Da ist Justine, die morgens um 5 Uhr aufsteht, um sich den Kopf freizulaufen und um sich zumindest mal ein wenig von ihrem Mann Steve zu entfernen. Da sind Lola und Jack, zwei gelangweilte Kinder, deren depressive Mutter viel zu sehr mit sich und ihrem Unglück beschäftigt ist, um sich um die beiden
zu kümmern. Da ist Alex, ein pubertierender Jugendlicher, dem die Eltern peinlich sind und der sich…mehrDa ist Justine, die morgens um 5 Uhr aufsteht, um sich den Kopf freizulaufen und um sich zumindest mal ein wenig von ihrem Mann Steve zu entfernen. Da sind Lola und Jack, zwei gelangweilte Kinder, deren depressive Mutter viel zu sehr mit sich und ihrem Unglück beschäftigt ist, um sich um die beiden zu kümmern. Da ist Alex, ein pubertierender Jugendlicher, dem die Eltern peinlich sind und der sich trotz des schlechten Wetters lieber mit dem Kajak aufmacht, um ganz allein bei sich zu sein. Und da sind der pensionierte Arzt David und seine Frau Mary, deren Demenz immer offensichtlicher wird. Sie alle eint dieses völlig verkorkste Wetter an einem schottischen See, die Langeweile in ihrer jeweiligen Hütte und der Ärger über die fremde Familie, in deren Haus abends immer und immer wieder laute Musik lärmt. Und sie alle sind die Hauptfiguren in Sarah Moss' neuen Roman "Sommerwasser", der in der deutschen Übersetzung von Nicole Seifert jüngst im Unionsverlag erschienen ist.
Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Denn eigentlich sind alle genannten Personen und der Rest des umfangreichen Ensembles nur Nebenfiguren. Protagonist ist zweifelsohne das Wasser, oder besser gesagt der Regen. Unaufhörlich prasselt er auf den schottischen See und die dazugehörige Natur hernieder. Wer also beim Titel des Romans an einen beschaulichen Sommerurlaubs-Roman denkt, der sei gewarnt. Denn hinter dem Wasservorhang befindet sich der ein oder andere menschliche Abgrund.
EIn großer Vorzug des Romans ist, wie nah sich die Autorin an ihre Charaktere heranwagt. Moss nimmt die Leser:innen mit in die Köpfe der Figuren und zeigt mit großer Präzision die Gedankengänge auf, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Stark beispielsweise, wie intensiv man den Fluchtwunsch der Läuferin Justine fast am eigenen Leib spürt oder wie verworren und gleichzeitig äußerst realistisch einen die Gedankengänge der demenzkranken Mary berühren. Andererseits gibt es das Pärchen Josh und Milly, dessen Hauptanliegen ein gemeinsamer Orgasmus zu sein scheint und das doch eher ein wenig belanglos oder gar überflüssig erscheint.
Sprachlich setzt Sarah Moss immer wieder auch auf poetische Vergleiche, die ihr besonders gut gelingen, wenn sie in kleinen Zwischenstücken die Auswirkungen des Regens auf die Natur und ihre Bewohner beschreibt. In den zwischenmenschlichen Beziehungen wirken die Sprachspiele manchmal ein wenig aufgesetzt und zünden dementsprechend nicht immer. Als störend habe ich vor allem zu Beginn die fehlenden Anführungszeichen in der direkten Rede empfunden, denen außer einem gewissen Manierismus keine Funktion zukommt. Außerordentlich originell ist das übrigens auch nicht, weil man es mittlerweile schon ziemlich häufig gelesen hat.
Während das erste Drittel des Buches im wahrsten Sinne des Wortes auf der Handlungsebene ein wenig dahinplätschert, gewinnt es mit einem plötzlichen Spannungsbogen mit zunehmender Dauer immer mehr hinzu. Konkret geht es um das Mädchen Violetta, welches in der Hütte wohnt, die die anderen Bewohner:innen als störend empfinden. Was als Spiel beginnt, endet für das Kind in einer außerordentlichen Bedrohung. Klug spielt Sarah Moss hier mit politischen und gesellschaftlichen Themen wie der Angst vor dem Fremden, aber auch dem Brexit und konkretem Rassismus. Während die einzelnen Perspektiven zuvor noch recht beliebig wirkten, erhalten sie außerdem mit zunehmender Dauer ihre jeweilige Berechtigung.
Und so nähert sich "Sommerwasser" seinem dramatischen Höhepunkt, einem wahrlich überraschenden und in jeder Hinsicht spektakulären Finale, still und heimlich, aber mit immer größer werdender Intensität.
"Sommerwasser" von Sarah Moss ist ein leiser, atmosphärischer Episodenroman, der zwar nicht über seine gesamten 180 Seiten gleichermaßen überzeugt, die Leserschaft aber dafür ungläubig staunend und berührt mit seinem sehr gelungenen Finale und der zuvor aufgebauten Spannung zurücklässt. Ein Roman, der gerade wegen des vermeintlich schlechten Wetters andererseits zudem große Lust macht: auf den Regen, aber auch auf weitere Werke von Sarah Moss.