Koestlers weltberühmter Roman über den einstigen Volkskommissar Rubaschow, der den politischen Säuberungen innerhalb seiner eigenen revolutionären Partei zum Opfer fällt und in gnadenlosen Verhören zur Strecke gebracht wird, spielt auf die stalinistischen Schauprozesse der 1930er-Jahre an und deckt die Mechanismen totalitärer und diktatorischer Systeme auf.
Der Roman entstand 1939 in Frankreich. Die von Koestlers damaliger Lebensgefährtin angefertigte (und teilweise unzulängliche) Übersetzung erreichte den Londoner Verleger gerade noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris; das deutsche Originalmanuskript aber ging verloren. Koestler selbst übersetzte den eigenen Roman später anhand der englischen Ausgabe zurück ins Deutsche.
2015 sorgte der Kasseler Germanist Matthias Weßel für internationales Aufsehen, als er das verschollene Original in einer Zürcher Bibliothek aufspürte. Die Originalfassung liegt hier erstmals öffentlich vor; ein Vorwort des renommierten Koestler-Biografen Scammell, ein Nachwort von Matthias Weßel und weitere textkritische Materialien ermöglichen einen Vergleich mit der bisher bekannten Fassung. - Gefördert wird das Projekt von der Kunststiftung NRW.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Der Roman entstand 1939 in Frankreich. Die von Koestlers damaliger Lebensgefährtin angefertigte (und teilweise unzulängliche) Übersetzung erreichte den Londoner Verleger gerade noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris; das deutsche Originalmanuskript aber ging verloren. Koestler selbst übersetzte den eigenen Roman später anhand der englischen Ausgabe zurück ins Deutsche.
2015 sorgte der Kasseler Germanist Matthias Weßel für internationales Aufsehen, als er das verschollene Original in einer Zürcher Bibliothek aufspürte. Die Originalfassung liegt hier erstmals öffentlich vor; ein Vorwort des renommierten Koestler-Biografen Scammell, ein Nachwort von Matthias Weßel und weitere textkritische Materialien ermöglichen einen Vergleich mit der bisher bekannten Fassung. - Gefördert wird das Projekt von der Kunststiftung NRW.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2018Die Zellentür knallt ins Schloss
Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ ist nun zum ersten Mal in der Originalfassung erschienen.
Er macht den Moskauer Schauprozessen den Prozess – und schildert die Zerstörung eines Revolutionshelden
VON LOTHAR MÜLLER
Nein, nicht erst die Bücher, schon die Manuskripte haben ihre Schicksale. Manche werden nie gedruckt, manche verschwinden, nachdem aus ihnen Bücher geworden sind, andere werden vergessen und führen ein stilles Eigenleben im Verborgenen, bis sie irgendwann wieder auftauchen und neues Licht auf die Bücher werfen. Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ erschien 1940 in London auf Englisch, unter dem Titel „Darkness at Noon“. Die beklemmend genaue Schilderung der Verhöre, des Schauprozesses und schließlich der Exekution des Revolutionshelden Rubaschow durch die Partei, der er selbst lange gedient hat, nannte an keiner Stelle die Sowjetunion beim Namen. Aber sie war unverkennbar von den Moskauer Prozessen und Säuberungsaktionen zwischen 1936 und 1938 inspiriert.
Zu einem Buch der Epoche wurde „Sonnenfinsternis“ im Kalten Krieg, als Abrechnung eines Ex-Kommunisten mit dem Stalinismus und er kommunistischen Ideologie. Die deutsche Erstausgabe von 1946 hatte Koestler selbst aus dem Englischen rückübersetzt. Das Originalmanuskript hatte er 1940 bei seiner Flucht aus Paris zurückgelassen, es war das letzte gewesen, das er auf Deutsch verfasste. Danach wurde er zum englischsprachigen Autor. Vor drei Jahren hat der Germanist Matthias Weßel in der Zentralbibliothek Zürich das Originaltyposkript von „Sonnenfinsternis“ entdeckt (SZ vom 11. August 2015), im Archiv des Oprecht Verlages. Nun ist diese Originalfassung erschienen. Zu den philologischen Befunden, die Weßel im Nachwort mitteilt, gehört die Einsicht, dass Koestler zumindest ein Teilstück des Originals, wohl als Durchschlag, vorgelegen haben muss, als er „Darkness at Noon“ ins Deutsche zurückübersetzte.
So beruht nur etwa die Hälfte dieser Neuausgabe auf bisher unbekanntem Textmaterial, und die Abweichungen sind nicht so gravierend, dass nun eine substanziell neue Version vorläge. Ihr Hauptverdienst liegt darin, dass sie den Roman aus dem Wahrnehmungshorizont des Kalten Kriegs lost und ihn in die Zeit seiner Entstehung zurückversetzt. Sie rückt vor Augen, was die weithin als Originalfassung wahrgenommene englische Erstausgabe verschattet hat: dass „Sonnenfinsternis“ als Roman der deutschsprachigen Exilliteratur entstand, in eben dem Moment, als die Lage für die Exilanten dramatisch wurde und sich nicht nur die Sowjetunion, sondern zugleich Westeuropa verfinsterte.
Im April 1938 hatte Koestler die Kommunistische Partei, der er seit Januar 1932 angehörte, wegen der Moskauer Prozesse verlassen. Im April 1939, da schrieb er bereits seit ein paar Monaten an dem Roman, siegte in Spanien Franco. Er selbst war im Auftrag der Komintern in Spanien gewesen, hatte als Journalist unter anderem für den britischen News Chronicle vom Bürgerkrieg berichtet, war im Februar 1937 von den Franco-Truppen interniert worden und musste im Gefängnis in Malaga mit seiner Hinrichtung rechnen, ehe er im Mai auf Druck der Engländer frei kam.
Die Zeit, in der Koestler schrieb, war die Zeit der großen Depression der europäischen Linken und des beginnenden Zweiten Weltkriegs. Beides überlagerte sich 1939, als Hitler und Stalin miteinander paktierten und die Exilanten in Paris nach Kriegsausbruch als Angehörige der Feindesnation in Lagern interniert wurden. Als im Frühjahr 1940 Frankreich kapitulierte, ging Koestler unter falschem Namen in die Fremdenlegion. Während seine damalige Lebensgefährtin, die junge Bildhauerin Daphne Hardy, parallel zur Entstehung an der Übersetzung des Romans arbeitete, traf Koestler Anfang August 1940 in Marseille auf Walter Benjamin, der wie er einen Ausweg aus Frankreich suchte.
Benjamin nahm sich wenig später, als er seinen Versuch der Pyrenäenüberquerung gescheitert glaubte, im Grenzort Portbou das Leben. Er hatte zuvor Koestler die Hälfte seines Morphiums gegeben. Als Koestler selbst Anfang November über Casablanca und Lissabon England erreichte, hatte er den missglückten Versuch hinter sich, Benjamin, von dessen Tod er wusste, zu folgen und sich mit seinen Tabletten das Leben zu nehmen.
„Die Zellentür knallte hinter Rubaschow ins Schloss.“ So lautet der erste Satz von „Sonnenfinsternis“ im Originalmanuskript. Er fährt den akustischen Pegel etwas hoch gegenüber der bisherigen deutschen Ausgabe. Und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass dieser Roman sehr viel mehr ist als die Abrechnung seines Autors mit den Theorien, in deren Namen seine ehemaligen Genossen diejenigen vernichteten, die von der Parteilinie abwichen. Er ist zugleich ein Roman der sinnlich-physischen Zerstörung, ohne dass der Held je der physischen Folter ausgesetzt wird. Und nicht zuletzt ist er ein Roman der Selbstzerstörung.
Denn Agenten der Zerstörung sind nicht nur die Genossen, die ihn verhören, sein Generationsgefährte Iwanoff, der wie er zu den Revolutionären des Jahres 1917 gehört, und der jüngere, brutalere Genosse Gletkin. Auch Rubaschow selbst ist ein Agent der Zerstörung, nicht nur, weil er, wie die Angeklagten im realen Moskau, am Ende die ihm vorgeworfenen Untaten gesteht. Sondern zugleich und vor allem, weil er einen inneren Prozess gegen sich selbst führt. In diesem Prozess gibt es, anders als in den Verhören bei Iwanoff und Gletkin, keine Unterstellungen, keine falschen Zeugen, die aussagen, er habe ein Giftattentat auf den obersten Führer der Partei geplant. Es gibt nur, als unbestechliche, aus der Erinnerung aufsteigende Kronzeugen, die Genossen, die er selbst um der höheren Parteiräson willen, verraten, in den Selbstmord getrieben, durch Falschaussagen der Hinrichtung überantwortet hat.
Nie hat Arthur Koestler in einem sowjetischen Gefängnis gesessen. Er stützte sich auf Berichte einer Kindheitsfreundin aus Budapest, Eva Striker, die sechzehn Monate in sowjetischer Einzelhaft verbracht hatte. Dass er seinen Helden durch den „Spion“ seiner Zelle beobachten lässt, wie ein Mithäftling zur Exekution geführt wird, wurde im Kalten Krieg genutzt, um die Glaubwürdigkeit des Romans zu diskreditieren. In sowjetischen Gefängnissen konnten nur die Wärter von außen in die Zellen blicken. Die Neuausgabe macht klar, dass Koestler hier aus der Erinnerung an seine Haft in Spanien schöpfte.
Das Detail zeigt, wie tief der Roman in Koestlers eigenen Erfahrungen verwurzelt ist, so sehr er die Hauptfigur Rubaschow, historischen Akteuren wie Bucharin, Karl Radek und auch Leo Trotzki nachgebildet hat. Der Zwicker, den Rubaschow trägt, ist mehr als eine Trotzki-Chiffrierung, er ist Teil der dichten Schicht der Gesten, Geräusche, Blicke in den Gefängnishimmel, die Arthur Koestler um seinen Helden legt. Diese bedrängende physische Dimension, zu der auch das Klopfalphabet zählt, mit dem sich die Gefangenen verständigen verknüpft die Verhöre, denen Rubaschow ausgesetzt ist, mit dem inneren Prozess, in dem er über sich selbst zu Gericht sitzt. Und sie rückt das nationalsozialistische Deutschland, in dem er inhaftiert und gefoltert wurde, an die Seite der Sowjetunion. Der Verhaftungsalptraum, der ihn von Beginn an begleitet, hat seinen Ursprung in Deutschland.
Der Name Nicolas Salmanowitsch Rubaschow macht durch sein mittleres Glied den Träger als „Sohn Salomons“ zum Juden. Im Nachwort zu einer deutschen Ausgabe des Romans hat Koestler geschrieben, das sei ihm so wenig aufgefallen wie dem Publikum. Aber wie sollte Koestler, dem in Budapest geborenen Sohn eines ungarisch-jüdischen Vaters und einer aus Prag stammenden jüdischen Mutter, so etwas unversehens unterlaufen?
Und nicht von ungefähr teil Rubaschow den Anfangsbuchstaben und die Endung seines Namens mit Raskolnikow, dem Helden in Dostojewski „Verbrechen und Strafe“. Dostojewskis Roman ist die Folie für den inneren Prozess Rubaschows, für sein Fieber und seine Zahnschmerzen, seine Irrgänge durch Traum und Wachen, durch das sophistische Labyrinth der doktrinären Rechtfertigung noch der übelsten Mittel durch den welthistorischen Zweck.
Die höchste Instanz der Dostojewski zugewandten Seite in „Sonnenfinsternis“ ist „die grammatikalische Fiktion“, die Erste Person Singular, das eigene „Ich“, das Rubaschow in dem Maß entdeckt, in dem er zerstört wird. Sie ist der „stumme Partner“, der ihn in den Tod begleitet und nicht immer stumm bleibt: „Auf die Melodie des Liedes ,Komm, süßer Tod’, sprach er mitunter an; auf bestimmte Erinnerungen aus der Knabenzeit. Es gab einige Stimmgabeln um seine Schwingungen auszulösen, und wenn es zu schwingen begann, brachte das einen Zustand hervor, den die Mystiker Ekstase und die Heiligen Versenkung nannten.“
In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ hatte Sigmund Freud das „ozeanische Gefühl“ als Instanz des Seelenlebens anerkannt. Koestler nahm den Begriff auf, um Rubaschows Gefühlsleben kurz vor dem Tod und seine Kindheitserinnerungen zu kennzeichnen. Die Frage aber, „wofür“ er stirbt, bleibt unbeantwortet.
Die Neuausgabe löst das Buch
aus dem Wahrnehmungshorizont
des Kalten Kriegs
Der Revolutionär Rubaschow teilt
Anfangsbuchstaben und Endung
seines Namens mit Raskolnikow
Arthur Koestler als Korrespondent im Spanischen Bürgerkrieg. Im Frühjahr 1937 nahmen ihn Franco-Truppen fest, er kam ins Gefängnis von Sevilla. Ende 1938 begann er an „Sonnenfinsternis“ zu schreiben.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Nach dem deutschen Originalmanuskript. Mit einem Vorwort von Michael Scammell und einem Nachwort von
Matthias Weßel. Elsinor Verlag, Coesfeld 2018.
256 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ ist nun zum ersten Mal in der Originalfassung erschienen.
Er macht den Moskauer Schauprozessen den Prozess – und schildert die Zerstörung eines Revolutionshelden
VON LOTHAR MÜLLER
Nein, nicht erst die Bücher, schon die Manuskripte haben ihre Schicksale. Manche werden nie gedruckt, manche verschwinden, nachdem aus ihnen Bücher geworden sind, andere werden vergessen und führen ein stilles Eigenleben im Verborgenen, bis sie irgendwann wieder auftauchen und neues Licht auf die Bücher werfen. Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ erschien 1940 in London auf Englisch, unter dem Titel „Darkness at Noon“. Die beklemmend genaue Schilderung der Verhöre, des Schauprozesses und schließlich der Exekution des Revolutionshelden Rubaschow durch die Partei, der er selbst lange gedient hat, nannte an keiner Stelle die Sowjetunion beim Namen. Aber sie war unverkennbar von den Moskauer Prozessen und Säuberungsaktionen zwischen 1936 und 1938 inspiriert.
Zu einem Buch der Epoche wurde „Sonnenfinsternis“ im Kalten Krieg, als Abrechnung eines Ex-Kommunisten mit dem Stalinismus und er kommunistischen Ideologie. Die deutsche Erstausgabe von 1946 hatte Koestler selbst aus dem Englischen rückübersetzt. Das Originalmanuskript hatte er 1940 bei seiner Flucht aus Paris zurückgelassen, es war das letzte gewesen, das er auf Deutsch verfasste. Danach wurde er zum englischsprachigen Autor. Vor drei Jahren hat der Germanist Matthias Weßel in der Zentralbibliothek Zürich das Originaltyposkript von „Sonnenfinsternis“ entdeckt (SZ vom 11. August 2015), im Archiv des Oprecht Verlages. Nun ist diese Originalfassung erschienen. Zu den philologischen Befunden, die Weßel im Nachwort mitteilt, gehört die Einsicht, dass Koestler zumindest ein Teilstück des Originals, wohl als Durchschlag, vorgelegen haben muss, als er „Darkness at Noon“ ins Deutsche zurückübersetzte.
So beruht nur etwa die Hälfte dieser Neuausgabe auf bisher unbekanntem Textmaterial, und die Abweichungen sind nicht so gravierend, dass nun eine substanziell neue Version vorläge. Ihr Hauptverdienst liegt darin, dass sie den Roman aus dem Wahrnehmungshorizont des Kalten Kriegs lost und ihn in die Zeit seiner Entstehung zurückversetzt. Sie rückt vor Augen, was die weithin als Originalfassung wahrgenommene englische Erstausgabe verschattet hat: dass „Sonnenfinsternis“ als Roman der deutschsprachigen Exilliteratur entstand, in eben dem Moment, als die Lage für die Exilanten dramatisch wurde und sich nicht nur die Sowjetunion, sondern zugleich Westeuropa verfinsterte.
Im April 1938 hatte Koestler die Kommunistische Partei, der er seit Januar 1932 angehörte, wegen der Moskauer Prozesse verlassen. Im April 1939, da schrieb er bereits seit ein paar Monaten an dem Roman, siegte in Spanien Franco. Er selbst war im Auftrag der Komintern in Spanien gewesen, hatte als Journalist unter anderem für den britischen News Chronicle vom Bürgerkrieg berichtet, war im Februar 1937 von den Franco-Truppen interniert worden und musste im Gefängnis in Malaga mit seiner Hinrichtung rechnen, ehe er im Mai auf Druck der Engländer frei kam.
Die Zeit, in der Koestler schrieb, war die Zeit der großen Depression der europäischen Linken und des beginnenden Zweiten Weltkriegs. Beides überlagerte sich 1939, als Hitler und Stalin miteinander paktierten und die Exilanten in Paris nach Kriegsausbruch als Angehörige der Feindesnation in Lagern interniert wurden. Als im Frühjahr 1940 Frankreich kapitulierte, ging Koestler unter falschem Namen in die Fremdenlegion. Während seine damalige Lebensgefährtin, die junge Bildhauerin Daphne Hardy, parallel zur Entstehung an der Übersetzung des Romans arbeitete, traf Koestler Anfang August 1940 in Marseille auf Walter Benjamin, der wie er einen Ausweg aus Frankreich suchte.
Benjamin nahm sich wenig später, als er seinen Versuch der Pyrenäenüberquerung gescheitert glaubte, im Grenzort Portbou das Leben. Er hatte zuvor Koestler die Hälfte seines Morphiums gegeben. Als Koestler selbst Anfang November über Casablanca und Lissabon England erreichte, hatte er den missglückten Versuch hinter sich, Benjamin, von dessen Tod er wusste, zu folgen und sich mit seinen Tabletten das Leben zu nehmen.
„Die Zellentür knallte hinter Rubaschow ins Schloss.“ So lautet der erste Satz von „Sonnenfinsternis“ im Originalmanuskript. Er fährt den akustischen Pegel etwas hoch gegenüber der bisherigen deutschen Ausgabe. Und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass dieser Roman sehr viel mehr ist als die Abrechnung seines Autors mit den Theorien, in deren Namen seine ehemaligen Genossen diejenigen vernichteten, die von der Parteilinie abwichen. Er ist zugleich ein Roman der sinnlich-physischen Zerstörung, ohne dass der Held je der physischen Folter ausgesetzt wird. Und nicht zuletzt ist er ein Roman der Selbstzerstörung.
Denn Agenten der Zerstörung sind nicht nur die Genossen, die ihn verhören, sein Generationsgefährte Iwanoff, der wie er zu den Revolutionären des Jahres 1917 gehört, und der jüngere, brutalere Genosse Gletkin. Auch Rubaschow selbst ist ein Agent der Zerstörung, nicht nur, weil er, wie die Angeklagten im realen Moskau, am Ende die ihm vorgeworfenen Untaten gesteht. Sondern zugleich und vor allem, weil er einen inneren Prozess gegen sich selbst führt. In diesem Prozess gibt es, anders als in den Verhören bei Iwanoff und Gletkin, keine Unterstellungen, keine falschen Zeugen, die aussagen, er habe ein Giftattentat auf den obersten Führer der Partei geplant. Es gibt nur, als unbestechliche, aus der Erinnerung aufsteigende Kronzeugen, die Genossen, die er selbst um der höheren Parteiräson willen, verraten, in den Selbstmord getrieben, durch Falschaussagen der Hinrichtung überantwortet hat.
Nie hat Arthur Koestler in einem sowjetischen Gefängnis gesessen. Er stützte sich auf Berichte einer Kindheitsfreundin aus Budapest, Eva Striker, die sechzehn Monate in sowjetischer Einzelhaft verbracht hatte. Dass er seinen Helden durch den „Spion“ seiner Zelle beobachten lässt, wie ein Mithäftling zur Exekution geführt wird, wurde im Kalten Krieg genutzt, um die Glaubwürdigkeit des Romans zu diskreditieren. In sowjetischen Gefängnissen konnten nur die Wärter von außen in die Zellen blicken. Die Neuausgabe macht klar, dass Koestler hier aus der Erinnerung an seine Haft in Spanien schöpfte.
Das Detail zeigt, wie tief der Roman in Koestlers eigenen Erfahrungen verwurzelt ist, so sehr er die Hauptfigur Rubaschow, historischen Akteuren wie Bucharin, Karl Radek und auch Leo Trotzki nachgebildet hat. Der Zwicker, den Rubaschow trägt, ist mehr als eine Trotzki-Chiffrierung, er ist Teil der dichten Schicht der Gesten, Geräusche, Blicke in den Gefängnishimmel, die Arthur Koestler um seinen Helden legt. Diese bedrängende physische Dimension, zu der auch das Klopfalphabet zählt, mit dem sich die Gefangenen verständigen verknüpft die Verhöre, denen Rubaschow ausgesetzt ist, mit dem inneren Prozess, in dem er über sich selbst zu Gericht sitzt. Und sie rückt das nationalsozialistische Deutschland, in dem er inhaftiert und gefoltert wurde, an die Seite der Sowjetunion. Der Verhaftungsalptraum, der ihn von Beginn an begleitet, hat seinen Ursprung in Deutschland.
Der Name Nicolas Salmanowitsch Rubaschow macht durch sein mittleres Glied den Träger als „Sohn Salomons“ zum Juden. Im Nachwort zu einer deutschen Ausgabe des Romans hat Koestler geschrieben, das sei ihm so wenig aufgefallen wie dem Publikum. Aber wie sollte Koestler, dem in Budapest geborenen Sohn eines ungarisch-jüdischen Vaters und einer aus Prag stammenden jüdischen Mutter, so etwas unversehens unterlaufen?
Und nicht von ungefähr teil Rubaschow den Anfangsbuchstaben und die Endung seines Namens mit Raskolnikow, dem Helden in Dostojewski „Verbrechen und Strafe“. Dostojewskis Roman ist die Folie für den inneren Prozess Rubaschows, für sein Fieber und seine Zahnschmerzen, seine Irrgänge durch Traum und Wachen, durch das sophistische Labyrinth der doktrinären Rechtfertigung noch der übelsten Mittel durch den welthistorischen Zweck.
Die höchste Instanz der Dostojewski zugewandten Seite in „Sonnenfinsternis“ ist „die grammatikalische Fiktion“, die Erste Person Singular, das eigene „Ich“, das Rubaschow in dem Maß entdeckt, in dem er zerstört wird. Sie ist der „stumme Partner“, der ihn in den Tod begleitet und nicht immer stumm bleibt: „Auf die Melodie des Liedes ,Komm, süßer Tod’, sprach er mitunter an; auf bestimmte Erinnerungen aus der Knabenzeit. Es gab einige Stimmgabeln um seine Schwingungen auszulösen, und wenn es zu schwingen begann, brachte das einen Zustand hervor, den die Mystiker Ekstase und die Heiligen Versenkung nannten.“
In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ hatte Sigmund Freud das „ozeanische Gefühl“ als Instanz des Seelenlebens anerkannt. Koestler nahm den Begriff auf, um Rubaschows Gefühlsleben kurz vor dem Tod und seine Kindheitserinnerungen zu kennzeichnen. Die Frage aber, „wofür“ er stirbt, bleibt unbeantwortet.
Die Neuausgabe löst das Buch
aus dem Wahrnehmungshorizont
des Kalten Kriegs
Der Revolutionär Rubaschow teilt
Anfangsbuchstaben und Endung
seines Namens mit Raskolnikow
Arthur Koestler als Korrespondent im Spanischen Bürgerkrieg. Im Frühjahr 1937 nahmen ihn Franco-Truppen fest, er kam ins Gefängnis von Sevilla. Ende 1938 begann er an „Sonnenfinsternis“ zu schreiben.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Nach dem deutschen Originalmanuskript. Mit einem Vorwort von Michael Scammell und einem Nachwort von
Matthias Weßel. Elsinor Verlag, Coesfeld 2018.
256 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Sein Roman 'Sonnenfinsternis' diente als Kronzeuge gegen den Stalinismus, dann gegen jegliche Gewalt im Dienste eines politischen Ideals.« DEUTSCHLANDFUNK