen, aber dann ist es anders gekommen, und in der Katastrophe zweier Weltkriege zerbrach Europas Optimismus.
Ihre dunkelste Stunde war die Schoa. Hitlers Schergen setzten den Wahnsinn einer mörderischen Ideologie in die Tat um, und es ist erstaunlich: Für einige Überlebende dieser Zeit - den Autor Elie Wiesel zum Beispiel oder den Psychiater Viktor Frankl - wurden ihre Erfahrungen in den Todeslagern zu einer Schule der Humanität, deren Lehre sie nach dem Krieg in viel beachteten Werken weitergaben.
Auch der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld (1932 bis 2018) war ein Überlebender der Schoa und gehört mit fast fünfzig Romanen darüber zu den großen Humanisten, denen die Jahre des Todes zu einer Lehrzeit des Lebens geworden sind. Bei ihm ist das fast wörtlich zu nehmen: Er war acht Jahre alt, als rumänische Antisemiten seine Mutter ermordeten. Mit seinem Vater kam er in ein Arbeitslager, dort wurden sie getrennt, und es gelang ihm zu fliehen. Er gab sich als ukrainischer Junge aus, arbeitete als Tagelöhner auf Bauernhöfen und lebte in den Wäldern, später schloss er sich der Roten Armee als Küchenjunge an.
In den Jahren, die andere Kinder als ihre Schulzeit erleben, lernte er, der Barbarei zu entkommen. Diese Erfahrung hat ihn in einem mehrfachen Sinne des Wortes "gebildet", das bezeugen viele seiner Romane. Dem Versuch der Barbaren, den Menschen ihre Menschlichkeit zu nehmen, setzt er in seinem Werk über diese Schreckenszeit einen Prozess der Menschwerdung entgegen.
Nach dem Krieg kam er nach Palästina und wurde bald darauf zum hebräischen Schriftsteller, aber der Umerziehung zum Israeli, die man hier für ihn bereithielt, verweigerte er sich. Der junge Staat war der Zukunft zugewandt und suchte die Wunden der Vergangenheit lange zu verdrängen, doch diesem Programm konnte Appelfeld sich nicht fügen. Die Erlebnisse seiner Kindheit waren die Quelle seiner Kreativität, und aus ihr schöpfte er unbeirrt von aller zionistischen Ideologie sechs Jahrzehnte lang ein ständig wachsendes Romanwerk.
Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Czernowitz, das damals zwar nicht mehr zu Österreich gehörte, aber immer noch eine Hochburg der deutschen Kultur war. In der Schule lernte Appelfeld Ukrainisch, mit den Großeltern sprach er jiddisch, zu Hause aber sprach man deutsch. Seine Eltern gehörten zur jüdischen Oberschicht der Stadt, die die Werte der Aufklärung verinnerlicht hatten, und in den Romanen, die er später geschrieben hat, ist dieses Erbe deutlich zu spüren.
Wo von der Barbarei erzählt wird, lässt sich das Gedankengut der Aufklärung freilich nicht mehr ungebrochen vermitteln. Deshalb hat Appelfeld eine besondere Sprache entwickelt, die sich wie seine persönliche Handschrift durch alle Romane zieht. Es ist eine untergegangene Welt, die er beschreibt, sie besteht nur noch in seiner von niemandem mehr zu bezeugenden Erinnerung und kann daher auch mit niemandem geteilt werden. Um sie zugänglich zu machen, verwandelt Appelfeld sie in Symbole, die der Leser wiedererkennen und in seine eigene Bildwelt übersetzen kann, weil sie wie alle Symbole der Aufklärung von universaler Bedeutung sind.
Ein Beispiel ist die Reise. Im späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde sie als sogenannte "Bildungsreise" zu einem festen Bestandteil bürgerlicher Erziehung. Auch bei Aharon Appelfeld gehen viele seiner Protagonisten auf eine "Reise", und auf den ersten Blick mag der Vergleich ironisch anmuten, aber in Appelfelds Poetik hat er seine tiefe Begründung.
"Sommernächte", einer seiner letzten Romane, erschien 2015 im hebräischen Original und kommt jetzt anlässlich seines neunzigsten Geburtstags in schöner Übersetzung von Gundula Schiffer auf Deutsch heraus. Michael, ein jüdischer Junge von elf Jahren, zieht mit Sergej, einem alten blinden Mann, durch die ukrainische Landschaft. Meist übernachten sie unter Bäumen oder in Ruinen, die ihnen bei stürmischem Wetter Schutz bieten.
Auf seiner Reise heißt der Junge nicht mehr Michael, sondern Janek. Der alte Sergej ist ein Christ, und Janek gibt sich als dessen Enkel aus, denn niemand soll wissen, dass er ein Jude ist. Bis zu seiner Erblindung hatte Sergej im Holzwarenlager von Michaels Vater gearbeitet, danach brach er zu seinen Wanderungen auf. Später ging das Holzwarenlager bankrott, und Michaels Vater verarmte. Der Krieg brach aus, die Eltern hatten Sergej immer geschätzt und baten ihn, den Jungen mit sich zu nehmen, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die den Juden jetzt drohten.
Ein jüdischer Junge gibt sich als ukrainisches Kind aus: Das autobiographische Element der Erzählung ist unverkennbar, zugleich aber auch die kunstvolle Weise, auf die die Motive des Schreckens mit einer anderen Botschaft enggeführt werden. Das Geschäft des Vaters sei "bankrott" gegangen, lesen wir, doch wie es dazu gekommen ist, erfahren wir nicht. Appelfeld verwendet eine Sprache der Andeutungen, die der Leser vervollständigen muss, und die mythologische Tiefe seiner Bilder weist über die dunkle Zeit hinaus, in der diese "Reise" stattfindet.
Das Kind und der Blinde ergänzen sich. "Janek erzählt Großvater, was seine Augen sehen", heißt es zunächst, aber es ist Sergej, der das Gesehene deutet. "Jeder Tag ist ein Wunder", sagt er zu dem Jungen, "jeder Tag zeigt uns neue Dinge. Bloß dass die Augen, von Unbedeutendem abgelenkt, es nicht sehen."
Sergej spricht von den Wundern des Lebens, denn er ist ein zutiefst gläubiger Christ. In jungen Jahren war er ein berühmter Kommandant in der Armee gewesen, und das jüdische Kollektivgedächtnis verknüpft ukrainische Kosaken mit den Pogromen. Aber Sergej ist kein Antisemit, im Gegenteil: Er ist ein Soldat in den Heerscharen Gottes, immer hält er Janek dazu an, sein Judentum nicht zu vergessen.
Es ist eine Bildungsreise der besonderen Art, von der wir hier lesen. Fragt man sie, wer sie seien, so bezeichnen sich die beiden als Landstreicher, und auch das ist eines der symbolischen Worte des Romans. Oft erweckt es den Argwohn der Dorfbewohner und eine Feindseligkeit, wie ihr der "wandernde Jude" schon seit Jahrtausenden ausgesetzt ist.
Doch der alte Kommandant steht dem Kind zur Seite. Janek erleichtert Sergej seine letzte Lebenszeit, und Sergej bereitet ihn auf die Zukunft vor. Er gibt ihm eine militärische Ausbildung, lehrt ihn, für die Schwachen einzutreten und für das Gute zu kämpfen.
In einem kurzen, ergreifenden Schlussbild verheimlicht Appelfeld uns nicht, wie schwer die Tage sind, die auf den Jungen noch zukommen werden. Aber als Janek, der nun wieder Michael heißen darf, am Ende des Krieges allein in sein Leben hinaustreten muss, ist er vorbereitet. JAKOB HESSING
Aharon Appelfeld: "Sommernächte". Roman.
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 224 S., geb., 22,- Euro.
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